Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Entscheidungen von 2020
Verbot der Vollverschleierung für Schülerin im Unterricht
Verbot der Vollverschleierung für Schülerin im Unterricht
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Muslimin M ist Mutter der 16-jährigen T und hat für T das alleinige Sorgerecht. Die Behörde fordert M – unter formell rechtmäßiger Anordnung der sofortigen Vollziehung – auf, dafür zu sorgen, dass T ohne Vollverschleierung zum Unterricht erscheint. M begehrt Eilrechtsschutz.
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Einordnung des Falls
Verbot der Vollverschleierung für Schülerin im Unterricht
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 18 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Statthafte Antragsart ist hier ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO).
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. Der Antrag der M ist begründet, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass das Aussetzungsinteresse der M das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.
Ja, in der Tat!
3. Bei einer summarischen Prüfung werden Sachverhaltsfragen umfassend geprüft, Rechtsfragen jedoch nicht abschließend geklärt.
Nein!
4. Rechtsgrundlage für die Anordnung gegen M ist § 41 Abs. 1 S. 1 Hamburgisches Schulgesetz (HmbSG).
Genau, so ist das!
5. Der Tatbestand des § 41 Abs. 1 S. 1 HmbSG ist hier erfüllt, denn mit einer Vollverschleierung (sog. Niqab) kann T nicht am Unterricht "teilnehmen".
Nein, das trifft nicht zu!
6. Im Übrigen kann die Anordnung auch rechtswidrig sein, weil eine inhaltsgleiche Anordnung nicht gegenüber T ergehen dürfte. Dann besteht auch keine Mitwirkungspflicht der M (§ 41 Abs. 1 S. 1 HmbSG).
Ja!
7. Die Grundrechte sind auf T während des Schulbesuchs nicht anwendbar, da sie dabei in einem besonderen Näheverhältnis zum Staat steht (vgl. § 28 Abs. 1 HmbSG).
Nein, das ist nicht der Fall!
8. Die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) schützt auch die Freiheit, den Glauben nach außen zu bekunden und sein Verhalten daran auszurichten.
Ja, in der Tat!
9. Eine bestimmte Verhaltensweise ist nur dann von der Glaubensfreiheit erfasst, wenn sie in der jeweiligen Glaubensgemeinschaft weit verbreitet ist.
Nein!
10. Das Tragen einer Vollverschleierung ist von der Glaubensfreiheit der T (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) umfasst.
Genau, so ist das!
11. Ein Verbot, den Niqab zu tragen, ist ein Eingriff in die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) der T.
Ja, in der Tat!
12. Die Rechtfertigung eines Eingriffs in das vorbehaltlos gewährleiste Grundrecht der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) scheidet von vornherein aus.
Nein!
13. Auch ein Eingriff in ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht setzt stets eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage voraus.
Genau, so ist das!
14. Nach der Wesentlichkeitstheorie müssen besonders grundrechtsrelevante Maßnahmen vom parlamentarischen Gesetzgeber selbst getroffen werden.
Ja, in der Tat!
15. Aus dem Vorbehalt des Gesetzes folgt auch, dass Eingriffe in vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte einer hinreichend bestimmten, nicht generalklauselartigen Rechtsgrundlage bedürfen.
Ja!
16. Ein Niqab-Verbot im Unterricht bedarf nach dem Vorbehalt des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) einer hinreichend bestimmten, spezialgesetzlichen Rechtsgrundlage.
Genau, so ist das!
17. Die Anordnung der Schulbehörde gegenüber M ist nach Ansicht des OVG rechtswidrig.
Ja, in der Tat!
18. In Deutschland bestehen bereits in einigen Bereichen gesetzliche Gesichtsverhüllungsverbote, z.B. für Richter.
Ja!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Eda
16.6.2020, 12:14:58
Meiner Meinung nach ist dennoch die Teilnahme der T beeinträchtigt, da sie so von jemand anderem, der vollverschleiert ist nicht mehr zu unterscheiden wäre. Somit müsste jemand jeden Tag, wenn sie zur Schule kommt kontrollieren, ob es sie unter dem Niqab ist, um die regelmäßige Teilnahme am Unterricht zu gewährleisten. Dies wäre dann auch eine erhebliche Beeinträchtigung Ihrer Religionsfreiheit, da sie den Niqab, den Sie nicht ausziehen darf, mindestens einmal am Tag ausziehen müsste.
Trowa Barton
11.4.2021, 21:18:40
Die Übrigeb pesonenspezifischen Merkmale wie Stimme, Augen und Statur würde dir da nicht reichen? Alleine wären mir diese zu wenig, aber in der Summe sollten die schon ausreichen.
Marc-Randolph
18.5.2021, 09:39:49
Geschwister sehen sich häufig ähnlich, Täuschungsversuche in Klassenarbeiten ist Klausuren sind mit nicht auszuschließen. Ich finde es auch problematisch mit Vollverschleierung im Unterricht. Auf der anderen Seite natürlich auch problematisch es zu verbieten. Ich persönlich meine aber, das es auch eine Verpflichtung gibt sicherzustellen, dass die richtige Person beschult wird und ihre Leistung erbringt. Ob das über ein generelles Verbot oder auf eine weniger intensive Weise wie kurze Kontrollen geschehen kann vermag ich nicht zu beurteilen.
