Verfolger-Fall

13. Februar 2025

15 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

M1 und M2 flüchten nach einem versuchten gemeinschaftlichen Diebstahl. Da M1 den hinter ihm laufenden M2 für einen Verfolger hält, schießt er mit Tötungsvorsatz auf ihn. Er trifft M2 in den Oberarm. Vorher hatten M1 und M2 verabredet, notfalls Verfolger zu erschießen, um ihre Entdeckung zu verhindern.

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Einordnung des Falls

Verfolger-Fall

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. M1 und M2 haben sich wegen versuchten Diebstahls mit Waffen in Mittäterschaft nach §§ 242, 244 Abs. 1 Nr. 1a, 25 Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht (1. Tatkomplex).

Ja, in der Tat!

Ausweislich des Sachverhalts liegt ein versuchter gemeinschaftlicher Diebstahl vor (§§ 242, 25 Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 StGB). M1 und M2 hatten zuvor verabredet, notfalls etwaige Verfolger zu erschießen. Deshalb muss ihnen bewusst gewesen sein, dass sie Waffen bei sich führten (§ 244 Abs. 1 Nr. 1a Var. 1 StGB). Somit sind M1 und M2 strafbar wegen versuchten Diebstahls mit Waffen in Mittäterschaft (§§ 242, 244 Abs. 1 Nr. 1a, 25 Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 StGB). Insbesondere sind keine Anhaltspunkte für einen Rücktritt ersichtlich (§ 24 Abs. 2 StGB).
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2. M1 hat sich wegen versuchten Totschlags nach §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht, indem er auf M2 schoss (2. Tatkomplex).

Ja!

M2 hat überlebt. Der Versuch des Totschlags ist strafbar. M1 müsste Tatentschluss besessen haben. Er hatte Tötungsvorsatz, dachte aber, auf einen Verfolger - und nicht auf M2 - zu schießen. Da sein Vorsatz sich bei der Schussabgabe bereits auf das getroffene Ziel konkretisiert hatte, ist die Zielverfehlung Ausfluss einer Identitätsverwechslung. Ein solcher error in persona lässt bei Gleichwertigkeit der Objekte den Vorsatz nicht entfallen. Mithin ist der vorliegende Irrtum unbeachtlich. M1 besaß Tatentschluss. In der Schussabgabe ist das unmittelbare Ansetzen zu sehen. M1 handelte rechtswidrig und schuldhaft. Er ist strafbar wegen versuchten Totschlags.

3. M1 hat sich wegen versuchten Mordes nach §§ 211, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht, indem er auf M2 schoss (2. Tatkomplex).

Genau, so ist das!

Die Tat könnte sich als Mordversuch darstellen. In Betracht kommt das subjektive Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht. Hierfür ist erforderlich, dass es dem Täter darauf ankommt, durch die Tötung entweder die Aufdeckung der Vortat in einem die Strafverfolgung sicherstellenden Umfang oder die Aufdeckung seiner Täterschaft zu verbergen.M1 schoss auf den vermeintlichen Verfolger, um unerkannt zu entkommen, um also seine Identifizierung als Mittäter des versuchten Diebstahls mit Waffen zu verhindern. Damit stellt sich die Tat als Mordversuch dar.Aus Klarstellungsgründen steht § 224 Abs. 1 Nr. 2, 5 StGB zum Mordversuch in Tateinheit (§ 52 StGB).

4. M2 hat sich wegen gemeinschaftlichen Mordversuchs (§§ 211, 25 Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 StGB) an sich selbst strafbar gemacht, wenn ihm der Schuss des M1 zugerechnet werden kann (2. Tatkomplex).

Ja, in der Tat!

Dann müsste M2 Tatentschluss besessen haben, also Vorsatz bezüglich der gemeinschaftlichen Tötung eines Menschen. Dafür müssten die Voraussetzungen der Mittäterschaft vorliegen.Diese setzt eine gemeinsame Tatausführung mit wesentlichen Tatbeiträgen sowie einen Entschluss zur gemeinsamen, arbeitsteilig auf vergleichbarer Augenhöhe begangenen Tat voraus.Da M1 und M2 vorher verabredet hatten, notfalls Verfolger zu erschießen, liegt ein gemeinsamer Tatplan vor. Dieser war im Zeitpunkt der Tatbegehung auch nicht aufgehoben worden. Auch hatte er Verdeckungsabsicht. Fraglich ist indes, ob M2 nach dem Tatplan die Stellung eines Mittäters innehaben sollte.

