1. Die Aufsicht über Banken und deren Abwicklung ist allein Aufgabe der nationalen Behörden.
Nein!
Während dies früher der Fall war, hat man sich in der Folge der Finanzkrise dafür entschieden, diese Aufgaben zum Teil der EU zu übertragen. Dafür hat der EU-Gesetzgeber zwei Verordnungen (Art. 288 Abs. 2 AEUV) erlassen: Die erste führte eine zentrale Bankenaufsicht von „systemrelevanten“ Banken in der Eurozone durch die EZB ein (sog. Single Supervisory Mechanism, SSM), die zweite schaffte eine zentrale Abwicklungsbehörde zur Abwicklung insolventer Großbanken mit einem einheitlichen Abwicklungsfond (sog. Single Resolution Mechanism, SRM). Dieser gesamte Mechanismus wird allgemein als Europäische Bankenunion bezeichnet.
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2. Der Erlass von Rechtsnormen durch Organe der EU ist nur möglich, wenn diese durch die EU-Verträge dazu explizit ermächtigt sind.
Genau, so ist das!
Die EU ist darauf angewiesen, dass die Einzelstaaten auf einen Teil ihrer Souveränität verzichten und diesen in die Zuständigkeit der EU übertragen. Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV) darf die Union nur dann und nur soweit gesetzgeberisch tätig werden, wie das Primärrecht – und damit die vertragsschließenden Mitgliedstaaten – ihr eine solche Befugnis explizit zuweist. Jede Rechtsetzung der EU bedarf daher immer einer ausdrücklichen Grundlage in den EU-Verträgen, sonst fehlt die demokratische Legitimation.
3. Unionsrecht und nationales Recht stehen gleichrangig nebeneinander.
Nein, das trifft nicht zu!
Als Grundregel gilt: Das Unionsrecht genießt Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht. Das bedeutet, eine nationale Norm – auch Verfassungsrecht - darf nicht angewendet werden, soweit sie gegen Unionsrecht verstößt. Während der EuGH dieses Prinzip aus der besonderen Rechtsnatur des Unionsrechts ableitet, begründet das BVerfG den Anwendungsvorrang mit dem durch das Zustimmungsgesetz (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG) erteilten Rechtsanwendungsbefehl. Das BVerfG behält sich aber für einige Ausnahmefälle eine eigene Prüfungskompetenz vor: (1) Im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz, (2) Ultra-vires-Kontrolle und (3) Identitätskontrolle.
4. Bei der Ultra-vires-Kontrolle prüft das BVerfG, ob die EU beim Erlass des angefochtenen Rechtsakts außerhalb ihrer Kompetenzen gehandelt hat.
Ja!
Das BVerfG vertritt, dass Kompetenzüberschreitungen (= ultra vires) der EU „undemokratisch“ sind und die betroffenen Rechtsakte deshalb in Deutschland für unanwendbar erklärt werden müssen. Eine solche Ultra-vires-Kontrolle kommt aber nur in Betracht, wenn der Kompetenzverstoß hinreichend qualifiziert ist. Das setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der EU offensichtlich ist und der angegriffene Rechtsakt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führt (RdNr. 140ff.). Eine Ultra-vires-Kontrolle hat aufgrund dieser hohen Anforderungen somit nur in Ausnahmefällen Erfolg.
5. Bei der Identitätskontrolle prüft das BVerfG, ob durch den angegriffenen Hoheitsakt der EU die Normen des GG verletzt wurden.
Nein, das ist nicht der Fall!
Die Identitätskontrolle ermöglicht dem BVerfG (nur) die Prüfung, ob infolge des Handelns europäischer Organe die in Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze der Art. 1 und Art. 20 GG verletzt werden. Das GG ermächtigt die deutschen Staatsorgane insbesondere nicht, Hoheitsrechte derart auf die EU zu übertragen, dass aus ihrer Ausübung heraus weitere Zuständigkeiten für die EU begründet werden können. Zudem müsse die Ausgestaltung von EU-Organen ein Mindestmaß an demokratischer Legitimation und Kontrolle im Sinne des Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG aufweisen (RdNr. 120ff.).
6. EU-Verordnungen können mittelbar Beschwerdegegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG).
Ja, in der Tat!
