+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

M hält das EU-Staatsanleihenkaufprogramm „PSPP“ für kompetenzwidrig und erhebt Verfassungsbeschwerde. Er rügt, Bundestag und Bundesregierung hätten es unterlassen, dagegen einzuschreiten. Das BVerfG legte diese Frage dem EuGH 2017 vor, der EuGH äußerte aber keine Bedenken.

Einordnung des Falls

Staatsanleihenkaufprogramm PSPP der EZB

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 13 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Das sog. Public Sector Asset Purchase Programme (PSPP) ist ein europäisches Staatsanleihenkaufprogramm zur Gewährleistung von Preisstabilität.

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Ja, in der Tat!

Das Europäische System der Zentralbanken (ESZB), zur der die EZB und die nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten gehören, soll die Preisstabilität im europäischen Binnenmarkt gewährleisten (Art. 127 Abs. 1 S. 1 AEUV). Dazu gehört insbesondere, ein stabiles Inflationsniveau anzustreben und übermäßige Inflation oder Deflation zu verhindern. Zu diesem Zweck entwickelte das ESZB das PSPP. Dabei erwerben die ESZB-Mitglieder Staatsanleihen, um zu erreichen, dass Unternehmen und private Haushalte Finanzmittel günstiger aufnehmen können. Dies befördert wiederum Investitionen und Konsum, sodass sich die Inflation dem gewünschten Niveau von 2% annähern kann.

2. Maßnahmen von Organen der EU können mittelbar Beschwerdegegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG).

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Ja!

Tauglicher Beschwerdegegenstand ist jeder Akt deutscher öffentlicher Gewalt (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG), also z.B. Zustimmungsgesetze zum Primärrecht oder nationale Rechtsakte zur Umsetzung sekundären Unionsrechts. Maßnahmen von Organen der EU können laut BVerfG allerdings mittelbar bzw. „als Vorfrage“ Beschwerdegegenstand sein, wenn gerügt wird, dass sie gegen die durch das GG gezogenen Grenzen verstoßen und dass deutsche Verfassungsorgane beim Zustandekommen oder der Umsetzung dieser Rechtsakte nicht dafür Sorge getragen haben, dass diese Grenzen beachtet wurden (sog. Integrationsverantwortung) (RdNr. 89).

3. Das PSPP ist tauglicher Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde des M (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG).

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Genau, so ist das!

Richtig! M rügt die Verletzung der Integrationsverantwortung, da Bundestag und Bundesregierung es unterlassen haben, gegen das PSPP einzuschreiten. Eine solche Verletzung der Integrationsverantwortung hängt jedoch von der Vorfrage ab, ob das PSPP die durch das GG gezogenen Grenzen wahrt. Hier stellt sich im Wesentlichen die Frage, ob es sich beim PSPP um eine Kompetenzüberschreitung und damit um einen ultra-vires-Rechtsakt handelt.

4. Die Beschwerdebefugnis (§ 90 Abs. 1 BVerfGG) des einzelnen Bürgers bei der ultra-vires-Kontrolle ergibt sich aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG.

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Ja, in der Tat!

Beschwerdebefugt ist, wer hinreichend substantiiert darlegt, dass er durch die öffentliche Gewalt selbst, unmittelbar und gegenwärtig in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist. BVerfG: Besteht bereits die Möglichkeit des Vorliegens eines ultra-vires-Rechtsakts, kann der Bürger mit der Verfassungsbeschwerde einfordern, dass die deutsche öffentliche Gewalt darauf hinwirkt, dass die Organe der EU nur diejenigen Zuständigkeiten ausüben, die ihnen nach Maßgabe des GG übertragen worden sind. Ein solcher Interventionsanspruch des M ergebe sich aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG (RdNr. 90).

5. Das Unionsrecht hat Anwendungsvorrang vor nationalem Recht und wird vom BVerfG daher nur in Ausnahmefällen geprüft.

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Ja!

Als Grundregel gilt: Das Unionsrecht genießt Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht. Das bedeutet, eine nationale Norm – auch Verfassungsrecht - darf nicht angewendet werden, soweit sie gegen Unionsrecht verstößt. Während der EuGH dieses Prinzip aus der besonderen Rechtsnatur des Unionsrechts ableitet, begründet das BVerfG den Anwendungsvorrang mit dem durch das Zustimmungsgesetz (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG) erteilten Rechtsanwendungsbefehl. Das BVerfG behält sich aber für einige Ausnahmefälle eine eigene Prüfungskompetenz vor: (1) Im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz, (2) Ultra-vires-Kontrolle und (3) Identitätskontrolle.

6. Bei der ultra-vires-Kontrolle prüft das BVerfG, ob durch Maßnahmen europäischer Organe der in Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Kernbereich des GG verletzt wird.

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Nein, das ist nicht der Fall!

Bei der ultra-vires-Kontrolle prüft das BVerfG, ob die EU beim Erlass des angefochtenen Rechtsakts außerhalb ihrer Kompetenzen gehandelt hat. Aber nicht jede Kompetenzüberschreitung wird vom BVerfG beanstandet. Die ultra-vires-Kontrolle müsse laut BVerfG europarechtsfreundlich ausgeübt werden und komme nur in Betracht, wenn der Kompetenzverstoß hinreichend qualifiziert ist. Dies setze voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln „offensichtlich ist und innerhalb des Kompetenzgefüges zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen führt“ (RdNr. 110).

7. Die Organe der EU dürfen nur Maßnahmen ergreifen, die von der Übertragung mitgliedstaatlicher Hoheitsrechte auf die EU nach den EU-Verträgen explizit gedeckt sind.

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Ja, in der Tat!

