Nachträgliche Rechtsgrundlosigkeit (condictio ob causam finitam), § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 1


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Das bei der V versicherte Auto des E wird gestohlen. V zahlt daraufhin die fällige Versicherungssumme. Wenig später wird das Auto gefunden und E erlangt es zurück.

Einordnung des Falls

Nachträgliche Rechtsgrundlosigkeit (condictio ob causam finitam), § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 1

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. E hat eine Gutschrift auf seinem Konto und damit die Verfügungsgewalt über diesen Betrag "erlangt" (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BG).

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Genau, so ist das!

„Etwas“ im Sinne von § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB ist jede vorteilhafte Rechtsposition. Der Vorteil muss tatsächlich in das Vermögen des Schuldners übergegangen sein. Man kann vier Kategorien unterscheiden: (1) Rechte (z.B. Eigentum), (2) vorteilhafte Rechtsstellungen (z.B. Besitz), (3) Befreiung von Verbindlichkeiten, (4) erlangte Nutzungen an fremden Sachen oder Rechten. E hat durch die Überweisung eine Gutschrift auf seinem Konto erlangt. In der Gutschrift auf seinem Konto liegt rechtlich ein abstraktes Schuldversprechen der Bank (§ 780 BGB): Die Bank verspricht, dem E im Kontokorrent einen Betrag in dieser Höhe zu schulden.

2. E hat die Gutschrift "durch Leistung" der V erlangt § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB).

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Ja, in der Tat!

Eine Leistung ist jede bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens. Für das Leistungsbewusstsein ist ein rechtsgeschäftlicher Wille nicht erforderlich. Es genügt natürliche Einsichtsfähigkeit. V wollte hier ihrer Pflicht aus dem Versicherungsvertrag nachkommen und hat aus diesem Grund bewusst und zweckgerichtet die Versicherungssumme ausgezahlt.

3. V hat die Leistung "ohne Rechtsgrund" bewirkt (anfängliche Rechtsgrundlosigkeit, § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB).

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Nein!

Das Merkmal "ohne rechtlichen Grund" entscheidet darüber, ob der Bereicherte die Bereicherung behalten darf. Es gibt keine einheitliche Definition der Rechtsgrundlosigkeit, die für alle Leistungskondiktionen gelten würde. Hier kommt eine Leistung zur Befreiung von einer Verbindlichkeit (condictio indebiti) in Betracht. Bei der condictio indebiti fehlt der Rechtsgrund, wenn der mit der bewussten Vermögensmehrung verfolgte Zweck verfehlt worden ist.. Zum Zeitpunkt der Auszahlung bestand der Anspruch jedoch noch. Dieser fehlte also nicht schon im Zeitpunkt der Leistung. Ein Anspruch nach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB scheidet aus.

4. V hat die Leistung "ohne Rechtsgrund" bewirkt (nachträgliche Rechtsgrundlosigkeit, § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 BGB).

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Genau, so ist das!

Das Merkmal "ohne rechtlichen Grund" entscheidet darüber, ob der Bereicherte die Bereicherung behalten darf. Es gibt keine einheitliche Definition der Rechtsgrundlosigkeit, die für alle Leistungskondiktionen gelten würde. Hier bestand ursprünglich ein Rechtsgrund (Anspruch auf Auszahlung der Versicherungssumme im Versicherungsfall). Der Rechtsgrund ist aber ex nunc entfallen, als E sein Auto wieder erhalten hat. V hat einen Anspruch gegen E auf Rückzahlung der Versicherungssumme aus condictio ob causam finitam (§ 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 BGB).

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Isabell

Isabell

24.9.2020, 11:46:25

Wie viel Zeit müsste denn vergehen, um in dieser Konstellation nicht mehr den Wegfall des Rechtsgrundes anzunehmen? Oder regelt man das dann über die Verjährung?

MaxRaspody

MaxRaspody

16.9.2022, 12:39:34

Korrigiert mich bitte, wenn ich falsch liege, aber werden in der Praxis bei derartigen Fällen nicht das Eigentumsrecht auf den Versicherer übertragen? Demnach hätte V dann keinen Anspruch nach § 812 I Var. 1 bezüglich der Versicherungssumme.

Nora Mommsen

Nora Mommsen

16.9.2022, 19:10:17

Hallo MaxRaspody, du hast absolut Recht. In der Praxis ist es üblich, dass sich die Versicherer im Gegenzug zur Auszahlung der Versicherungssumme die Ansprüche abtreten lassen bzw. das Eigentum durch Abtretung des potentiellen Herausgabeanspruchs. Aus didaktischen Gründen ist dies hier nicht so und auch in der Klausursituation gilt immer, den Sachverhalt so nehmen wie er ist. :) Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team


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