Schadensersatzklage im sogenannten "Dieselfall"(BGH, 25.05.2020 - VI ZR 252/19): examensrelevante Rechtsprechung | Jurafuchs


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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration zur Schadensersatzklage im sogenannten "Dieselfall"(BGH, 25.05.2020 - VI ZR 252/19): K erwirbt 2014 einen VW Sharan von einem Gebrauchtwagenhändler. Der Sharan ist mit einer illegalen Abschalteinrichtung ausgestattet.
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Diesel-Abgasskandal

K erwirbt 2014 einen VW Sharan von einem Gebrauchtwagenhändler. Der Sharan ist mit einer illegalen Abschalteinrichtung ausgestattet, durch die das Kraftfahrt-Bundesamt über den Schadstoffausstoß getäuscht werden sollte, um Kosten zu sparen. Nach Aufdeckung des Dieselskandals lässt K das Softwareupdate durchführen und fordert VW zur Erstattung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Rückgabe des Autos auf.

Einordnung des Falls

Der sog. „Dieselskandal“ setzte im ganzen Bundesgebiet eine wahre Klageflut gegen den Autohersteller VW in Gang. Hintergrund der Klagen war der Umstand, dass VW in zahlreichen Dieselfahrzeugen illegale Abschalteinrichtungen verbaut hatte, die über den tatsächlichen Umfang des Schadstofausstoßes hinwegtäuschen sollten. In der vorliegenden Entscheidung äußerte sich der BGH erstmalig zu den Ansprüchen der Käufer. Dabei stellte er klar, dass es sich bei der Verwendung der Manipulationssoftware um eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Käufer handele. Hierdurch war endlich höchstrichterlich geklärt, dass den Käufern nicht nur Mängelgewährleistungsansprüche gegen die Verkäufer zustehen, sondern auch ein deliktischer Schadensersatzanspruch (§ 826 BGB) direkt gegen den Hersteller VW.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat K gegen VW einen Schadensersatzanspruch, wenn VW ihn sittenwidrig geschädigt hat (§ 826 BGB)?

Ja!

Zwischen K und VW besteht kein Vertragsverhältnis, da K das Auto bei einem Dritten, dem Gebrauchtwarenhändler gekauft hat. Somit kommen vertragliche Ansprüche nicht in Betracht. Möglich ist aber ein Anspruch aus § 826 BGB. Dieser Anspruch hat folgende Voraussetzungen: (1) Sittenwidriges Verhalten von VW, (2) kausaler Schaden bei K, (3) Schädigungsvorsatz. Zu prüfen ist also, ob VW sittenwidrig gehandelt und dadurch den K geschädigt hat.

2. Reicht es für die Feststellung der Sittenwidrigkeit aus, dass VW das Kraftfahrt-Bundesamt bewusst getäuscht hat?

Nein, das ist nicht der Fall!

Sittenwidrig ist nach der Rechtsprechung ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dabei reicht es nicht aus, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft; es muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der Gesinnung oder den Folgen ergeben kann. BGH: Die Verwerflichkeit könne sich aus der bewussten Täuschung ergeben. Bei mittelbaren Schädigungen komme es aber darauf an, dass VW, gerade in Bezug auf die Schäden des K sittenwidrig gehandelt hat (RdNr. 15).

3. Ist das Verhalten von VW im Verhältnis zu K als "sittenwidrig" (§ 826 BGB) zu beurteilen?

Ja, in der Tat!

Das Verhalten des Schädigers muss gerade im Verhältnis zum Geschädigten objektiv sittenwidrig sein. BGH: VW habe - an sich nicht verwerflich - zur Erhöhung des eigenen Gewinns gehandelt. Dieses Ziel werde verwerflich, wenn es auf Grundlage einer strategischen Unternehmensentscheidung durch arglistige Täuschung des Kraftfahrt-Bundesamts erreicht werden soll. Das Verhalten von VW zeige eine gleichgültige Gesinnung hinsichtlich einer möglichen Stilllegung des Autos durch das Kraftfahrt-Bundesamt. VW habe die auf technischem Unwissen beruhende Arglosigkeit des K ausgenutzt und gegenüber den einzelnen Käufern von VW-Fahrzeugen eine rücksichtslose Gesinnung gezeigt (RdNr. 16ff.).