Trowa Barton
18.5.2021, 09:52:30
So ähnlich wirst bei einer Vollverschleierung erst bei zwillingen. Immerhin musst du die Stimme, Körpergröße, Figur und Augen dabei immitieren. Ich durchaus zweifel daran, dass diese Merkmale nicht ausreichen würden, um eine Person für den Unterricht zu identifizieren. Wenn du noch einen Schritt weiter gehen willst: Die meisten Mainstream Mobiltelefone haben einen Fingerabdruckscanner. Lass diese Person ihr Smarphone entsperren und du hast eine weiteres leicht zu überp?üfendes Merkmal.
Lukas_Mengestu
22.7.2021, 17:30:43
Hallo zusammen, in der Tat eine sehr spannende Diskussion, bei der das letzte Wort sicher nicht gesprochen ist. Es handelte sich vorliegend ja um eine Eilentscheidung des OVG, in der es selbst klarstellt, dass nur "nach dem Erkenntnisstand des vorliegenden Eilrechtsschutzverfahrens" eine Teilnahme als möglich erscheine. Hier ist also durchaus noch Spielraum für eine anderslautende Bewertung. Inwieweit die "erkennungsdienstliche Erfassung" über Fingerabdrücke verhältnismäßig ist, lässt sich in diesem Zusammenhang sicher auch noch kontrovers diskutieren :D. Jedenfalls aber solange der Hamburger Senat keine entsprechende
Ermächtigungsgrundlageschafft, dürfte ein Ausschluss weiterhin rechtswidrig bleiben. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Dua
24.8.2021, 09:43:19
Puhh, das mit Geschwistern kann schon schwierig sein. Ich erinnere mich daran, dass eine Klassenkammeradin, damals 16, für eine Schulaufgaben ihre 25jährige Schwester in dir Schule geschickt hat. Die beiden sahen trotz des Altersunterschieds aus wie eineiige Zwillinge. Der L
ehrer hat es nicht gemerkt. Was mir bei dem Them auffällt, ist, dass die Schulbesuchspflicht (auch) mit dem Erziehungsauftrag des Staates begründet wird. Die Schüler sollen dabei in der schulischen Gemeinschaft sozialisiert werden. Dieser Zweck wird aber vermutlich erheblich erschwert, wenn sich SchülerInnen das Gesicht bis auf die Augen verdecken. Das zeigt sich derzeit auch an der Maskenpflicht, wobei da natürlich auch Abstandsregeln dazukommen. Es ist daher aus meiner Sicht grds. geeignet, erforderlich und verhältnismäßig, zu diesem Zweck eine Vollverschleierung zu untersagen. Andererseits muss man sich dann fragen, ob man betroffene Schülerinnen bzw. deren Eltern damit nicht zu einem vorzeitigen Abgang von einer Regelschule animiert (Hauptschulabschluss statt Abi). Auch damit würde der Zweck der Sozialisierung verfehlt werden.
Melanie 🐝
12.9.2021, 12:25:27
Immerhin ist es interessant hier in den Kommentaren zu lesen, was die Gegenargumente wären, auch um das im Rahmen einer Klausur besser darstellen zu können
Trowa Barton
12.9.2021, 13:50:49
Zumindest die Sachverhalte, die man mir im öffentlichen Recht vorgesetzt hat, enthielten solche Hinweise immer. Es bedarf natürlich etwas Erfindungsgeist sie zu erkennen, aber am Ende sind es ja doch die Grundgedanken der Verfassung, welche da die Argumentation tragen sollen. Insofern vielleicht nett zu lesen um die andere Seite mal gehört zu haben, aber hat am Ende keine wirklichen juristischen Mehrwert in meinen Augen.
