Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs (§ 40 Abs. 1 S. 1 VwGO): Aussagen eines Politikers


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

Oberbürgermeister O ist Politiker der P-Partei. Während einer Wahlkampfrede vor dem Rathaus, auf der er als "Oberbürgermeister" begrüßt wird, preist er seine Amtsführung und ruft zum Boykott seiner Gegner auf. Die oppositionelle G-Partei will sich das nicht bieten lassen und klagt.

Einordnung des Falls

Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs (§ 40 Abs. 1 S. 1 VwGO): Aussagen eines Politikers

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Für die Streitigkeit gibt es eine aufdrängende Sonderzuweisung zum Verwaltungsrechtsweg.

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Nein!

Aufdrängende Sonderzuweisungen haben Vorrang vor der Generalklausel des § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO. Für die Streitigkeit über Äußerungen von Politikern gibt es keine aufdrängenden Sonderzuweisungen. Es kommt also auf die Voraussetzungen des § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO an. Aufdrängende Sonderzuweisungen gibt es z.B. für Streitigkeiten aus öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnissen: § 126 Abs. 1 BBG bzw. § 54 Abs. 1 BeamtStG für Beamte (des Bundes bzw. des Landes), § 46 DRiG für Richter. Liegt keine aufdrängende Sonderzuweisung vor, genügt die Feststellung: "Aufdrängende Sonderzuweisungen sind nicht ersichtlich."

2. Äußerungen von Politikern sind stets öffentlich-rechtlich.

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Nein, das ist nicht der Fall!

Bei Äußerungen und Informationshandeln von Behörden bzw. Amtsträgern sind die streitentscheidenden Normen oft nicht erkennbar. In diesem Fall ist eine Streitigkeit öffentlich-rechtlich (§ 40 Abs. 1 S. 1 VwGO), wenn die Äußerung im Zusammenhang der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe erfolgt (sog. Akzessorietätstheorie). Äußerungen von Amtsträgern, die inhaltlich öffentliche Aufgaben betreffen, sind in aller Regel öffentlich-rechtlich.

3. Os Auftritt und seine Äußerungen erfolgten hier in seiner Eigenschaft als Mitglied der P-Partei. Die Äußerung ist als privatrechtlich zu qualifizieren.

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Ja, in der Tat!

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt es bei der Frage, ob ein Amtsträger öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich agiert, maßgeblich darauf an, ob er amtliche Autorität nutzt oder Rückgriff auf amtliche Ressourcen nimmt. Für einen Amtsbezug sprechen z.B. offizielle Publikationen auf der Internetseite, die ihm aufgrund des Amtes zur Verfügung steht, die Verwendung von Staatssymbolen oder die Nutzung der Amtsräume. Kein Amtsbezug liege z.B. bei Parteiveranstaltungen oder „Veranstaltungen des allgemeinen politischen Diskurses“ (Talkrunden, Interviews) vor. Bei der Wahlkampfrede handelt es sich ersichtlich um eine Parteiveranstaltung. Allein der Umstand, dass O als Oberbürgermeister begrüßt wird, ändert daran nichts, denn staatliche Funktionsträger dürfen die Amtsbezeichnung auch in außerdienstlichen Zusammenhängen führen. Auch der räumliche Bezug zum Rathaus ist unschädlich, da der Platz kein spezifischer Amtsraum ist, sondern auch von anderen Personen genutzt werden kann. Der Verwaltungsrechtsweg ist somit nicht eröffnet. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich mit der Äußerungsbefugnis von Amtsträgern in den letzten Jahren vermehrt beschäftigt [siehe hierzu: Schwesig (BVerfG, NVwZ 2015, 209); Wanka (BVerfG, NJW 2018, 928); Seehofer (BVerfG, NJW 2020, 2096)], Merkel (BVerfG, Urt. v. 15. Juni 2022 - 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20)].

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TJ

Tr(u)mpeltier junior

28.11.2020, 10:21:38

Angesichts der neueren Rechtsprechung des BVerfG im Fall Seehofer, müsste man diesen Fall mE ggfs updaten und zu dem Schluss kommen, dass allein die Begrüßung mit der amtsbezeichnung und die räumliche Nähe zum Rathaus nicht genügen, sofern nicht auch öffentliche Mittel eingesetzt werden. Hier einige Kriterien, die das BVerfG zur Abgrenzung nennt: Für ein Handeln als Regierungsmitglied sprechen offizielle Publikationen, Pressemitteilungen, Veröffentlichungen auf der Internetseite des Ministeriums, die Verwendung von Staatssymbolen oder die Nutzung der Amtsräume. Das gilt auch, wenn Sach- und Finanzmittel eingesetzt werden, die an das Regierungsamt gebunden sind oder wenn ein Bundesminister sich im Rahmen einer Regierungsveranstaltung äußert.

TJ

Tr(u)mpeltier junior

28.11.2020, 10:22:02

Anders ist es dagegen bei Parteiveranstaltungen, Talkrunden und Interviews. Dabei schadet es nichts, dass dabei in aller Regel auch die Amtsbezeichnung genannt wird. Auch wenn die dpa ihr Interview etwa als "Interview mit Bundesinnenminister Horst Seehofer" bezeichnet, kann Seehofer sich darin sowohl als Minister als auch als Parteipolitiker - und ggf. als Privatmann - äußern.

TJ

Tr(u)mpeltier junior

28.11.2020, 10:22:58

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Urt. v. 09.06.2020, Az. 2BvE 1/19

TeamRahad 🧞

TeamRahad 🧞

26.12.2020, 09:46:36

@Tr(u)mpeltier junior, daran habe ich auch gedacht und finde deine Ausführungen auf den ersten Blick überzeugend. Ob das Ruthig in Kopp/Schenke auch so sieht, bleibt abzuwarten. Nachdem die aktuelle 26. Auflage das Urteil wohl zeitlich noch nicht berücksichtigen konnte, deckt sich die angegebene Fundstelle von 2017 inhaltlich mit der aktuellen 🤷

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

22.7.2021, 17:12:13

Hallo zusammen, wir haben den Fall nun im Hinblick auf das Urteil des BVerfG noch einmal überarbeitet. Tatsächlich dürften in der vorliegenden Konstellation nicht genügend Anhaltspunkte für eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vorliegen, da eben keinerlei spezifischen Amtsmittel genutzt wurden (anders zB bei dem Aufruf des ehemaligen Düsseldorfer Bürgermeisters Thomas Geisel im Hinblick auf die Aktion "Lichter aus - Düsseldorf setzt ein Zeichen gegen Intoleranz", die auf der Internetseite: www.duesseldorf.de veröffentlicht worden war, vgl. BVerwG, NVwZ 2018, 433). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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