Einwilligungsfähigkeit 1

6. April 2025

12 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

S schenkt sich zu ihrem 15-jährigen Geburtstag ein Bauchnabelpiercing, das P vornimmt. P hat S vor ihrer Zustimmung aufgeklärt. P weiß, dass die Eltern der S nicht zugestimmt haben.

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Einordnung des Falls

Einwilligungsfähigkeit 1

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. P erfüllt den Tatbestand der Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB). Er könnte hier aufgrund einer Einwilligung der S gerechtfertigt sein.

Genau, so ist das!

Die rechtfertigende Einwilligung stellt einen ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund dar. Sie setzt voraus: (1) Verfügbarkeit des geschützten Rechtsguts, (2) Verfügungsbefugnis, (3) Einwilligungsfähigkeit, (4) Einwilligungserklärung, (5) Freiheit von Willensmängeln und (6) Handeln in Kenntnis und aufgrund der Einwilligung. Die Voraussetzungen sind gesetzlich nicht geregelt. Sie erschließen sich aus dem Selbstbestimmungsrecht, das ihr zugrunde liegt, und aus der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG).
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2. Die körperliche Unversehrtheit ist als Individual-Rechtsgut disponibel.

Ja, in der Tat!

Das die Einwilligung betreffende Rechtsgut muss disponibel sein. Grundsätzlich verfügbar sind nur höchstpersönliche Rechtsgüter wie die körperliche Unversehrtheit und das Eigentum. Dabei müssen die Einwilligungsschranken der §§ 216, 228 StGB beachtet werden. Rechtsgüter der Allgemeinheit und Tatbestände, die solche schützen, sind nicht einwilligungsfähig.

3. S besitzt hinreichende Einwilligungsfähigkeit und ist als Inhaberin des Rechtsguts verfügungsbefugt.

Ja!

Maßgeblich ist die tatsächliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Rechtsgutsinhabers. Er muss nach seiner geistigen und sittlichen Reife in der Lage sein, die Bedeutung und Tragweite des fraglichen Eingriffs zu erkennen. Bei Minderjährigen beurteilt sich die Selbstbestimmungsfähigkeit danach, wie nah sie an der Volljährigkeitsgrenze stehen und wie schwerwiegend der Eingriff ist. Verfügungsbefugt ist der Inhaber des Rechtsguts. Fehlt ihm die Einwilligungsfähigkeit, geht die Verfügungsbefugnis auf den gesetzlichen Vertreter über.Ein Piercing im Bauchnabelbereich (im Gegensatz z.B. zu Zunge oder Intimbereich) ist weder ein besonders gravierender noch ein sonderlich risikobehafteter Eingriff. Mit Blick darauf ist die Einwilligungsfähigkeit der 15-jährigen S hier anzunehmen (a.A. vertretbar). Auch die weiteren Voraussetzungen liegen vor, sodass P hier gerechtfertigt ist.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

FABY

Faby

25.4.2023, 22:20:09

Die fehlende Zustimmung der Eltern würde man nicht thematisieren? Also in der Lösung wird dazu ja nichts gesagt.

EB

Elias Von der Brelie

17.5.2023, 17:30:40

Naja das Thema hat sich ja schon mit der bejahten Einwilligungsfähigkeit von S geklärt.

AG

agi

23.9.2024, 00:32:30

Hat mich zunächst auch irritiert, aber ich vermute dass die fehlende ٍEinwilligung der Eltern zwar strafrechtlich außer Acht gelassen werden kann, aber sollte man zivilrechtlich dagegen vorgehen wollen zu beachten ist.

sy

sy

6.10.2024, 17:31:02

aber es müsste mehr im SV dazu stehen, wie es um die S steht, denn in einem Aktenvortrag kam genau der Fall nur mit einem Tatoo dran und das lief genau in die andere richtung, da die liebe Minderjährige nicht reif genug war.

Kind als Schaden

Kind als Schaden

28.3.2025, 19:01:17

zwei Juristen- drei Meinungen. Die Einsichtsfähigkeit ist ja etwas, was nach den Gesamtumständen zu beurteilen ist, da wird man sich regelmäßig bis zur Unkenntlichkeit streiten können.

FJE

Friedrich-Schiller-Universität Jena

17.12.2023, 08:39:30

Ist in dem Fall nicht schon der Tatbestand ausgeschlossen, indem die Situation gleich gesehen wird wie eine ärztliche Behandlung (zumindest nach einer Ansicht)?

NIC

Nico

26.5.2024, 11:22:50

Also ich meine gehört zu haben dass ein ärztlicher heilangriff unstreitig eine vollendete Körperverletzung darstellt die im Wege der Einwilligung gerechtfertigt ist und so wird es wahrscheinlich auch hier sein

Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat

Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat

17.6.2024, 14:37:58

Ein ärztlicher Heil

eingriff

erfüllt nach dem BGH den Tatbestand der Körperverletzung, selbst wenn er lege artis durchgeführt wird. Nach Teilen der Literatur hingegen entfällt bei lege artis durchgeführten ärztlichen Heil

eingriff

en die

Tatbestandsmäßigkeit

, sodass dies nicht unumstritten ist. Ich denke hier wird jedoch auch nach der Literaturansicht der Tatbestand unzweifelhaft erfüllt sein, denn es handelt sich gerade nicht um einen ärztlichen Heil

eingriff

. Mangels medizinischer Ausbildung des Piercers halte ich die Fälle auch nicht für vergleichbar, sodass in diesem Fall meines Erachtens unstreitig die Körperverletzung vollendet sein sollte.

Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat

Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat

17.6.2024, 15:06:56

Zudem ist nach der Literaturansicht weitere Voraussetzung für ein Entfallen des Tatbestandes, dass der lege artis durchgeführte Heil

eingriff

auch medizinisch indiziert war, sodass das Piercen auch insofern nach dieser Ansicht den Tatbestand erfüllt.

Rechtsanwalt B. Trüger

Rechtsanwalt B. Trüger

4.12.2024, 15:23:59

Ich sehe das Ganze hier nicht so unproblematisch wie die Lösung. 1. deute ich den Sachverhalt so, dass das Piercing am 15. Geburtstag gestochen wurde und die S somit auch gerade frische 15 ist und nicht mal an der Grenze zur 16 steht. 2. finde ich es auch zu einfach das Stechen eines Piercings als nicht gravierenden

Eingriff

zu charakterisieren. Klar ist ein Piercing z.B. kein Tattoo, aber auch hier wird man beispielsweise das Einstechloch immer sehen für den Rest der Zeit. Zudem kommt es auch immer wieder zu Infektionen, welche schwerwiegend und im Extremfall tödlich verlaufen können. Während ein 17 oder 18 Jähriger sich ggf. ausführlicher mit den Risiken beschäftigt, wird eine gerade erst 15 Jahre alt gewordene Person es viel mehr mit einem „Ach wird schon nichts passieren“ abwimmeln, ohne sich Gedanken gemacht zu haben. Wenn man bei der Lösung bleiben möchte, sollte man mMn ergänzen, dass die S für ihr alter besonders Verantwortungsbewusst ist, oder sich schon ausgiebig mit möglichen Folgen beschäftigt hat. Korrigiert mich gerne, wenn ich mit der Ansicht alleine stehe :)

VI

Viooola

5.12.2024, 15:14:19

Zwar gibt es bei der Einwilligung keine feste Altersgrenze, allerdings kann das Alter trotzdem Indizwirkung haben. Ich schließe mich in Punkt 2 bei dir an, dass der Sachverhalt da sehr oberflächlich gehalten wurde und bin auch für deine vorgeschlagene Ergänzung im Sachverhalt

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

29.12.2024, 10:36:25

Hallo @[Rechtsanwalt B. Trüger](208842), vielen Dank Dir für den Hinweis und @[Viooola](278844) für die Ergänzung. Zunächst: Ja, unsere Sachverhaltsdarstellung ist so zu verstehen, dass S das Piercing zu ihrem 15. Geburtstag stechen lässt. Deinen zweiten Punkt kann man sicherlich so sehen. Ich halte es aber für ebenso gut vertretbar, den Fall auch anders zu lösen, unabhängig davon, ob S für ihr Alter besonders einsichtsfähig ist. Natürlich ist ein Piercing mit gewissenen, dauerhaften körperlichen Folgen (Einstichloch) und Risiken (Infektion) verbunden. Über diese (möglichen) Folgen muss S aber natürlich grds ohnehin aufgeklärt werden. Erforderlich ist dann nicht, dass S sich über diese Risiken ernsthafte Gedanken macht und sie in ihre Entscheidung einbezieht. Es genügt, wenn sie die (theoretische/abstrakte) Reife b

esi

tzt, die Tragweite dieser Aspekte zu erkennen und dementsprechend abzuwägen und zu handeln. Ob sie das auch tut, ist ihre Sache. Nun kann man bei einer durchschnittlichen 15-Jährigen definitiv diskutieren, ob sie eine solche Reife b

esi

tzt. Deine Ansicht dürfte sicher vertretbar sein, jedenfalls unter Klausurbedingungen. Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, 30. Aufl 2019, § 223 Rn 38c hält dagegen (unter Bezug auf eine Festschrift, auf die ich gerade keinen Zugriff habe) selbst eine Einwilligung durch ein 14-jähriges Kind in ein Piercing grds für möglich. Das gelte jedenfalls dann, wenn es sich um ein "nicht nachhaltig[es]" Piercing handle und "der

Eingriff

nicht mit besonderen Risiken verbunden" sei. In der Tat wird man hier zwischen einem eher unproblematischen Bauchnabelpiercing (so unser Fall) und risikobehafteteren Stellen wie Zunge oder Intimbereich noch einmal gut differenzieren können. Wir haben die Aufgabe dahingehend jetzt etwas präzisiert, möchten es aber gerne vorerst bei der "durchschnittlichen Einsichtsfähigkeit" der S belassen. Dieser Thread hier bleibt natürlich ohnehin für alle zur Vertiefung stehen. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team


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