Dua
24.8.2021, 09:26:36
Ich wollte nur anmerken, dass ich mich gerade schlapp gelacht habe, als im Rahmen des Falls, der den Schulunterricht betrifft, auf den Strafgefangenen-Beschluss verwiesen wurde. Das vergesse ich jetzt nie wieder, so geht effektives Lernen! Danke :D
Wendelin Neubert
24.8.2021, 17:57:16
Hallo Dua, ja, wie schön, dass das Lernen mit Jurafuchs auch zu so viel Freude führt! 😊 Nur zur Klarstellung: In der Strafgefangegenen-Entscheidung stellt das BVerfG klar, dass die Grundrechte auch in sog. besonderen Gewaltverhältnissen - Strafanstalt, Schule (!), Militär etc. - gelten. Deshalb der Verweis auf die Entscheidung! 🙂 Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team
Dua
24.8.2021, 19:32:38
Genau, das wurde auch bei einer Erklärung der Aufgaben von euch so dargestellt :) der juristische Vergleich von Schule und Gefängnis ist jedenfalls sehr amüsant :D
Der Paragraf
9.2.2022, 17:50:05
Zu Frage 2: m.E. ist - umgekehrt - der Antrag bereits dann begründet, wenn das Vollzugsinteresse das Aussetzungsinteresse NICHT überwiegt (Arg. Regel-Ausnahme-Verhältnis § 80 II VwGO)
Lukas_Mengestu
10.2.2022, 19:09:37
Hallo Der Paragraf, das Regel-Ausnahme-Verhältnis des § 80 II VwGO wird innerhalb der Prüfung der Interessenabwägung berücksichtigt. Das Aussetzungsinteresse überwiegt nur dann, wenn der Verwaltungsakt OFFENSICHTLICH rechtmäßig ist und ein besonderes Vollzugsinteresse. Ist dagegen der VA offensichtlich rechtswidrig oder fehlt es am Vollzugsinteresse, so ist der Antrag begründet. Kann dagegen weder festgestellt werden, dass der VA offensichtlich rechtmäßig bzw. offensichtlich rechtswidrig ist, nimmt das Verwaltungsgericht eine Folgenabschätzung vor. Das Vollzugsinteresse überwiegt dann bereits, wenn die Folgen des Vollzuges für den Antragssteller schwerer sind, als die Folgen des Nichtvollzuges. Insofern kann letztlich immer ein Überwiegen festgestellt werden. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Lukas_Mengestu
10.2.2022, 19:10:55
*immer ein Überwiegen des Aussetzungsinteresses oder des Vollzugsinteresses festgestellt werden.
lisi99
26.5.2022, 10:47:05
Hallo, inwiefern kann das Erziehungsrecht der Mutter als kollidierendes Verfassungsrecht in Betracht kommen? Die Mutter vertritt ihre Tochter und scheint das Verbot ebenfalls als unrichtig auszufassen? Oder war das eher allgemein bezogen darauf, dass Eltern allgemein anderer Auffassung als die Kinder sein können, so dass dann Art. 6 II GG zu berücksichtigen ist?
Nora Mommsen
21.6.2022, 10:40:10
Hallo lisi99, das Erziehungsrecht der Eltern kann als kollidierendes Verfassungsrecht in Betracht kommen, als dass es die Freiheit der Erziehung im Sinne der wertebezogenen Sorge für die seelisch-geistige Entwicklung des Kindes umfasst. Insbesondere ist dadurch auch die die religiöse und weltanschauliche Erziehung umfasst, also wie und in welcher Form das Kind den Glauben lernt und lebt. (BeckOK GG/Uhle GG Art. 6 Rn. 51 ff.). Das kann mitunter auch bedeuten, dass sie anderer Auffassung sind als die Kinder - aber in diesem Fall auch, dass sie nicht nur die Glaubensfreiheit des Kindes vorbringen kann sondern auch das eigene Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Sultan43
5.6.2022, 13:55:50
Hallo,wie ihr sieht mussten wir alle in der Pandemie einen Niqap tragen. Und es gab keine Probleme in der Schule wegen der Erkennung 🙃
Philipp Paasch
10.10.2022, 23:58:43
Ich würde fast behaupten, als Sultan müsstest du dich besser mit islamischen Bekleidungsvorschriften auskennen. ^^
Johannes Nebe
25.10.2022, 07:43:36
In der Erklärung zu Aufgabe 14 schreibt Ihr, dass die Einschränkung eines Grundrechtes eines Parlamentgesetzes bedarf und nicht nur einer Entscheidung der Schulverwaltung. Ich fände hier den Begriff Rechtsverordnung hilfreich. Denn die Verwaltung kann ja sowohl eine
Allgemeinverfügungerlassen, als auch kann sie ggf. durch Gesetz zu einer Rechtsverordnung ermächtigt sein.
Lukas_Mengestu
25.10.2022, 09:49:02
Hallo Johannes, vielen Dank für Deinen Hinweis. Hier stehe ich allerdings wohl etwas auf dem Schlauch. In der Tat stehen der Verwaltung verschiedene Handlungsformen zur Verfügung. Im konkreten Fall hat sich die
Behördesich für einen (konkret-individuellen) Verwaltungsakt entschieden, was neben dem Erlass einer (konkret-generellen)
Allgemeinverfügungbzw. einer (abstrakt-generellen) Rechtsverordnung ein weiteres Handlungsinstrument ist. Den Begriff Entscheidung haben wir hier gewählt, da dieser alle drei Handlungsformen umfasst. An welcher Stelle würdest Du hier denn Rechtsverordnung ergänzen wollen? Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Johannes Nebe
25.10.2022, 10:01:25
Hallo Lukas, ich verstehe es so, dass eine Grundrechtseinschränkung nur durch ein Parlamentsgesetz (formelles Gesetz), nicht durch eine Rechtsverordnung (
materielles Gesetz) getroffen werden darf. Dann darf die Einschränkung erst recht nicht der "Entscheidungsmacht der Schulverwaltung" per
Allgemeinverfügungoder Verwaltungsakt überlassen werden. Die Formulierung traf für meinen Geschmack daher nicht den Punkt. Vielleicht war ich aber auch zu kleinlich.