5. Auf Grundlage der Tatherrschaftslehre und der gemäßigt subjektiven Theorie hatte M2 Tatentschluss zu der Tötung eines anderen Menschen in Mittäterschaft.

Ja!

Nach der materiell-objektiven Theorie setzt Täterschaft die Tatherrschaft voraus, also das steuernde In-den-Händen-halten des Geschehens, so dass der Beteiligte die Tatbestandserfüllung fördern, hemmen oder unterbinden kann.Der Tatplan sah vor, dass möglicherweise nur einer schießen würde, um die Flucht beider zu garantieren. Insofern lässt sich unter dem Gesichtspunkt des alternativen Zusammenwirkens die Tatherrschaft bejahen. Nach der gemäßigt subjektiven Theorie folgt schon aus der Tatherrschaft ein Indiz für den Täterwillen des M2. Bestätigt wird dies durch sein persönliches Interesse, einer drohenden Festnahme zu entgehen (a.A. vertretbar).

6. Nach dem BGH und der h.L. ist der error in persona eines Mittäters grundsätzlich auch für den anderen Mittäter unbeachtlich.

Genau, so ist das!

M1 hat aufgrund einer Personenverwechslung nicht auf einen Verfolger, sondern auf M2 geschossen. Fraglich ist, ob diese Handlung noch vom gemeinsamen Tatplan umfasst war. Selbst wenn man mit der h.M. annimmt, dass der error in persona eines Mittäters auch für die übrigen Mittäter grundsätzlich unbeachtlich ist, ergibt sich hier die Besonderheit, dass das angegriffene Rechtsgut dem M2 selbst gehört. Dieses ist ihm gegenüber jedoch nicht geschützt, so dass M2 sein Leben nicht in strafbarer Weise angreifen kann. Deshalb wird im Schrifttum vielfach die Ansicht vertreten, dass niemand Täter eines Mordversuchs an sich selbst sein könne. Der Schuss sei daher für M2 ein Exzess.

7. Nach Ansicht des BGH und Teilen der Lit. ist der error in persona eines Mittäters selbst dann für den anderen Mittäter unbeachtlich, wenn er selbst Opfer der Tat geworden ist.

Ja, in der Tat!

Nach dem BGH kommt es darauf an, dass der im gemeinsamen Tatplan enthaltene Mordvorsatz des M2 sich durch die ihm zuzurechnende Tatausführung durch M1 an einem „anderen" auswirken sollte. M1 hat sich subjektiv im Rahmen des gemeinsamen Tatplans gehalten. Insofern sei sein Handeln auch kein Exzess. Da in §§ 212, 211 nur die Tötung eines anderen Menschen unter Strafe gestellt ist, handele es sich bloß um einen untauglichen Versuch. Einer Strafbarkeit stehe also nicht entgegen, dass das Rechtsgut des eigenen Lebens gegenüber dem Täter selbst nicht geschützt ist. Denn beim untauglichen Versuch stelle die Verletzung der Rechtsordnung an sich bereits eine Gefahr dar.

8. Auf Grundlage der herrschenden Gesamtlösung hat M2 unmittelbar zur Tat angesetzt.

Ja!

Nach der Gesamtlösung treten alle Mittäter in das Versuchsstadium ein, sobald einer von ihnen zur Tatbegehung unmittelbar ansetzt. Das gelte unabhängig davon, ob einzelne ihren Tatbeitrag schon im Vorbereitungsstadium erbracht haben oder ihn nach dem Tatplan erst im letzten Stadium der Deliktsverwirklichung erbringen sollen.Somit hat auch M2 - mit dem unmittelbaren Ansetzen des M1 - das Versuchsstadium erreicht. Rechtswidrigkeit und Schuld sind gegeben. Da auch kein Rücktritt vorliegt, ist er strafbar wegen Mordversuchs in Mittäterschaft. Die versuchte gefährliche Körperverletzung in Mittäterschaft tritt dahinter zurück.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

