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Klassisches Klausurproblem

S schenkt sich zu ihrem 15jährigen Geburtstag ein Bauchnabelpiercing, das P vornimmt. P hat S vor ihrer Zustimmung aufgeklärt. P weiß, dass die Eltern der S nicht zugestimmt haben.

Einordnung des Falls

Einwilligungsfähigkeit 1

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. P erfüllt den Tatbestand der Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB). Er könnte hier aufgrund einer Einwilligung der S gerechtfertigt sein.

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Genau, so ist das!

Die rechtfertigende Einwilligung stellt einen ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund dar. Sie setzt voraus: (1) Verfügbarkeit des geschützten Rechtsguts, (2) Verfügungsbefugnis, (3) Einwilligungsfähigkeit, (4) Einwilligungserklärung, (5) Freiheit von Willensmängeln und (6) Handeln in Kenntnis und aufgrund der Einwilligung. Die Voraussetzungen sind gesetzlich nicht geregelt. Sie erschließen sich aus dem Selbstbestimmungsrecht, das ihr zugrunde liegt und aus der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG).

2. Das körperliche Unversehrtheit ist als Individual-Rechtsgut disponibel.

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Ja, in der Tat!

Das die Einwilligung betreffende Rechtsgut muss disponibel sein. Grundsätzlich verfügbar sind nur höchstpersönliche Rechtsgüter wie die körperliche Unversehrtheit und das Eigentum. Dabei müssen die Einwilligungsschranken der §§ 216, 228 StGB beachtet werden. Rechtsgüter der Allgemeinheit und Tatbestände, die solche schützen, sind nicht einwilligungsfähig.

3. S besitzt hinreichende Einwilligungsfähigkeit und ist als Inhaberin des Rechtsguts verfügungsbefugt.

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Ja!

Maßgeblich ist die tatsächliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Rechtsgutsinhabers. Er muss nach seiner geistigen und sittlichen Reife in der Lage sein, die Bedeutung und Tragweite des fraglichen Eingriffs zu erkennen. Bei Minderjährigen beurteilt sich die Selbstbestimmungsfähigkeit danach, wie nah sie an der Volljährigkeitsgrenze stehen und wie schwerwiegend der Eingriff ist. Verfügungsbefugt ist der Inhaber des Rechtsguts. Fehlt ihm die Einwilligungsfähigkeit, geht die Verfügungsbefugnis auf den gesetzlichen Vertreter über.Ein Piercing ist kein gravierender Eingriff. Mit Blick darauf ist die Einwilligungsfähigkeit der 15jährigen S hier anzunehmen. Auch die weiteren Voraussetzungen liegen vor, sodass P hier gerechtfertigt ist.

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FABY

Faby

25.4.2023, 22:20:09

Die fehlende Zustimmung der Eltern würde man nicht thematisieren? Also in der Lösung wird dazu ja nichts gesagt.

EB

Elias Von der Brelie

17.5.2023, 17:30:40

Naja das Thema hat sich ja schon mit der bejahten Einwilligungsfähigkeit von S geklärt.

FJE

Friedrich-Schiller-Universität Jena

17.12.2023, 08:39:30

Ist in dem Fall nicht schon der Tatbestand ausgeschlossen, indem die Situation gleich gesehen wird wie eine ärztliche Behandlung (zumindest nach einer Ansicht)?

NIC

Nico

26.5.2024, 11:22:50

Also ich meine gehört zu haben dass ein ärztlicher heilangriff unstreitig eine vollendete Körperverletzung darstellt die im Wege der Einwilligung gerechtfertigt ist und so wird es wahrscheinlich auch hier sein

Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat

Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat

17.6.2024, 14:37:58

Ein ärztlicher Heileingriff erfüllt nach dem BGH den Tatbestand der Körperverletzung, selbst wenn er lege artis durchgeführt wird. Nach Teilen der Literatur hingegen entfällt bei lege artis durchgeführten ärztlichen Heileingriffen die Tatbestandsmäßigkeit, sodass dies nicht unumstritten ist. Ich denke hier wird jedoch auch nach der Literaturansicht der Tatbestand unzweifelhaft erfüllt sein, denn es handelt sich gerade nicht um einen ärztlichen Heileingriff. Mangels medizinischer Ausbildung des Piercers halte ich die Fälle auch nicht für vergleichbar, sodass in diesem Fall meines Erachtens unstreitig die Körperverletzung vollendet sein sollte.

Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat

Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat

17.6.2024, 15:06:56

Zudem ist nach der Literaturansicht weitere Voraussetzung für ein Entfallen des Tatbestandes, dass der lege artis durchgeführte Heileingriff auch medizinisch indiziert war, sodass das Piercen auch insofern nach dieser Ansicht den Tatbestand erfüllt.


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