Mitleidstötung

22. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Klassisches Klausurproblem

Patient O ist todkrank, aber noch bei Bewusstsein. Angesichts Os schwerer Leiden hat Krankenschwester T Mitleid. Um ihm weiteres Leiden und einen Todeskampf zu ersparen, verabreicht sie O tödliche Injektionen. Weder O selbst noch seine Angehörigen hatten T hierum gebeten.

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Einordnung des Falls

Mitleidstötung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. O war "arg- und wehrlos" (§ 211 Abs. 2 Gr. 2 Var. 1 StGB).

Genau, so ist das!

Arglos ist, wer sich bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs (= Zeitpunkt des Versuchs (§ 22 StGB)) keines Angriffs auf sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit versieht. Wehrlos ist, wer infolge seiner Arglosigkeit zur Verteidigung außerstande oder in seiner natürlichen Abwehrbereitschaft und Abwehrfähigkeit stark eingeschränkt ist. O lag im Krankenhaus und rechnete nicht mit einem Angriff auf sein Leben; im Gegenteil erwartete er eine Heilbehandlung. Er war arglos. Zudem war O auch infolge seiner Arglosigkeit in seiner Verteidigungsbereitschaft stark eingeschränkt.
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2. T hat in "feindseliger Willensrichtung" gehandelt.

Ja, in der Tat!

Die Rechtsprechung hat den Tatbestand der Heimtücke durch das Merkmal der "feindseligen Willensrichtung" (oft auch: "feindliche Willensrichtung") eingeschränkt. An einer solchen feindseligen Willensrichtung kann es nur dann fehlen, wenn die Tat dem ausdrücklichen Willen des Getöteten entspricht oder – aufgrund einer objektiv nachvollziehbaren und anzuerkennenden Wertung – mit dem mutmaßlichen Willen des zu einer autonomen Entscheidung nicht fähigen Opfers geschieht (etwa bei Tötungen aus Mitleid und bei missglücktem Mitnahmesuizid). T handelte in feindseliger Willensrichtung. T hätte O fragen müssen, ob es seinem Willen entspricht, getötet zu werden. Der BGH hat früher (BGH, Urt. v. 08.05.1991 - 3 StR 467/90) vertreten, dass der Täter dann nicht in feindseliger Willensrichtung handele, wenn er glaubt, zum Besten des Opfers zu handeln (das wäre vorliegend zu bejahen).

3. Dass T den O getötet hat, ist aufgrund der Umstände in gewisser Weise nachvollziehbar. Die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe stünde nicht in angemessenem Verhältnis zur Schwere der Tat und dem Maß der Schuld.

Ja!

Die Definition der Heimtücke (bewusstes Ausnutzen der Arg- und der darauf beruhenden Wehrlosigkeit des Opfers zur Tötung in feindlicher Willensrichtung) ist relativ weit gefasst und ermöglicht eine sehr weite Auslegung des Mordmerkmals. Das BVerfG folgert aus dem Schuldgrundsatz sowie dem Rechtsstaatsprinzip, dass Tatbestand und Rechtsfolge aufeinander abgestimmt sein und die angedrohte Strafe in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Maß der Schuld stehen müssen. Die Tötung des O durch T ist in gewisser Weise "nachvollziehbar" und eine lebenslange Freiheitsstrafe erscheint nicht schuldangemessen. Rechtsprechung und Literatur versuchen deshalb mit verschiedenen Ansätzen die Verfassungswidrigkeit einer solch weiten Auslegung zu vermeiden.

4. Nach der Tatbestandseinschränkung der Literatur durch ein zusätzliches Merkmal ("verwerflicher Vertrauensbruch" bzw. "tückisch-verschlagenes Vorgehen") würde die Strafbarkeit des T wegen Mordes entfallen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Literatur regt eine Restriktion auf Tatbestandsebene an. Ein Teil der Literatur verlangt einen verwerflichen Vertrauensbruch (zu unterscheiden von dem Merkmal der "feindlichen Willensrichtung"). Ein anderer Teil verlangt ein tückisch-verschlagenes, also listiges, hinterhältiges Vorgehen. T hat sowohl in verwerflicher Weise das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Krankenschwester gebrochen als auch ein tückisch-verschlagenes Vorgehen an den Tag gelegt. Die Strafbarkeit würde nach der Literatur nicht entfallen.

5. Nach der Rechtsprechung ist T wegen Mordes zu verurteilen. T profitiert jedoch von einer Strafmilderung.

Ja, in der Tat!

Die Rechtsprechung verurteilt zwar weiterhin wegen Mordes, mindert aber auf Rechtsfolgenseite den Strafrahmen. Der BGH lässt an die Stelle lebenslanger Freiheitsstrafe den Strafrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB treten, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, die das Ausmaß der Täterschuld erheblich mindern. Diese könnten bei Taten angenommen werden, die in notstandsnahen, ausweglos erscheinenden Situationen in großer Verzweiflung, aus tiefem Mitleid oder aufgrund von wiederholter schwerer Provokation begangen werden. T hat den O aus Mitleid getötet, damit er nicht weiter leiden muss und ihm so den Todeskampf erspart. Die Rechtsprechung würde den Strafrahmen mindern.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Isabell

Isabell

31.3.2020, 10:14:23

Mir reichen die Angaben im Sachverhalt nicht aus, um hier eine Tat aus Mitleid anzunehmen, anstelle der Anmaßung die eigene Vorstellung über lebenswertes Leben eigenmächtig zu entscheiden.