Die EU ist darauf angewiesen, dass die Einzelstaaten auf einen Teil ihrer Souveränität verzichten und diesen in die Zuständigkeit der EU übertragen. Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV) darf die EU nur dann und nur soweit tätig werden, wie das Primärrecht – und damit die vertragsschließenden Mitgliedstaaten – ihr eine solche Befugnis explizit zuweist. Jede Maßnahme eines EU-Organs bedarf daher immer einer ausdrücklichen Grundlage in den EU-Verträgen, sonst fehlt die demokratische Legitimation.

8. Die Währungspolitik fällt in die Kompetenz der EU (Art. 3 Abs. 1c AEUV), während die Wirtschaftspolitik Sache der Mitgliedstaaten ist.

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Ja!

Richtig! Die Währungspolitik fällt in die Verbandskompetenz der EU (Art. 3 Abs. 1c AEUV). Vorrangiges Ziel der Währungspolitik ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten (Art. 127 Abs. 1 S. 1 AEUV). Über die Wirtschaftspolitik treffen die EU-Verträge keine Regelung zugunsten der EU, sodass diese – nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung – grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten ist (Art. 5 Abs. 2 S. 2 EUV). Das PSPP kann daher nur kompetenzgemäß sein, wenn es sich der Währungspolitik zuordnen lässt und im Übrigen auch verhältnismäßig ist (Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 EUV). Nach Ansicht des EuGH ist dies der Fall.

9. Auch eine Vorabentscheidung des EuGH kann einen ultra-vires-Akt darstellen.

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Genau, so ist das!

Während die Bindungswirkung von Vorabentscheidungen des EuGH nicht einheitlich beurteilt wird, stellt das BVerfG klar, dass auch Entscheidungen des EuGH selbst ultra-vires-Akte sein können. Das BVerfG betont, die Auslegung des Unionsrechts sei zuvörderst Aufgabe des EuGH (Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV); das BVerfG dürfe seine Auslegung grundsätzlich nicht an die Stelle derjenigen des EuGH setzen. Soweit eine Entscheidung des EuGH allerdings „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ ist - dies ist der Kontrollmaßstab des BVerfG - und die Auslegung der Verträge deswegen objektiv willkürlich erscheine, liege darin eine Kompetenzüberschreitung (RdNr. 112, 118).

10. Das PSPP ist nach Auffassung des BVerfG der Währungspolitik zuzuordnen, da es der Gewährleistung der Preisstabilität dient (Art. 3 Abs. 1c, Art. 127 Abs. 1 S. 1 AEUV).

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Nein, das trifft nicht zu!

Der EuGH hält das PSPP für Währungspolitik, da zur Gewährleistung der Preisstabilität ein weiter Beurteilungsspielraum bestehe. Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik stünden einer Zuordnung des Programms zur Währungspolitik nicht entgegen. A.A. das BVerfG: Der EuGH habe im PSPP „die Unterscheidung zwischen Wirtschafts- und Währungspolitik weitgehend aufgegeben“ und dem ESZB gestattet, Wirtschaftspolitik mit dem Ankauf von Staatsanleihen zu betreiben. Dies finde im Primärrecht keine Grundlage. Das PSPP greife in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Wirtschafts- und Fiskalpolitik ein und sei damit ein ultra-vires-Akt (RdNr. 162f.).

11. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 EU) müssen die währungs- und wirtschaftspolitischen Belange umfassend benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen werden.

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Ja!

BVerfG: Eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung sei erforderlich, um die Auswirkungen währungspolitisch intendierter Maßnahmen auf die Wirtschaftspolitik zu bewerten. Diese sei der Entscheidung des EuGH nicht zu entnehmen. Insbesondere habe er die wirtschaftspolitischen Auswirkungen des PSPP (z.B. auf Staatsverschuldung, Altersvorsorge, Immobilienpreise) nicht mit dem angestrebten währungspolitischen Ziel (Preisstabilität) abgewogen (RdNr. 139ff.). Diese Vorgehensweise des EuGH bei der Auslegung der EU-Verträge sei „methodisch nicht nachvollziehbar“ und daher wegen Außerachtlassung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kompetenzwidrig (RdNr. 153).

12. Das PSPP ist nach Ansicht des BVerfG nicht von der währungspolitischen Kompetenz der EU (Art. 3 Abs. 1c, Art. 127 Abs. 1 S. 1 AEUV) gedeckt und daher als ultra-vires-Akt zu qualifizieren.

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Genau, so ist das!

Richtig – dies ergebe sich einerseits aus der fehlenden Unterscheidung des EuGH zwischen Wirtschafts- und Währungspolitik (RdNr. 162f.), andererseits aus dem Abwägungs- und Darlegungsausfall im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (RdNr. 177). Da diese Verstöße zudem offensichtlich und strukturell bedeutsam seien, handele es sich hier nach Ansicht des BVerfG um einen ultra-vires-Akt.

13. Die Verfassungsbeschwerde des M hat Erfolg.

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Ja, in der Tat!

Dem M steht ein „Interventionsanspruch“ aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG zu. Das BVerfG verpflichtet Bundesregierung und Bundestag, auf eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung hinzuwirken (RdNr. 232f.). Außerdem sind ultra-vires-Akte in Deutschland unanwendbar, sodass es der Bundesbank vorerst untersagt ist, weitere Wertpapiere im Rahmen des PSPP zu erwerben (RdNr. 234f.). Das BVerfG stellt aber klar, dass eine verfassungskonforme Ausgestaltung des PSPP möglich sei, wenn hinreichend dargelegt wird, dass die währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den wirtschaftspolitischen Auswirkungen stehen. Die Entscheidung ist äußerst umstritten und wird überwiegend abgelehnt.

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