Alleinhaftung des Fußgängers bei vorsätzlicher Kollision mit Pkw


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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

G geht nachts auf der rechten Fahrbahn eine nicht beleuchtete Landstraße entlang. Halter H nähert sich mit seinem ordnungsgemäß geführten Trabbi. In suizidaler Absicht springt G plötzlich auf die Fahrbahn. H kann nicht mehr ausweichen. G verlangt Schadensersatz von H.

Einordnung des Falls

Alleinhaftung des Fußgängers bei vorsätzlicher Kollision mit Pkw

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. G könnte ein Schadensersatzanspruch gegen H zustehen (§ 7 Abs. 1 StVG).

Ja, in der Tat!

Der Anspruch aus § 7 Abs. 1 StVG setzt voraus: (1) Rechtsgutsverletzung, (2) Betrieb eines Kfz, (3) Haltereigenschaft des Anspruchsgegners, (4) Kausalität zwischen Betrieb und Verletzung, (5) Kein Ausschluss (§§ 7 Abs. 2, Abs. 3, 8, 15 S. 1 StVG). § 7 Abs. 1 StVG regelt eine Gefährdungshaftung des Halters, setzt also - anders als die Haftung des Fahrzeugführers (§ 18 StVG) oder deliktische Ansprüche (§§ 823 ff. BGB) - kein Verschulden voraus.

2. Eine Rechtsgutsverletzung im Sinne des § 7 Abs. 1 StVG liegt vor.

Ja!

Es müsste eine Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder eine Sachbeschädigung vorliegen (§ 7 Abs. 1 StVG). G wurde durch die Kollision mit dem Fahrzeug in seiner körperlichen Unversehrtheit verletzt. Auch der berechtigte unmittelbare Besitz wird von § 7 Abs. 1 StVG geschützt. Denn geschütztes Rechtsgut ist nicht das Eigentum, sondern die Beschädigung einer Sache. Soweit das in Deinem Bundesland zulässig ist, kannst Du daher § 854 BGB über „Sache“ in § 7 Abs. 1 StVG kommentieren.

3. Die Verletztung erfolgte bei Betrieb eines Fahrzeugs.

Genau, so ist das!

Ein Kfz ist in Betrieb, solange es sich im öffentlichen Verkehrsbereich bewegt oder in verkehrsbeeinflussender Weise ruht. Zwischen Betrieb und Verletzung muss ein Kausalzusammenhang bestehen ("bei dem Betrieb"). Ferner müsste die Verletzung vom Schutzzweck der Norm erfasst sein.H fuhr das Auto auf einer Landstraße. Es war damit im öffentlichen Verkehr in Betrieb. Das Fahrzeug berührte G und führte so zur Körperverletzung. Die Verletzung ist auch vom Schutzzweck der Norm erfasst, da sie in einem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Betriebsvorgang erfolgte und sich damit die Betriebsgefahr realisierte.

4. H ist Halter des Fahrzeugs (§ 7 Abs. 1 StVG).

Ja, in der Tat!

Halter ist, wer das Fahrzeug für eigene Rechnung gebraucht und die tatsächliche Verfügungsgewalt darüber besitzt. Maßgeblich ist das tatsächliche, nicht das rechtliche Herrschaftsverhältnis. H hat die Verfügungsgewalt über den Wagen inne und ist damit Halter. Für die Verfügungsgewalt ist entscheidend, wer über den Einsatz des Fahrzeugs entscheiden kann. Unerheblich ist, ob der Halter das Kfz selbst geführt hat. Dies zeigt schon die Existenz des § 18 Abs. 1 StVG.

5. Wenn der haftungsbegründende Tatbestand der Halterhaftung erfüllt ist (§ 7 Abs. 1 StVG), hat der Verletzte zwingend einen Anspruch auf Schadensersatz.

Nein, das ist nicht der Fall!

Trifft den Geschädigten ein Mitverschulden an der Schadensentstehung, so ist dies bei der Anspruchsbemessung zu berücksichtigen. Dies kann auch zu einer Reduzierung auf Null führen (vergleiche § 254 Abs. 1 BGB: "hängt die Verpflichtung [...] sowie der Umfang" vom jeweiligen Mitverschulden ab). Auf Seiten des Halters ist stets dessen Betriebsgefahr zu beachten. § 17 Abs. 2 StVG verdrängt §§ 9 StVG, 254 BGB für den Fall, dass Schädiger und Geschädigter beide Halter eines unfallbeteiligten Kfzs sind.

6. Vorliegend ist zulasten des H ein Verstoß gegen des Sichtfahrgebot zu berücksichtigen (§ 3 Abs. 1 S. 4 StVO).

Nein, das trifft nicht zu!

