Lederriemen-Fall (BGHSt 7, 363): examensrelevante Rechtsprechung | Jurafuchs


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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration zum (Lederriemen-Fall, BGHSt 7, 363): Ein Räuber nimmt seinen Lederriemen, legt ihn um den Hals seines Opfers und zieht ihn zu.
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Klassisches Klausurproblem

A und B wollen O berauben. Um O kampfunfähig zu machen, nimmt A seinen Gürtel, legt ihn um Os Hals und zieht ihn zu. A hält hierbei für möglich, dass O durch die Drosselung sterben könnte. Ihm ist Os Tod aber höchst unerwünscht. O stirbt.

Einordnung des Falls

Im Mittelpunkt der Lederriemen-Entscheidung steht die Abgrenzung zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz. Der BGH griff hier einerseits die Rechtsprechung des Reichsgerichts auf, dass es für den Vorsatz neben einem Wissenselement auch noch eines voluntativen Elements in Form der „Billigung“ des Täters bedarf. Gleichzeitig legt er in dieser Entscheidung den Grundstein für seine Rechtsprechung, dass bereits ein „Billigen im Rechtssinne“ genüge. Entgegen dem allgemeinen Wortsinn sei ein „Billigen im Rechtssinne“ - und damit bedingter Vorsatz - bereits anzunehmen, wenn der Täter sich mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet. Dies gelte selbst dann, wenn ihm der Erfolgseintritt an sich unerwünscht ist. An dieser zentralen Abgrenzungsformel hält der BGH bis heute fest, weswegen sie zum Handwerkszeug eines jeden Examenskandidaten gehören muss.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hatte A direkten Vorsatz (dolus directus 2. Grades) bzgl. des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB) an O?

Nein!

Direkter Vorsatz liegt vor, wenn der Täter weiß oder als sicher voraussieht, dass sein Handeln zur Tatbestandsverwirklichung führt (sichere Kenntnis). Es dominiert das kognitive Element.A hatte kein sicheres Wissen, dass O sterben würde.A könnte jedoch bedingten Vorsatz (dolus eventualis) gehabt haben. Welche Anforderungen daran zu stellen sind, ist umstritten.

2. Hatte A nach der "Möglichkeitstheorie" bedingten Vorsatz bzgl. des Totschlags (§ 212 StGB) an O?

Genau, so ist das!

Nach der Möglichkeitstheorie liegt bedingter Vorsatz bereits vor, wenn der Täter die konkrete Möglichkeit des Erfolgseintritts erkennt und dennoch handelt (kognitives Element). Auf das voluntative Vorsatzelement kommt es hiernach gar nicht an.A hat erkannt, dass O infolge der Drosselung sterben könnte und hielt dies auch für möglich.Gegen die teilweise in der Literatur vertretene Möglichkeitstheorie spricht, dass der Verzicht auf das voluntative Element tendenziell zu einer Ausdehnung des Vorsatzes im Bereich der bewussten Fahrlässigkeit führt. Die Abgrenzung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit wird so erschwert.

3. Hatte A nach der von der Rspr. vertretenen Billigungstheorie bedingten Vorsatz bzgl. des Totschlags (§ 212 StGB) an O?

Ja, in der Tat!

Nach der von der Rspr vertretenen Billigungstheorie handelt der Täter mit bedingtem Vorsatz, wenn der Täter den Erfolgseintritt als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt (kognitives Element) und ihn billigend in Kauf nimmt oder sich um des erstrebten Zieles Willen mit ihm abfindet, mag ihm auch der Erfolg an sich unerwünscht sein (voluntatives Element).A hat die Möglichkeit, dass O infolge der Drosselung stirbt, ernsthaft erkannt. Er hat sie auch akzeptiert und sich demnach damit abgefunden, auch wenn sie ihm unerwünscht ist (sog. billigen im Rechtssinne).Die Rspr. grenzt damit wie die hL den Vorsatz von der bewussten Fahrlässigkeit anhand des voluntativen Elements ab (bewusste Fahrlässigkeit: mit als möglich erkanntem Erfolg nicht einverstanden; bedingter Vorsatz: als möglich erkannten Erfolg billigend in Kauf genommen).

4. Hatte A Absicht (dolus directus 1. Grades) bzgl. des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB) an O?

Nein!

Der Täter hat Vorsatz, wenn er mit dem Willen zur Verwirklichung des Tatbestands (voluntatives Element) in Kenntnis aller objektiven Tatumstände (kognitives Element) handelt. Er handelt mit Absicht, wenn es ihm gerade darauf ankommt, den Erfolg herbeizuführen (zielgerichteter Erfolgswille). Es dominiert das voluntative Element.A kam es nicht darauf an, O zu töten. Ihm war Os Tod vielmehr unerwünscht.

5. Hatte A nach der "Ernstnahmetheorie" bedingten Vorsatz bzgl. des Totschlags (§ 212 StGB) an O?

Genau, so ist das!

Nach der von der herrschenden Lehre (hL) vertretenen Ernstnahmetheorie handelt der Täter mit bedingtem Vorsatz, wenn er den Erfolg ernsthaft für möglich hält (kognitives Element) und sich mit ihm abfindet (voluntatives Element). Der Täter findet sich auch mit einem an sich unerwünschten Erfolg ab, wenn dieser um eines erstrebten Zieles willen notwendig ist.A hat die Möglichkeit, dass O infolge der Drosselung stirbt, ernsthaft erkannt. Er hat sich um der Beute willen auch damit abgefunden.Das kognitive Element entspricht dem bei der bewussten Fahrlässigkeit. Die Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit erfolgt anhand des voluntativen Elements. Das Willenselement wird in der Praxis in der Regel anhand von Indizien nachgewiesen.