4. Hat K nur dann einen Schaden erlitten, wenn der Sharan wegen der illegalen Abschalteinrichtung objektiv weniger wert ist als der Kaufpreis?

Nein!

Das Vorliegen und die Höhe des Schadens lassen sich regelmäßig mit der Differenzhypothese ermitteln, d.h. mit einem Vergleich der tatsächlichen Lage infolge des schädigenden Ereignisses und der hypothethischen Lage ohne das schädigende Ereignis. Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Schaden aber auch in dem Abschluss eines Vertrags bestehen, den der Geschädigte ohne das sittenwidrige Verhalten nicht abgeschlossen hätte. K kann daher auch bei objektiver Werthaltigkeit von Leistung und Gegenleistung einen Vermögensschaden erleiden, wenn die Leistung für seine Zwecke nicht voll brauchbar ist (RdNr. 45ff.).

5. Stellt der Abschluss des Kaufvertrags für K einen Schaden dar?

Genau, so ist das!

Bei einer Schädigung nach § 826 BGB dient der Schadensersatzanspruch nicht nur dem Ausgleich einer nachteiligen Vermögenslage des Geschädigten. K muss sich auch von einer auf dem sittenwidrigen Verhalten beruhenden Belastung mit einer ungewollten Verpflichtung wieder befreien können. BGH: Diese Belastung stelle einen Schaden im Sinne von § 826 BGB dar. K sei eine ungewollte Verpflichtung eingegangen. Denn er hätte schon nach allgemeiner Lebenserfahrung das Auto bei Kenntnis von der Abschalteinrichtung nicht gekauft. Wegen des Risikos einer Stilllegung sei das Auto im Zeitpunkt des Erwerbs für K nicht voll brauchbar gewesen (RdNr. 47ff.).

6. Lässt as nachträglich durchgeführte Softwareupdate den Schaden des K entfallen?

Nein, das trifft nicht zu!

Bei der Schadensberechnung sind grundsätzlich auch alle nachträglichen adäquaten Folgen des haftungsbegründenden Umstands in die Schadensberechnung einzubeziehen. BGH: Die führe aber nicht zu einer Verringerung oder einem Entfallen des Schadens. § 826 BGB schütze auch die allgemeine Handlungsfreiheit und das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht. Der diese Rechte verletzende ungewollte Vertragsschluss werde durch das Softwareupdate nicht rückwirkend zu einem gewollten Vertragsschluss (RdNr. 47, 58).

7. Muss sich K den erhaltenen Vorteil - die Nutzung des Autos - auf den Schadensersatz anrechnen lassen?

Ja!

Nach ständiger Rechtsprechung sind dem Geschädigten diejenigen Vorteile zuzurechnen, die ihm in adäquatem Zusammenhang mit dem Schadensereignis zugeflossen sind. BGH: Diese Grundsätze gelten auch für einen Anspruch aus § 826 BGB. Dabei seien die tatsächlich durch K aus der Nutzung des Autos gezogenen Vorteile zu berücksichtigen. Diese lägen darin, dass K das Fahrzeug genutzt hat (RdNr. 66, 81f.). K muss sich also für die gefahrenen Kilometer einen Nutzungsvorteil auf seinen Schadensersatzanspruch anrechnen lassen.

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EL

Elisabeth

25.6.2020, 17:17:06

Super Sache, dass ihr wichtige, aktuelle Fälle so schnell veröffentlich; Danke dafür!

Christian Leupold-Wendling

Christian Leupold-Wendling

25.6.2020, 19:32:29

Vielen Dank, für das Lob! 😍 Das gebe ich gern weiter an Wendelin, unseren Chefredakteur. Lieben Gruß

Melih Melo Oz

Melih Melo Oz

26.7.2020, 11:57:36

Hallo liebes Team erstmal vielen Dank für den brandaktuellen Fall tolle Arbeit! 🙏 Ich würde gerne wissen ob es denn auch möglich wäre, fallartige Lösungen mit einzubauen zB hier jetzt bei der Anrechnung der Nutzungsvorteile nach welchen Normen würde das hier geprüft werden und wie wäre der Aufbau? Vielen Dank