Nach dem Sichtfahrgebot darf nur so schnell gefahren werden, dass innerhalb der übersehbaren Strecke gehalten werden kann. Dieses wird jedoch durch den Vertrauensgrundsatz beschränkt. Danach darf der Kraftfahrer darauf vertrauen, dass Fußgänger nicht plötzlich auf die Fahrbahn laufen. G ist absichtlich und unerwartet vor das heranfahrende Fahrzeug getreten. Damit musste H nicht rechnen. H durfte darauf vertrauen, dass G nicht in seinen Fahrweg treten würde. Es liegt kein Verstoß gegen das Sichtfahrgebot vor.

7. G trifft ein überragendes Mitverschulden, hinter dem die Betriebsgefahr des Fahrzeugs vollständig zurücktritt (§§ 9 StVG, 254 BGB).

Ja!

Bei der vorzunehmenden Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge (§§ 9 StVG, 254 Abs. 1 BGB) sind auf Seiten des H nur die von dem Pkw ausgehende allgemeine Betriebsgefahr, auf Seiten des G hingegen dessen schuldhafter Verstoß gegen § 25 StVO zu beachten. Die Betriebsgefahr tritt hinter diesem Verursachungsbeitrag vollständig zurück.

8. Steht G ein Schadensersatzanspruch gegen H zu (§ 7 Abs. 1 StVG)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Zwar liegt der haftungsbegründende Tatbestand vor. Allerdings trifft den G ein überragendes Mitverschulden (§§ 9 StVG, 254 BGB), hinter dem die allgemeine Betriebsgefahr zurücktritt. In der Klausur sind neben § 7 Abs. 1 StVG stets noch § 18 Abs. 1 StVG, §§ 823 Abs. 1 BGB, 16 StVG und §§ 823 Abs. 2 i.V.m. 1 ff. StVO, 16 StVG anzudenken. §§ 7, 18 StVG sollten vor § 823 BGB geprüft werden, da die Anspruchsvoraussetzungen einfacher nachzuweisen sind (Gefährdungshaftung bzw. vermutetes Verschulden).

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KI

kithorx

7.2.2023, 19:39:54

Ist die letzte Frage korrekterweise wirklich negativ zu beantworten? Sie fragt danach, ob ein Schadensersatzanspruch besteht. Dies ist dem Grunde nach ja der Fall. Nur haftungsausfüllend eben gleich null.

Nora Mommsen

Nora Mommsen

9.2.2023, 13:48:20

Hallo kithorx, danke für deine Frage. Die Frage-Antwort Kombination ist richtig so. Der Anspruch besteht eben nur, wenn alle Voraussetzungen gegeben sind. Dazu gehört der haftungsbegründende wie haftungsausfüllende Tatbestand gleichermaßen. Fehlt eins von beiden ist kein Anspruch gegeben. Du kannst es dir vorstellen wie den letzten Satz einer Prüfung. Wenn der hauftungsausfüllende Tatbestand nicht gegeben ist, dann musst du als Schlussatz schreiben - ein Anspruch aus § 7 StVG besteht nicht. Genau das fragt die letzte Frage ab. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

KI

kithorx

10.2.2023, 00:49:31

Danke! Ergibt für mich so jetzt auch mehr Sinn 😄

THE

Theodora

28.5.2023, 12:26:57

Der angegeben Maßstab bzgl. "Bei Betrieb eines Fahrzeugs" dürfte veraltete sein, indem man den örtlichen Bereich auf den -öffentlichen Verkehr- begrenzt. Denn der BGH geht von einer sehr weiten Auffassung des Betriebsbegriffs aus und bejaht 7 StVG auch bei Privatgeländen.

EVA

evanici

12.9.2023, 13:35:18

Könnte man einen plötzlich auf die Straße springenden Suizidenten nicht auch als "höhere Gewalt" subsumieren, sodass bereits ein Ausschlussgrund vorliegt? Wertungsmäßig wäre das ja auf einer Ebene mit dem das Sichtfahrgebot beschränkenden Vertrauensgrundsatz.

NI

Nilson2503

10.10.2023, 15:40:55

Habe auch im Hinterkopf dass es sich bei plötzlichem Suizid durch Springen auf die Fahrbahn um höhere Gewalt handelt. Daher dürfte der Anspruch bereits hieran scheitern.

GS99

GS99

29.11.2023, 20:14:30

In diesem Kontext ist höhere Gewalt "ein außergewöhnliches von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes und nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbares Ereignis...". Der Suizidversuch kamm nicht von außen durch eine dritte Person, sondern vom "Opfer" selbst, also ist das kein Fall von höherer Gewalt. Allerdings wurde bis 2002 die Verteidigung eines "unabwendbaren Ereignisses" verwendet. Diese hat auch das Verhalten des Opfers erfasst. Heute ist diese Verteidigung allerdings nicht mehr anwendbar.


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