Tauglicher Beschwerdegegenstand ist jeder Akt deutscher öffentlicher Gewalt (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG). In Betracht kommen somit Zustimmungsgesetze zum Primärrecht, nationale Rechtsakte zur Umsetzung sekundären Unionsrechts sowie Maßnahmen deutscher Verfassungsorgane beim Zustandekommen von Unionsrecht. Maßnahmen von Organen der EU können damit mittelbar Beschwerdegegenstand sein, wenn gerügt wird, dass sie gegen die durch das GG gezogenen Grenzen verstoßen und dass deutsche Verfassungsorgane beim Zustandekommen oder der Umsetzung dieser Rechtsakte nicht dafür Sorge getragen haben, dass diese Grenzen beachtet wurden (Integrationsverantwortung) (RdNr. 101ff.).
7. Die Beschwerdebefugnis (§ 90 Abs. 1 BVerfGG) des einzelnen Bürgers bei der Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle ergibt sich aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2, Art. 79 Abs. 3 GG.
Ja!
Beschwerdebefugt ist, wer hinreichend substantiiert darlegt, dass er durch die öffentliche Gewalt selbst, unmittelbar und gegenwärtig in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist. BVerfG: Jeder Bürger habe einen „Anspruch auf Demokratie“, der auch das Recht umfasse, dass Organe der EU nur die Zuständigkeiten ausüben, die ihnen nach Maßgabe des GG übertragen worden sind (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2, Art. 79 Abs. 3 GG). Dieses Recht schütze vor der Aushöhlung der deutschen Verfassungsidentität sowie vor offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch die EU (RdNr. 92).
8. Der ermächtigende Kompetenztitel für die Übertragung der Bankenaufsicht auf die EZB (sog. SSM) ist Art. 127 Abs. 6 AEUV.
Genau, so ist das!
Art. 127 Abs. 6 AEUV ermächtigt dazu, der EZB „besondere Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute“ zu übertragen. Eine vollständige Übertragung der gesamten Bankenaufsicht sei nach Ansicht des BVerfG insbesondere aufgrund des Wortlauts „besondere“ ausgeschlossen (RdNr. 160ff.).
9. Die EU handelte beim Erlass der SSM-Verordnung ultra vires, da sie die Grenzen der Ermächtigung (Art. 127 Abs. 6 AEUV) in offensichtlicher Weise überschritten hat.
Nein, das trifft nicht zu!
BVerfG: Eine offensichtliche Kompetenzüberschreitung liege nicht vor: Der EZB werde die Bankenaufsicht nicht vollständig übertragen, sondern nur für „systemrelevante Kreditinstitute“. Für den verbleibenden, deutlich gewichtigeren Teil der Aufsicht bleiben die nationalen Behörden zuständig, und zwar aufgrund originärer mitgliedstaatlicher Zuständigkeit und nicht etwa infolge einer Rückdelegation von Zuständigkeiten durch die EZB (RdNr. 183ff.). Die EZB könne den nationalen Behörden zwar im Einzelfall bestimmte Vorgaben machen und habe auch ein Selbsteintrittsrecht, sie dürfe die Bankenaufsicht jedoch nie vollständig an sich ziehen (RdNr. 177ff.).
10. Die SSM-Verordnung berührt die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Verfassungsidentität, da die EZB gänzlich unabhängig handelt und daher nicht demokratisch legitimiert ist.
Nein!
Die EZB darf von keinen anderen Institutionen der EU oder der Mitgliedstaaten Weisungen einholen oder entgegennehmen (Art. 130, Art. 282 AEUV). Auch das BVerfG erkennt das Spannungsverhältnis zwischen der Unabhängigkeit der EZB und dem Grundsatz der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG), hält dies jedoch im Ergebnis für hinnehmbar, da die Absenkung der demokratischen Legitimation durch besondere Vorkehrungen kompensiert werde: Es bestehen Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Aufsichtsmaßnahmen und die EZB treffen Rechenschafts- und Berichtspflichten gegenüber Organen der EU und den nationalen Parlamenten (RdNr. 212ff.).
11. Die Verfassungsidentität ist aber dadurch beeinträchtigt, dass auch alle nationalen Bankaufsichtsbehörden unabhängig handeln und somit die Bankenaufsicht demokratischer Kontrolle komplett entzogen ist.
Nein, das ist nicht der Fall!