EL

Elisabeth

4.9.2020, 18:30:53

Hi, habe mich dasselbe gefragt ;) Laut der Pressemitteilung finden sie Grundsätze zum Vorteilsausgleich Anwendung. D.h da es an einem Lex specialis fehlt, welcher die Nutzungen ersetzen würde, aber der umAutokäufer die Vorteile der jahrelangen Nutzung hatte, muss man da eine wertende Betrachtung vornehmen. Da dieser Vorteilsausgleich aber so extrem schwammig und ich schätze Fallgruppenabhängig, fällt mir kein wertendes Kriterium ein, an dem man es festmachen könnte? Der BGH hat es aber wohl so gesehen....

CAR

Carl

13.12.2020, 00:34:23

Die Nutzung wird über die gefahrenen km im Verhältnis zur Gesamtlaufzeit berechnet.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

20.7.2021, 15:27:22

Hallo zusammen, vielen Dank zunächst einmal für eure Frage! Die "Grundsätze zum Vorteilsausgleich" beruhen auf den zwei schadensrechtlichen Grundrinzipien. Nämlich dem Grundsatz, dass der Geschädigte zwar einerseits vollumfänglich für seinen Schaden kompensiert wird (Grundsatz der Totalreparation), andererseits aber keine Überkompensation erfolgen soll (sog. Bereicherungsverbot). Andocken kann man die Prüfung des Vorteilsausgleichs u.a. bei § 249 Abs. 1 BGB, wenn man vergleicht, wie der Geschädigte ohne das schädigende Ereignis gestanden hätte (dann hätte er nämlich weder Nachteile noch Vorteile erlangt) und wie er danach steht oder auch bei § 254 Abs. 2 S. 1 BGB. Dabei ist nun allerdings zu beachten, dass der Vorteilsausgleich nur dann durchzuführen ist, wenn ein adäquater Kausalzusammenhang zwischen Schaden und Vorteil sowie Kongruenz (=Übereinstimmung) besteht. Die Anrechnung des Vorteils muss außerdem dem Zweck des Schadensersatzes entsprechen, d.h. den Geschädigten nicht unzumutbar belasten und den Schädiger nicht unbillig begünstigen. Im Hinblick auf die Frage, in welchen Fällen nun ein Vermögensvorteil anzurechnen ist, haben sich in der Tat verschiedene Fallgruppen herausgebildet. Ihr findet hierzu in unseren Lektionen zum Schadensrecht/Begrenzungen/Schadensmilderungen verschiede Beispielsfälle. Im konkreten Fall hatte der Kläger geltend gemacht, dass eine Anrechnung zu unterbleiben habe, u.a. da dadurch die Präventionswirkung des Deliktsrechts unterlaufen würde und die Beklagte unangemessen entlastet würde. Dieser Argumentation hatte der BGH aber bereits in einem anderen Verfahren (NJW 2020, 1962) eine Absage erteilt. Er führte insoweit aus, dass das Deliktsrecht zwar durchaus präventive Wirkung habe. Anders als in den USA gibt es in Deutschland keine sog. "punitive damages" (Strafschaden). Ohne die Vorteilsanrechnung würde nach Auffassung des BGH der deliktische Schadensersatz in den Diesel-Fällen aber zu nahe an einen solchen Strafschaden heranreichen. Auch im übrigen sah er keine Gründe hier die Vorteilsanrechnung zu verweigern (BGH, NJW 2020, 1962 Rn. 64 ff.). Im Hinblick auf die konkrete Bereechnung hat der BGH versucht, diese möglichst simpel zu halten. Maßgeblich ist hier wie Carl schon richtig eingewendet hat, maßgeblich das Verhältnis zwischen gefahrender Strecke und erwarteter gesamtlaufzeit: Nutzungsvorteil = (Bruttokaufpreis x gefahrene Strecke (seit Erwerb)) / erwartete Restlaufleistung im Erwerbszeitpunkt Als Beispiel: Der Wagen wird für 15.000€ brutto erworben. Die Gesamtlaufleistung beträgt 300.000 km. Der Kläger ist bereits 100.000km gefahren. Nutzungsvorteil = (100.000km x 15.000 €) / 300.000 km = 5.000 € Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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