Marilena

Marilena

31.3.2020, 12:03:30

Danke für Deine Meinung! Wir haben den SV noch etwas zugespitzt. Er gibt jetzt nichts mehr her für Deine zweite Option. ;)

DIAA

Diaa

10.8.2023, 22:19:13

Argumentation überzeugt nicht, vor allem, weil sie den O ohne jegliche Vorsprache mit ihm oder mit seinen Angehörigen ermordete. Das wäre zu willkürlich. Würde man eine Strafminderung nach § 49 I bejahen, würde dies zuungunsten des Getöteten bzw. zuungunsten seiner Angehörigen erfolgen und dann würde das Mordmerkmal der Heimtücke leerlaufen bzw. wäre es überflüssig.

LELEE

Leo Lee

11.8.2023, 12:37:25

Hallo Diaa, es mag zunächst so scheinen, als würde die Heimtücke "leerlaufen". Beachte jedoch, dass die Rechtsprechung die Heimtücke sehr wohl bejaht, nur die Strafe eben mildert. Der Grund dahinter ist, dass ein Vorgehen nach dem "Alle-oder-Nichts-Prinzip" (Heimtücke auf TB-Ebene bejahen oder verneinen aufgrund bestimmter Merkmale) eben hinsichtlich der Einzelfallgerechtigkeit nachteilhafter ist als eine Lösung bei der Strafzumessung :). Liebe Grüße - für das Jurafuchsteam - Leo

AME

Amelie7

28.10.2024, 18:13:32

Ich sehe das genau so. Ich verstehe zwar, dass hier keine Mitleidstötung in dem Sinne vorliegen kann, da der Patient noch bei Bewusstsein war, aber wieso wird dann doch eine Strafmilderung angenommen?

FL

Flohm

18.4.2024, 10:57:06

Wie und wo führe ich den Streit in einer Klausur ? Führe ich den überhaupt ?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

18.4.2024, 16:54:05

Hallo Flohm, danke für deine Frage! Wenn es relevant ist, sollte das Thema natürlich angesprochen werden. Du prüfst erst ganz normal die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale durch. Im Anschluss leitest du in der Streit über, mit der Frage, ob aufgrund des vom BVerfG aufgestellten Gebots restriktiver Anwendung ausreichend ist, allein die vorgenannten Kriterien zur Begründung eines Mordes aus Heimtücke heranzuziehen. Dann fängst du mit den Ansichten zur Restriktion auf Tatbestandsebene an und kommt ggfs. zur Ablehnung um dann nach der Rechtswidrigkeit und Schuld noch die Rechtsfolgenlösung des BGH anzusprechen. Diese nutzt ja das bekannte Strafmaßkriterium des minder schweren Falls um zu einem Ausgleich zu kommen, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen und kein gesetzlicher Milderungsgrund greift. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

TI

Timurso

27.4.2024, 10:35:11

In der Definition der feindseligen Willensrichtung werden Mitleidstötungen als Beispiel genannt für solche, die nicht in feindseliger Willensrichtung geschehen. Vorliegend wird das Merkmal jedoch bejaht. Da müsste imo noch etwas verfeinert werden.

LELEE

Leo Lee

28.4.2024, 12:30:58

Hallo Timurso, vielen Dank für dein Feedback! In der Tat könnte man meinen, der Text sei widersprüchlich. Beachte allerdings, dass die Mitleidstötung dann nicht in feindlicher Willensrichtung passiert, wenn davor als „Ausgangssituation“ eine explizite Einwilligung vorliegt oder das Opfer nicht in der Lage ist einen Willen zu äußern! Vorliegend war jedoch das Opfer bei Bewusstsein + keiner hatte drum gebeten, das Opfer aus „Mitleid“ zu töten. Sprich, Mitleid kann die feindliche Willensrichtung nur dann ausschließen, wenn dies unter der Voraussetzung passiert, dass weder ausdrücklicher Wille noch etwa Bewusstlosigkeit des Opfers vorliegt :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

Gerrit

Gerrit

4.5.2024, 18:05:26

@[Leo Lee](213375) Würde bei Bewusstlosigkeit des O nicht die Arglosigkeit fehlen und es wäre somit kein heimtückischer Mord (ohne etwaige Garanten zu berücksichtigen)? Wenn O am Schlafen wäre, würde man dann die feindselige Willensrichtung verneinen, da O zum Zeitpunkt der Tötung nicht in der Lage war einen Willen abzugeben oder muss es ein dauerhafter Zustand sein?

eichhörnchen II

eichhörnchen II

16.5.2024, 00:39:57

Eine Aufgabe vorher wird gesagt in den Krankenhausfällen ist eine Tötung aus Mitleid gegeben, sofern das Mitleid auch das dominante Motiv ist.. das wirkt mir jetzt doch etwas widersprüchlich. Das Lehrbuch-Beispiel für Mitleidstötungen /

Mitnahmesuizid

e ist das Töten der eigenen Kinder beim elterlichen Suizid. Wo genau liegt da jetzt der Unterschied? Die Kinder willigen doch auch nicht ein?


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