Die nationale Bankenaufsicht ist Aufgabe der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und der Bundesbank (§§ 6, 7 KWG). Diese handeln unabhängig und berühren mithin den Grundsatz der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). Die Unabhängigkeit nationaler Behörden ist aber gerechtfertigt, denn sie dient der Effektivität und schützt vor externer Einflussnahme. BVerfG: Es bestehe auch eine hinreichende Legitimation, da die leitenden Mitglieder von der Bundesregierung ernannt bzw. vorgeschlagen werden und durch Informationsrechte abgesichert sei, dass der Bundestag die Verantwortung für deren Tätigkeit tragen kann (RdNr. 225ff.).
12. Die Schaffung eines EU-weiten Abwicklungsmechanismus für gescheiterte Banken (sog. SRM) kann kompetenzrechtlich auf die Vorschrift zum EU-Binnenmarkt gestützt werden (Art. 114 Abs. 1 AEUV).
Ja, in der Tat!
Die Errichtung von Agenturen/Stellen der EU sowie die Übertragung von Zuständigkeiten auf diese Stellen ist im Primärrecht nicht ausdrücklich geregelt. Nach Ansicht des EuGH kann jedoch Art. 114 Abs. 1 AEUV für die Schaffung von Einrichtungen der EU herangezogen werden, wenn der entsprechende EU-Rechtsakt Maßnahmen zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten umfasst und die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes zum Gegenstand hat. Dieser Rechtsprechung ist das BVerfG gefolgt, hat aber dennoch „nicht unerhebliche Bedenken“ im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung geäußert (RdNr. 240ff.).
13. Die Schaffung einer einheitlichen Abwicklungsbehörde im Rahmen des SRM auf der Grundlage von Art. 114 Abs. 1 AEUV stellt eine offensichtliche Kompetenzüberschreitung dar.
Nein!
BVerfG: Es liege keine offensichtliche Kompetenzüberschreitung vor, sofern sich die Vollzugskompetenzen auf eng begrenzte Ausnahmen beschränken (RdNr. 246). Die SRM-Verordnung diene der Harmonisierung des Binnenmarktes, da vor allem ein Übergreifen von Finanzkrisen auf nicht betroffene Mitgliedstaaten verhindert werde (RdNr. 251). Soweit die Aufgaben und Befugnisse der Abwicklungsbehörde nicht erweiternd auslegt werden, handele es sich bei der SRM-Verordnung nicht um einen Ultra-vires-Akt (RdNr. 265).
14. Die Übertragung von Aufgaben und Befugnissen der Bankenabwicklung auf eine unabhängige Behörde berührt die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Verfassungsidentität.
Nein, das ist nicht der Fall!
Auch hier erkennt das BVerfG den Konflikt mit dem Grundsatz der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG) und führt aus, dass ein Mindestmaß an politischer Verantwortbarkeit gegeben sein müsse (RdNr. 267). Das Verfahren zur Ernennung der Mitglieder der Behörde, seine Rechenschaftspflichten insbesondere gegenüber dem EU-Parlament sowie die umfassende verwaltungsinterne und gerichtliche Kontrolle stellen jedoch nach Ansicht des BVerfG eine hinreichende demokratische Steuerbarkeit sicher (RdNr. 268ff.).
15. Ein nationales letztinstanzliches Gericht hat bei Fragen über die Auslegung von Unionsrecht stets die Pflicht, die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen (Art. 267 Abs. 3 AEUV).
Nein, das trifft nicht zu!
Nach der Rechtsprechung des EuGH gilt diese Vorlagepflicht ausnahmsweise nicht, wenn (1) das nationale Gericht feststellt, dass die Frage nicht entscheidungserheblich ist, (2) die betreffende unionsrechtliche Vorschrift bereits Gegenstand einer Auslegung durch den EuGH war (=„acte éclairé“) oder (3) die richtige Anwendung des Unionsrechts offenkundig ist (=„acte clair“).BVerfG: Die richtige Auslegung der einschlägigen Vorschriften (Art. 127 Abs. 6 AEUV, Art. 114 Abs. 1 AEUV) sei offenkundig, da sie von der Rechtsprechung in einer Weise geklärt sei, die keine vernünftigen Zweifel offenlässt und damit einen sog. „acte éclairé“ darstellt (RdNr. 314ff.).