Entbehrlichkeit des Vorverfahrens: VA enthält erstmals eine Beschwer (§ 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 VwGO)


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Klassisches Klausurproblem

Bauherrin A erhält eine Baugenehmigung. Nachbar B erhebt dagegen Widerspruch bei der Baugenehmigungsbehörde. Diese hilft dem Widerspruch nicht ab. Die Widerspruchsbehörde hingegen hilft dem Widerspruch des B ab und hebt die Baugenehmigung auf. A klagt dagegen.

Einordnung des Falls

Entbehrlichkeit des Vorverfahrens: VA enthält erstmals eine Beschwer (§ 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 VwGO)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A begehrt die Aufhebung des Widerspruchsbescheids. Die Anfechtungsklage ist statthaft.

Ja, in der Tat!

Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Klagebegehren (§§ 88, 86 Abs. 3 VwGO). A begehrt, die Aufhebung ihrer Baugenehmigung rückgängig zu machen. Dies kann A erreichen, indem sie gerichtlich die Aufhebung des Widerspruchsbescheids erreicht. Der Widerspruchsbescheid ist ein Verwaltungsakt (§ 35 S. 1 VwVfG). Gegenstand der Anfechtungsklage ist somit der Widerspruchsbescheid (§ 79 Abs. 1 Nr. 2 VwGO). As Klage ist mithin gerichtet auf die Aufhebung eines Verwaltungsakts. Die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) ist statthaft.

2. A kann geltend machen, durch den Widerspruchsbescheid in einem ihrer subjektiv-öffentlichen Rechte verletzt zu sein. Sie ist klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO).

Ja!

Die Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) beurteilt sich danach, ob der Kläger durch den angegriffenen Verwaltungsakt möglicherweise in einem subjektiv-öffentlichen Recht verletzt ist (sog. Möglichkeitstheorie). Eine Verletzung der Rechte der A erscheint nicht ausgeschlossen. Insbesondere ist es möglich, dass sie einen Anspruch auf Erteilung der Baugenehmigung hat (z.B. § 71 Abs. 1 BauO Berlin), der durch den Widerspruchsbescheid vereitelt wird.

3. Grundsätzlich muss vor Erhebung der Anfechtungsklage ein Vorverfahren erfolglos durchgeführt worden sein (§ 68 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Genau, so ist das!

Vor Erhebung der Anfechtungsklage muss ein Vorverfahren erfolglos durchgeführt werden (§ 68 Abs. 1 S. 1 VwGO), soweit nicht eine Ausnahme vorliegt (§ 68 Abs. 1 S. 2 VwGO). Das Vorverfahren (Widerspruchsverfahren) ist Zulässigkeitsvoraussetzung. Es beginnt mit Erhebung des Widerspruchs (§ 69 VwGO).

4. Die Anfechtungsklage der A gegen den Widerspruchsbescheid ist zulässig, ohne dass A den Widerrufsbescheid in einem Vorverfahren noch einmal überprüfen lassen muss.

Ja, in der Tat!

Es bedarf keines Vorverfahrens, wenn der Widerspruch erstmalig eine Beschwer enthält (§ 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 VwGO). Der Widerspruchsbescheid enthält erstmalig eine Beschwer, wenn er einen rechtlichen Nachteil enthält, den der Ausgangsbescheid nicht enthielt. Die ursprüngliche Baugenehmigung war für A begünstigend und für B belastend. Durch die Aufhebung der Baugenehmigung enthält der Widerspruchsbescheid für A eine Belastung, die im Ausgangsbescheid gerade nicht enthalten war. Sie ist erstmals durch den Widerspruchsbescheid beschwert. Ein Vorverfahren ist nicht erforderlich (§ 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 VwGO). Die Anfechtungsklage ist zulässig.

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SO

Sony

15.3.2020, 14:30:45

Ich verstehe hier den Unterschied zu dem Fall davor nicht. Wieso enthält der Widerspruchsbescheid im Fall davor nicht auch erstmalig eine Beschwer?

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

28.8.2020, 12:16:45

Hallo Sony, danke für die Frage. Im vorherigen Fall hat die Ausgangsbehörde die Baugenehmigung auf den Protest des Nachbarn hin widerrufen (§ 49 VwVfG). Es gab da also gar keinen Widerspruchsbescheid! Hier bei diesem Fall hat der Nachbar Widerspruch (§ 68ff. VwGO) eingelegt! Die Widerspruchsbehörde hat daraufhin in einem Widerspruchsbescheid (§ 73 VwGO) die Baugenehmigung aufgehoben. Es ist sehr wichtig Rücknahme/Widerruf nach §§ 48, 49 VwVfG von der Aufhebung im Widerspruchsverfahren §§ 68ff. VwGO zu unterscheiden! Beides sind beliebte Examensklassiker.

