Beleidigungsfreie Sphäre

22. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Familie F, bestehend aus Vater V, Mutter M und Tochter T, sitzen am Tisch und essen gemeinsam. Dabei sagt V, er halte die Bundeskanzlerin A für ein "dummes Miststück" und vergleicht sie mit Hitler. T erzählt das am nächsten Tag ihrer Freundin, deren Mutter die A ist. A stellt daraufhin Strafantrag.

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Einordnung des Falls

Beleidigungsfreie Sphäre

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Beleidigung setzt tatbestandlich eine Kundgabe voraus.

Genau, so ist das!

Eine Beleidigung ist der Angriff auf die Ehre eines anderen durch Kundgabe eigener Missachtung, Geringschätzung oder Nichtachtung. Sie hat vier Bestandteile: Es wird (1) eine Tatsachenbehauptung gegenüber dem Betroffenen bzw. ein Werturteil gegenüber dem Betroffenen oder einem Dritten (2) kundgegeben, (3) die Äußerung hat ehrverletzenden Inhalt und (4) wird vom Adressaten wahrgenommen.
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2. V hat das Werturteil über A kundgegeben (§ 185 StGB).

Nein, das trifft nicht zu!

Eine Beleidigung als Tathandlung setzt die Kundgabe von Tatsachen oder Werturteilen voraus. Dabei kommen Äußerungen in jeder Form in Betracht, also mündliche oder schriftliche sowie etwa Gesten (Mittelfinger) und Symbole. Die Kundgabe muss den Betroffenen erkennen lassen. Äußerungen über Dritte in Vertrauensverhältnissen wie dem Familienkreis erfüllen nicht den Tatbestand der Beleidigung, weil es ihnen am Kundgabecharakter fehlt. V äußert sich in seinem Familienkreis. Bei Äußerungen im Familienkreis überwiegt das Recht auf Privatsphäre (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) so sehr, dass das Kundgabemerkmal einschränkend auszulegen ist (teleologische Reduktion). Sonst wäre nicht mehr gewährleistet, dass jedermann eine private Sphäre hat, die ihm die Möglichkeit gibt, sich unbefangen auszusprechen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Simon

Simon

4.6.2021, 22:56:32

Könnte man die teleologische Reduktion auch nur iRd Kundgabeerfolges vornehmen? Mit anderen Worten: könnte man eine Kundgabehandlung auch im engsten Familienkreis bejahen aber den Kundgabeerfolg dann bei nahen Familienmitgliedern verneinen? Im vorliegenden Fall würde ich dann den obj. TB bejahen, aber einen

vorsatz

ausschließenden TBI nach § 16 I 1 annehmen. V ging ja nicht davon aus, dass seine Äußerung den Esstisch verlassen würde.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

6.7.2021, 19:08:35

Hallo Simon, die Verortung der "beleidigungsfreien Sphäre" ist durchaus nicht unumstritten. Dass die Frage auf die Ebene des subjektiven Tatbestandes verlagert wurde, habe ich persönlich allerdings noch nicht gelesen. Überwiegend wird dies entweder durch teleologische Reduktion des objektiven Tatbestandes gelöst (schon kein Unrechtsurteil) oder das allg. Persönlichkeitsrecht als Rechtfertigungsgrund herangezogen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

paul

paul

2.7.2021, 16:35:29

Meiner Meinung müsste man hier auch mit Ja antworten können, da man genauso gut Kundgabe annehmen kann und dann den Tatbestand als ganzen teleologisch reduzieren könnte. Alternativ kann man auch über Rechtswidrigkeit oder Schuld die

beleidigungsfreie Sphäre

mit angenommener Kundgabe hinbekommen.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

6.7.2021, 19:00:54

Hallo Paul, Du hast natürlich Recht, dass es auch in diesem Bereich nur bedingt ein eindeutiges "Richtig" oder "Falsch" gibt. Dass aufgrund des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Familienkreis grundsätzlich eine

beleidigungsfreie Sphäre

darstellt, ist zwar absolut anerkannt (vgl. hierzu auch BVerfG, NStZ 1994, 403). Diese wird aber - wie Du zurecht einwendest - an unterschiedlicher Stelle verortet. Die überwiegende Auffassung lässt indes bereits den Tatbestand entfallen, indem der Begriff der Kundgabe teleologisch reduziert wird. Als Argument wird u.a. herangeführt, dass es sich hierbei eben nicht um die Ausnahme, sondern die Regel handelt und insofern schon keine rechtliche Pflicht auf Tatbestandsebene bestehe im Familienkreis nur "zensiert" zu sprechen (vgl. hierzu Sch/Sch, StGB, 30. A. 2019, Vorb. zu §§ 185 ff. Rn. 9a mwN). Das ist aber natürlich nicht in Stein gemeißelt und mit der entsprechenden Begründung kann man dies auch an anderer Stelle verorten. Da wir in unseren Aufgaben uns aber für "Stimmt" oder "Stimmt nicht" entscheiden müssen, fanden wir die Berücksichtigung auf Tatbestandsebene am überzeugendsten. Gerne nehmen wir aber Deinen Hinweis noch als Vertiefung mit auf :). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Helena

Helena

17.2.2022, 14:17:18

Welche Arten von Verhältnissen werden hier im Bereich von „Vertrauensverhältnis“ mit einbezogen? Ist es nur die Familie, oder sind es auch Freunde, Mitbewohner, etc.? Ab wann muss man bei einem relativ engen Verhältnis die Kundgabe bejahen 

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

21.2.2022, 14:00:31

Hallo Helena, ursprünglich wurde dies auf den engsten Familienkreis begrenzt. Überwiegend werden heute aber auch andere vergleichbar enge persönliche Lebensgemeinschaften (zB nichteheliche Lebensgemeinschaften, enge Freunde, ggfs. auch enge Wohngemeinschaften) einbezogen (vgl. Eisele/Schittenhelm, in: Sch/Sch-StGB, 30.A. 2019, Vor § 185 RdNr. 9b). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Artimes

Artimes

9.3.2024, 21:36:56

Sind von der beleidigungsfreien Sphäre nur Äußerungen in Beziehung auf einen Dritten erfasst (Drei-Personen-Verhältnis)? Oder gilt das Privileg der beleidigungsfreien Sphäre auch bei gegenseitiger Beleidigung von z.B. Ehegatten (Zwei-Personen-Verhältnis)?

TI

Timurso

10.3.2024, 14:56:11

Das gilt nur bei Beleidigungen ggü. Dritten. Zweck des ganzen ist schließlich, dass man in diesem Verhältnis offen über Dritte reden können soll, dagegen nicht, dass der Gegenüber nicht vor Herabwürdigung geschützt ist.


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