Zivilrecht

BGB Allgemeiner Teil

Anfechtung der Willenserklärung

Anfechtungsgegner bei irrtümlicher Dereliktion

Anfechtungsgegner bei irrtümlicher Dereliktion

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A möchte ein altes Gemälde loswerden. Er geht davon aus, dass es wertlos sei und stellt es vor seinem Haus auf die Straße, falls es jemand haben möchte. B kommt vorbei und nimmt das Gemälde mit. Es stellt sich heraus, dass es sich bei dem Gemälde um einen echten Picasso handelt.

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Einordnung des Falls

Anfechtungsgegner bei irrtümlicher Dereliktion

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Eigentumsaufgabe ist ein bloßer Realakt (§ 959 BGB).

Nein!

Ein Realakt ist eine rein faktisch wirkende Rechtshandlung, die eine Rechtsfolge kraft Gesetzes unabhängig vom Willen des Handelnden hervorruft. Eine Eigentumsaufgabe (Dereliktion) setzt sich zusammen (1) aus einer nicht empfangsbedürftigen Willenserklärung, gerichtet auf Aufgabe des Eigentums und (2) einem Realakt, der Besitzaufgabe. Die Willenserklärung (Voraussetzung 1) ist nicht empfangsbedürftig. Sie ist nicht nach objektivem Empfängerhorizont, sondern nach dem subjektiven Willen des Eigentümers auszulegen.
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2. A hat das Eigentum an dem Gemälde aufgegeben (§ 959 BGB), indem er es vor sein Haus gestellt hat.

Genau, so ist das!

Die Eigentumsaufgabe (sog. Dereliktion) beinhaltet eine nicht empfangsbedürftige Willenserklärung. Bei nicht empfangsbedürftigen Willenserklärungen muss bei der Auslegung der wahre Wille des Erklärenden ermittelt werden (§ 133 BGB). Im Fall von Abfall und Sperrmüll muss dabei zwischen der Eigentumsaufgabe und der Eigentumsübertragung an den Abfallentsorger unterschieden werden. Den Erzeuger von Abfall trifft eine Überlassungspflicht an den Abfallentsorger (§ 17 KrWG), weshalb grundsätzlich von einem Angebot zur Übereignung an den Abfallentsorger auszugehen ist. A war jedoch gleichgültig, ob und wer das Gemälde an sich nimmt. A hat sein Eigentum an dem Gemälde aufgegeben.

3. A unterlag bei Abgabe der Willenserklärung einem Eigenschaftsirrtum (§ 119 Abs. 2 BGB), der ihn zur Anfechtung seiner Eigentumsaufgabe berechtigt.

Ja, in der Tat!

Der Eigenschaftsirrtum berechtigt zur Anfechtung, wenn der Erklärende über verkehrswesentliche Eigenschaften der Sache irrt (§ 119 Abs. 2 BGB). Verkehrswesentliche Eigenschaften einer Sache sind alle wertbildenden Faktoren, die ihr aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Verhältnisse auf Dauer anhaften. Die Urheberschaft eines Gemäldes stellt eine solche verkehrswesentliche Eigenschaft dar, da sie dem Gemälde unmittelbar anhaftet und immense Auswirkungen auf dessen Wert hat. A irrte über die Urheberschaft und hätte bei Kenntnis der Wahrheit das Eigentum an dem Gemälde nicht aufgegeben. Damit unterlag A einem zur Anfechtung berechtigenden Eigenschaftsirrtum.

4. A muss die Anfechtungserklärung an B adressieren, weil zwischen A und B ein Vertrag zustande gekommen ist (§ 143 Abs. 2 BGB).

Nein!

Anfechtungsgegner bei einem Vertrag ist der andere Teil (§ 143 Abs. 2 BGB). A hat das Eigentum jedoch durch Eigentumsaufgabe (Dereliktion) verloren und B hat es durch Aneignung (§ 958 BGB) erlangt. Die Aneignung ist ein gesetzlicher Erwerbstatbestand. Damit besteht keine rechtliche Verbindung zwischen A und B. Anders wäre es bei einer Eigentumsübertragung nach § 929 ff. BGB, bei der zwischen Veräußerer und Erwerber ein dinglicher Vertrag (Einigung) besteht.

5. A muss die Anfechtungserklärung an B adressieren, weil B aus dem Rechtsgeschäft unmittelbar einen rechtlichen Vorteil erlangt hat (§ 143 Abs. 4 BGB).

Genau, so ist das!

Anfechtungsgegner bei einem einseitigen Rechtsgeschäft anderer Art (also kein Fall von § 143 Abs. 3 BGB) ist derjenige, der aus dem Rechtsgeschäft unmittelbar einen rechtlichen Vorteil erlangt hat (§ 143 Abs. 4 BGB). Als unmittelbar erlangt gilt der Vorteil, der nicht auf Rechtsnachfolge (also Erbschaft) beruht. Bei einer Dereliktion ist der unmittelbar Profitierende der, der sich die Sache in der Folge aneignet. B ist der richtige Anfechtungsgegner.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

XY

Xyzzaxy

6.1.2020, 19:16:52

Bei der ersten Antwort fehlen an einer Stelle Klammer zu und Leerzeichen (Nach dem Wort "Derelektion", wenn ich mich recht entsinne)

Christian Leupold-Wendling

Christian Leupold-Wendling

14.1.2020, 16:27:02

Danke, haben wir korrigiert.