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S3T

S3tr

9.7.2020, 14:57:04

Frage: Müsste nicht bei Totschlag zusätzlich eine Tötungsabsicht geprüft werden also: Subjektiver Tb 1. Vorsatz bzgl. Obj. Vss. 2. Tötungsabsicht ? Oder ist das falsch ?

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

9.7.2020, 15:05:22

Hallo S3tr, danke für deine Frage. Der Totschlag nach § 212 StGB erfordert nur einfachen (also auch bedingten) Vorsatz bzgl. der Tötung eines anderen Menschen. Tötungsabsicht ist nicht erforderlich.

Marilena

Marilena

9.7.2020, 16:02:32

S3tr, auch nochmal hier: Du brauchst im subjektiven Tatbestand den Vorsatz (Wissen und Wollen) bezüglich des objektiven Tatbestandes (bei Dir 1.). Du brauchst aber keine besondere Tötungsabsicht (wie zB Diebstahl im subjektiven Tatbestand eine Zueignungsabsicht erfordert).

Jura Craic

Jura Craic

6.12.2021, 09:25:27

Ist der Totschlag hier nicht Zwischenziel für den Raub? Sollte dann nicht die Vorsatzart für den Raub "durchschlagen" auf das Tötungsdelikt?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

6.12.2021, 09:48:25

Hallo Jura Craic, dies könnte man für den Fall überlegen, dass die Tötung hier notwendig gewesen wäre, um den Raub zu realisieren. Auch dann würde ich aber nicht von "durchschlagen" sprechen, sondern für beide Taten gesondert den Vorsatz ermitteln. Es droht sonst die Gefahr, dass man unsauber arbeitet und Unterschiede verwischt. Tatbestandlich ist es jedoch auch möglich, den Raub "nur" durch Gewalt bzw. sogar durch Androhung von Gewalt zu verwirklichen. Auch nach dem Sachverhalt sahen die Täter den Tod des O nicht als notwendiges Zwischenziel an, sondern ihnen genügte es, ihn kampfunfähig zu machen. Ein "Durchschlagen" ist insoweit in dieser Konstellation eher fernliegend. Vielmehr muss man die Vorsatzart hinsichtlich des Raubes und bzgl. des Totschlages differenzieren. Im Ergebnis ist dies allerdings unerheblich, denn für die

Tatbestandsverwirklichung

genügt dolus eventualis. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

SS

Strand Spaziergang

11.4.2023, 19:01:49

In der letzten Erklärung steht, bewusste Fahrlässigkeit sei, wenn der Täter den Taterfolg nicht wolle. Aber hier wollte der Täter nicht, dass O stirbt, und es wird trotzdem als bedingter Vorsatz gewertet, weil er bereit war, den Tod für den Raub zu riskieren. Was müsste am Sachverhalt anders sein, damit es bewusste Fahrlässigkeit ist?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

12.4.2023, 14:41:41

Hallo Strand Spaziergang, der BGH hat die hier besprochene Lederriemen-Entscheidung dazu genutzt, zu präzisieren, was "billigen der Tat" konkret heißen soll. Entgegen der Umgangssprache kann nach der Rspr. des BGH Vorsatz auch dann angenommen werden, wenn der Täter den Eintritt des Erfolgs an sich nicht will oder ihm dieser sogar -wie hier- gänzlich unerwünscht ist. Sofern der Täter (1) die Möglichkeit des Erfolgseintritts erkennt (kognitives Element) und (2) sich mit dem Erfolgseintritt abfindet (voluntatives Element), handelt er bedingt vorsätzlich. Um das voluntative Element zu erfüllen, muss er den Erfolgseintritt also gerade nicht gutheißen. Erst recht muss es ihm nicht zielgerichtet darauf ankommen, denn dann läge bereits Absicht vor (=dolus directus 1. Grades). Ist es jetzt klarer geworden? Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

IT

Itsajourney

9.2.2024, 16:23:54

Liege ich da richtig,dass der Einzige Unterschied zwischen der

Ernstnahmetheorie

-und der Billigungstheorie in der Ausprägung des kognitiven Elements liegt? Nach der

Ernstnahmetheorie

muss der Töter den Erfolgseintritt ernsthaft für möglich halten, nach der Billigungstheorie muss er möglich und nicht ganz fernliegend sein?

LELEE

Leo Lee

10.2.2024, 12:51:27

Hallo Itsajourney, vielen Dank für die sehr gute Frage! Du hast völlig Recht: Nach der

Ernstnahmetheorie

muss der Täter die Gefahr erkannt und ernst genommen und sich anschließend mit der

Tatbestandsverwirklichung

abgefunden haben, während bei der Billigungstheorie der Täter die für möglich gehaltene

Tatbestandsverwirklichung

„billigend in Kauf nimmt“. Somit liegen diese beiden Ansichten sehr nah beieinander, weshalb es in der Klausur reicht, wenn du die Formel kombinierst und etwa hinschreibst: “Da der Täter den Erfolgseintritt für möglich hielt und sich hiermit abfand/diesen billigend in Kauf nahm, handelte er mit bedingtem Vorsatz.“ o.Ä.. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre von Beck-OK StGB, Eschelbach § 212 Rn. 22 sehr empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

IT

Itsajourney

13.2.2024, 22:21:10

Vielen Dank für die Aufklärung :)


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