OK

Okolyt

10.9.2022, 19:02:36

Super Fall, kam bei mir im schriftlichen Examen so vor 😊

Nora Mommsen

Nora Mommsen

12.9.2022, 12:41:32

Hallo Okolyt, danke für die Rückmeldung. Magst du uns verraten, in welchem Bundesland du geschrieben hast? Dann können wir das entsprechend taggen :) Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

OK

Okolyt

12.9.2022, 13:59:03

In Niedersachsen 😊

HannaHaas

HannaHaas

24.6.2023, 18:32:32

Hallo, erstmal vielen Dank für den tollen Fall! ich hätte nur eine Verständnisfrage bezüglich der versuchten gefährlichen Körperverletzung in Mittäterschaft, die am Ende hinter dem Mordversuch in Mittäterschaft zurücktritt. Warum spricht man hier nur von einer "versuchten" gefährlichen Körperverletzung, der Taterfolg ist doch eingetreten oder übersehe ich etwas anderes? LG😊

lennart20

lennart20

25.6.2023, 21:03:10

Hallo Rébecca, Es ist zwar richtig, dass M2 tatsächlich durch den Schuss des M1 an der Gesundheit geschädigt und körperlich misshandelt wurde; indes ist zu berücksichtigen, dass die jeweiligen Tatbeiträge der Mittäter über § 25 II StGB sich gegenseitig zugerechnet werden. Würde man den Körperverletzungserfolg dem M2 über § 25 II StGB zurechnen, würde man zu dem vom Wortlaut des § 223 I StGB nicht gedeckten Ergebnis kommen, dass M2 sich der Körperverletzung nach § 223 I StGB

schuld

ig gemacht hat. Der Schutzbereich des § 223 I StGB umfasst jedoch nicht die Verletzung an sich selbst, sondern lediglich Verletzungserfolge an einer anderen Person („Wer eine andere Person… (§ 223 I Hs.1 StGB)“). Daraus folgt, dass für M2 lediglich wegen eines untauglichen Versuchs strafbar sein kann. Wenn Dir noch weitere Fragen zu dem Fall kommen, empfehle ich die Ausführung im Rengier, § 44 Rn. 33, 12. Auflage.

lexspecialia

lexspecialia

21.1.2025, 11:31:43

Aber M1 wäre schon wegen vollendet Körperverletzung an M2 strafbar oder ?

G0d0fMischief

G0d0fMischief

7.10.2024, 13:22:43

Wie lässt sich vorliegend die Tatherrschaft des M2 begründen? M1 hat ja den Schuss abgegeben. Ich finde es vorliegend in einer Verfolgersituation schwer zu sagen, dass M2 den M1 von einer Schussabgabe hätte abhalten können. Aber vielleicht steh ich auch grad auf dem Schlauch. Nach Ansicht der Rspr. liegen ja die VSS für eine Mittäterschaft vor.

Cosmonaut

Cosmonaut

7.1.2025, 13:21:39

@[G0d0fMischief](217996) Da wir uns in der Versuchsprüfung befinden, müsste der M2