REUS04

Reus04

5.5.2023, 10:41:38

Er irrt sich doch über den Wert des Bildes. Das berechtigt doch gerade nicht zur Anfechtung gem. 119 II. Oder sehe ich das falsch?

SE.

se.si.sc

5.5.2023, 11:41:08

Du hast insofern vollkommen Recht, als dass der Wert alleine keine zur Anfechtung nach § 119 II BGB berechtigende Eigenschaft ist. Beruht der Wert allerdings wiederum auf einer Fehleinschätzung eines wertbildenden Faktors, wie hier zB der Urheberschaft des Gemäldes, so liegt jedenfalls nach der Rspr nicht nur ein Irrtum über den Wert vor, sondern gleichzeitig ein Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft iSd § 119 II BGB vor (BGH NJW 1988, 2597, 2598 f; MüKo-BGB, § 119 Rn 143). Ich gebe dir aber Recht, dass der Fall insoweit nicht ganz eindeutig gestrickt ist, weil der Wert des Bildes im Vordergrund zu stehen scheint und nicht klar ist, ob sich A überhaupt Gedanken über den Urheber des Bilds gemacht hat.

Carl Wagner

Carl Wagner

5.5.2023, 16:09:50

Vielen Dank für deine Frage, Reus04 und für deine Antwort se.si.sc! Ich will nur noch eine kleine Sache zum Verständnis des Irren über den 'Wert' oder über 'wertbildende Faktoren' ergänzen: Beim Irren über einen wertbildenden Faktor, irrt man auch immer über den Wert selbst. Würde man dann immer darauf abstellen, dass - auch - über den Wert geirrt wurde, würde letztlich diese Unterscheidung (wertbildende Faktoren und Wert selbst) zwecklos. Dann wäre jedes Irren über den wertbildenden Faktor, ein Irren über den Wert. Deutlich wird die Unterscheidung, wenn man den Fall abwandelt: Hätte A gewusst, dass es ein Picasso ist, aber trotzdem gedacht, dass das Gemälde wertlos sei (zB wegen mangelnder Allgemeinbildung), dann hätte er nur über den Wert geirrt. Dann wäre eine Anfechtung wegen

Eigenschaftsirrtum

gem. § 119 II BGB nicht mehr möglich gewesen. Viele Grüße - Carl für das Jurafuchs-Team

ON

onlyjura

27.9.2023, 12:12:07

Wieso profitiert B den unmittelbar von der Aufgabe des Eigentums? Rechtsfolge des §959 BGB ist doch, dass die Sache herrenlos wird. B erwirbt erst mit dem In-Eigenbesitz-Nehmen der herrenlosen Sache Eigentum nach §958 I BGB. Wenn niemand die Sache in Besitz nehmen will, bleibt sie eben herrenlos. Mir fehlt da dann aber die geforderte Unmittelbarkeit iSv §143 IV 1 BGB.

Paulah

Paulah

28.9.2023, 13:57:50

Ich denke, B profitiert davon, dass das Gemälde herrenlos geworden ist. Sonst hätte er es nicht in Besitz nehmen können. Hätte ein C es in Besitz genommen, hätte C profitiert. Und wenn niemand es mitgenommen hätte, hätte niemand profitiert.

Nora Mommsen

Nora Mommsen

28.9.2023, 15:41:17

Hallo ihr beiden, Paulah hat richtig dargestellt, dass B nur profitieren konnte, weil A zuvor das Eigentum aufgegeben hatte. Wäre dem nicht so gewesen, hätte er erstens durch die Inbesitznahme kein Recht an der Sache erwerben können und sich im Zweifel sogar strafbar gemacht. Ich denke da an den Fall entsorgter Skizzen eines Künstlers, die im Müll gefunden und an sich genommen wurden. Da diese für den Abfallbetriebt bestimmt waren, bestand nicht nur noch Eigentum sondern Gewahrsam und der Mitnehmende hat sich wegen Diebstahls strafbar gemacht. Auch wenn dies natürlich die strafrechtliche Seite betrifft, macht es nochmal deutlich, wie wichtig es ist, ob tatsächlich das Eigentum aufgegeben wurde. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

ALE

Alexander14

13.3.2024, 21:07:03

Die Möglichkeit das Eigentum zu erwerben ist hier also der unmittelbare, rechtliche Vorteil?

ALE

Alexander14

25.3.2024, 19:19:25

Ich finde die Fragestellung unpräzise. Er hat das Eigentum nicht aufgegeben, indem er das Gemälde bloß an die Straße gestellt hat. Erforderlich ist auch der Wille zur Eigentumsaufgabe.

LELEE

Leo Lee

29.3.2024, 06:40:01

Hallo Alexander14, vielen Dank für dein Feedback! In der Tat könnte man zunächst meinen, dass der A sein Eigentum nicht aufgegeben habe, da kein „expliziter“ Wille vorlag. Beachte allerdings, dass der Eigentumsaufgabewille als nicht empfangsbedürftige Willenserklärung lediglich den natürlichen Willen (also Erkennbarkeit aus dem obj.

Empfängerhorizont

nicht nötig) gem. 133 BGB benötigt. D.h., dass hier lt. Sachverhalt der Wille des A insofern gegeben ist, als er das Gemälde „loswerden“ möchte und es vor seinem Haus auf die Straße stellt, falls jemand haben möchte. Mithin entspricht es seinem natürlichen (wirklichen) Willen, sich dauerhaft dieses Werkes zu entledigen. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom MüKo-BGB 9. Auflage, Busche § 133 Rn. 31 und Oechsler § 959 Rn. 3 ff. sehr empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo


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