Hamburger Michel

Hamburger Michel

11.10.2020, 17:15:13

Im Sachverhalt müsste es Widerspruch erheben statt einlegen heißen. 🙂

Christian Leupold-Wendling

Christian Leupold-Wendling

12.10.2020, 11:47:39

Korrekt! Heringe werden eingelegt, aber Widersprüche erhoben. Ergibt sich u.a. aus § 69 VwGO. Haben wir korrigiert.

Hamburger Michel

Hamburger Michel

12.10.2020, 12:33:38

Genauso ist es! 😅🐟

Isabell

Isabell

7.11.2020, 15:59:32

Die Eselsbrücke ist ja der Knaller! Gibt es da genug von, um eine eigene Kategorie daraus zu machen?

Christian Leupold-Wendling

Christian Leupold-Wendling

7.11.2020, 16:00:48

Isabell, das ist eine sau witzige Idee! Wir werden mal graben ;) Vielleicht sollten wir einen Thread dazu machen und einfach alle zusammentragen. Dann können wir sei geschlossen darstellen (und natürlich mit Illustrationen) ;)

Hamburger Michel

Hamburger Michel

7.11.2020, 19:50:34

Letztens wieder in einer mündlichen Prüfungssimulation gehört: Ist das Kind noch so klein, Bote kann es trotzdem sein. 😉

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

28.1.2021, 13:32:27

Glauben kann man in der Kirche. In der mündlichen Prüfung wird nicht "geglaubt". ;)

A666

Anton 666

22.1.2022, 11:02:22

Ich kenne den Spruch mit den Heringen ebenfalls. Dennoch ist er nicht ganz richtig. Einlegen geht auch, siehe zB § 70 I S. 2 VwGO ;)

Sophiee

Sophiee

28.1.2021, 11:07:00

Klagt A nicht eigentlich gegen den Abhilfebescheid? Lg

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

17.12.2021, 11:52:33

Hallo Sophie, vom Abhilfebescheid spricht man, wenn die Ausgangsbehörde Abhilfe leistet (§ 72 VwGO). Dies ist hier nicht erfolgt, sondern vielmehr hat erst die Widerspruchsbehörde gehandelt. Insofern klagt A gegen den Widerspruchsbescheid. Beste Grüße, Lukas- für das Jurafuchs-Team

EVA

evanici

26.8.2023, 12:01:24

Kann man sagen, dass der Widerrufsbescheid ggü. A also gleichzeitig als Widerspruchsbescheid behandelt wird und es vorliegend nicht darauf ankommt, dass B und nicht A den Widerspruch ursprünglich erhoben hat? Und müsste es im Maßstab nicht heißen, dass der Widerspruchsbescheid erstmalig eine Beschwer enthält?

flari0n

flari0n

20.11.2023, 10:44:53

Ich schließe mich der Korrektur zum Maßstab an: Dort müsste es auch im ersten Satz heißen „Widerspruchsbescheid“ statt „Widerspruch“. Außerdem wird der angegriffene Bescheid in der Frage sowohl (zutreffend) als „Widerspruchsbescheid“, als auch (unzutreffend) als „Widerrufsbescheid“ bezeichnet. Ein Widerruf (§ 49 VwVfG) ist in diesem Fall gerade nicht erfolgt, sondern im Fall zuvor. Das ist quasi der entscheidende Unterschied, weshalb § 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 VwGO hier anwendbar ist und im Fall zuvor nicht. Es wäre schön, wenn ihr beides korrigiert :)

Dogu

Dogu

22.11.2023, 18:18:04

Reicht hier für die Beurteilung der Klagebefugnis nicht aus, dass der Klägerin im ursprünglichen Genehmigungsbescheid bereits eine konkretisierte Rechtsposition zuteil und ihr diese wieder vom Widerspruchsbescheid genommen wurde? Alleine darin könnte ja die Rechtsverletzung zu sehen sein, unabhängig davon, ob sie ursprünglich einen Anspruch auf Erteilung dieser Genehmigung hatte.


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