Beleidigungsfreie Sphäre
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Familie F, bestehend aus Vater V, Mutter M und Tochter T, sitzen am Tisch und essen gemeinsam. Dabei sagt V, er halte die Bundeskanzlerin A für ein "dummes Miststück" und vergleicht sie mit Hitler. T erzählt das am nächsten Tag ihrer Freundin, deren Mutter die A ist. A stellt daraufhin Strafantrag.
Einordnung des Falls
Beleidigungsfreie Sphäre
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Die Beleidigung setzt tatbestandlich eine Kundgabe voraus.
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Genau, so ist das!
2. V hat das Werturteil über A kundgegeben (§ 185 StGB).
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Nein, das trifft nicht zu!
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Simon
4.6.2021, 22:56:32
Könnte man die teleologische Reduktion auch nur iRd Kundgabeerfolges vornehmen? Mit anderen Worten: könnte man eine Kundgabehandlung auch im engsten Familienkreis bejahen aber den Kundgabeerfolg dann bei nahen Familienmitgliedern verneinen? Im vorliegenden Fall würde ich dann den obj. TB bejahen, aber einen vorsatzausschließenden TBI nach § 16 I 1 annehmen. V ging ja nicht davon aus, dass seine Äußerung den Esstisch verlassen würde.

Lukas_Mengestu
6.7.2021, 19:08:35
Hallo Simon, die Verortung der "beleidigungsfreien Sphäre" ist durchaus nicht unumstritten. Dass die Frage auf die Ebene des subjektiven Tatbestandes verlagert wurde, habe ich persönlich allerdings noch nicht gelesen. Überwiegend wird dies entweder durch teleologische Reduktion des objektiven Tatbestandes gelöst (schon kein Unrechtsurteil) oder das allg. Persönlichkeitsrecht als Rechtfertigungsgrund herangezogen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

paul
2.7.2021, 16:35:29
Meiner Meinung müsste man hier auch mit Ja antworten können, da man genauso gut Kundgabe annehmen kann und dann den Tatbestand als ganzen teleologisch reduzieren könnte. Alternativ kann man auch über Rechtswidrigkeit oder Schuld die beleidigungsfreie Sphäre mit angenommener Kundgabe hinbekommen.

Lukas_Mengestu
6.7.2021, 19:00:54
Hallo Paul, Du hast natürlich Recht, dass es auch in diesem Bereich nur bedingt ein eindeutiges "Richtig" oder "Falsch" gibt. Dass aufgrund des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Familienkreis grundsätzlich eine beleidigungsfreie Sphäre darstellt, ist zwar absolut anerkannt (vgl. hierzu auch BVerfG, NStZ 1994, 403). Diese wird aber - wie Du zurecht einwendest - an unterschiedlicher Stelle verortet. Die überwiegende Auffassung lässt indes bereits den Tatbestand entfallen, indem der Begriff der Kundgabe teleologisch reduziert wird. Als Argument wird u.a. herangeführt, dass es sich hierbei eben nicht um die Ausnahme, sondern die Regel handelt und insofern schon keine rechtliche Pflicht auf Tatbestandsebene bestehe im Familienkreis nur "zensiert" zu sprechen (vgl. hierzu Sch/Sch, StGB, 30. A. 2019, Vorb. zu §§ 185 ff. Rn. 9a mwN). Das ist aber natürlich nicht in Stein gemeißelt und mit der entsprechenden Begründung kann man dies auch an anderer Stelle verorten. Da wir in unseren Aufgaben uns aber für "Stimmt" oder "Stimmt nicht" entscheiden müssen, fanden wir die Berücksichtigung auf Tatbestandsebene am überzeugendsten. Gerne nehmen wir aber Deinen Hinweis noch als Vertiefung mit auf :). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Helena
17.2.2022, 14:17:18
Welche Arten von Verhältnissen werden hier im Bereich von „Vertrauensverhältnis“ mit einbezogen? Ist es nur die Familie, oder sind es auch Freunde, Mitbewohner, etc.? Ab wann muss man bei einem relativ engen Verhältnis die Kundgabe bejahen 

Lukas_Mengestu
21.2.2022, 14:00:31
Hallo Helena, ursprünglich wurde dies auf den engsten Familienkreis begrenzt. Überwiegend werden heute aber auch andere vergleichbar enge persönliche Lebensgemeinschaften (zB nichteheliche Lebensgemeinschaften, enge Freunde, ggfs. auch enge Wohngemeinschaften) einbezogen (vgl. Eisele/Schittenhelm, in: Sch/Sch-StGB, 30.A. 2019, Vor § 185 RdNr. 9b). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team