Tatentschluss

zu einer gemeinschaftlichen Tatbegehung gehabt haben (um in seiner Vorstellung eine Zurechnung nach § 25 II StGB begründen zu können). I. Einen gemeinsamen Tatplan hatte sich M2 vorgestellt (à la „Jo M2, wenn wir verfolgt werden, schießt mind. einer von uns den Verfolger platt“) II. Vorstellung hinsichtlich der Leistung eines gewichtigen Tatbeitrags Problematisch ist, ob der B in seiner Vorstellung einen gewichtigen Tatbeitrag geleistet hat. 1. Subjektiver Ansatz (BGH) - Mitwirkungshandl. könne auch geistige Ertüchtigung des Genossen sein; Billigung d. Schusses auf sich selbst nicht notw., da Sinnesänderungen des M1 nur nach den Vss. des § 24 II erheblich. 2. Objektiver Ansatz Andere berufen sich auf objektive Gesichtspunkte und stellen auf die Tatherrschaftslehre ab, allerdings auf unterschiedliche Weise. Nach Teilen der Literatur liegt Tatherrschaft über die gemeinsame Flucht nur dann vor, wenn die Mittäter kumulativ zusammenwirken; eine alternative Verwirklichung reiche nicht aus. Mittäterschaft sei vor allem dann zu verneinen, wenn der Beteiligte die maßgebliche Entscheidung über das „Ob“ der Tat dem anderen Tatbeteiligten anheimstellt. B hatte sich hier nicht vorgestellt, dass alle beide einen Beitrag zur Unschädlichmachung des Verfolgers leisten, sondern der Tatplan war darauf gerichtet, dass jeder von ihnen ohne Mitwirkung ggf. den Verfolger ausschaltet. Nach dieser Ansicht hätte der B hier seiner Vorstellung nach also selbst schießen müssen, um Tatherrschaft zu erlangen. Die Gegenansicht hält es für ausreichend, dass ex-ante die Möglichkeit besteht, dass es auf den verabredeten Tatbeitrag des beschossenen Mittäters hätte ankommen können. Da B sich ebenso wie A vorstellte, eine Situation könnte eintreten, in der sie verfolgt würden, hielten beide es im Vorhinein für möglich, dass es auf ihren Tatbeitrag ankommen könnte. Nach dieser Ausformung der Tatherrschaftslehre wäre also

Tatentschluss

gegeben. Gegen erstere spricht, dass die Zurechnung von Tatbeiträgen gerade dem Wesen der Mittäterschaft entspricht. Wäre stets ein kumulatives Zusammenwirken erforderlich, würde der Anwendungsbereich von § 25 II StGB erheblich eingeschränkt. Vielmehr müsste ein funktionales Verständnis der Mittäterschaft ausschlaggebend sein, wonach auch eine gewichtige Tatbeteiligung im Vorhinein ausreicht, hier in Gestalt des unbeschränkten Tatplans, auf etwaige Verfolger zu schießen. Dagegen könnte aber zumindest eingewandt werden, dass B im Moment des Schusses auf sich selbst die Tatherrschaft verloren hat. Nach hier vertretener Ansicht ist sowohl mit dem subjektiven Ansatz als auch mit der weiteren Tatherrschaftslehre von einem gewichtigen Tatbeitrag auszugehen (a.A. vertretbar).

G0d0fMischief

G0d0fMischief

7.10.2024, 13:22:43

Wie lässt sich vorliegend die Tatherrschaft des M2 begründen? M1 hat ja den Schuss abgegeben. Ich finde es vorliegend in einer Verfolgersituation schwer zu sagen, dass M2 den M1 von einer Schussabgabe hätte abhalten können. Aber vielleicht steh ich auch grad auf dem Schlauch. Nach Ansicht der Rspr. liegen ja die VSS für eine Mittäterschaft vor.

lexspecialia

lexspecialia

21.1.2025, 10:52:04

Hallo Leute, ich tue mich manchmal schwer eben solche kombinationen aus Versuch und Mittäterschat zu prüfen, da ich nicht weiss welche elemente von der Mittäterschaft im Versuchsaufbau einzubauen sind. Daher wollte ich mal fragen, ob mein Aufbau den ich mir denke stimmen würde: A. Strafbarkeit M1 & M2 §§ 242, 244 I Nr.1a , 25 II , 22 ,23 StGB O. Vorprüfung -> keine

Vollendung

I.TB 1. subjektiver TB a)

Tatentschluss

->

Vorsatz

bzgl. sämtlicher obj. TB-Merkmale (f.b.s.,

Wegnahme

,

Gewahrsamsbruch

) ->

Vorsatz

bzgl. subj. Merkmale (zusätzlich) -> Absicht zueignen und aneignen ->

Vorsatz

bzgl mittäterschaftliche Begehung : gemeinsamer Tatplan von M1 & M2 ( ALSO hier der Einbau von Mittäterschaft ? ) b)

unmittelbares Ansetzen

-> Einzellösung vs. Gesamtlösung II. RW III.

Schuld

wäre das so richtig ? würde mich sehr gern über ergänzungen freuen :)


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