Unterlaufen des Koinzidenzprinzips? Zeitpunkt der Erfüllung von Mordmerkmalen - Jurafuchs


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: A und B planen den Tod des in einer Lagerhalle gefesselten Opfers O1.
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A und B planen, Menschen in eine Halle zu locken, sie um ihr Geld zu erpressen und dann zu töten. Sie locken nacheinander O1 und O2 in eine Lagerhalle, fesseln sie und nehmen beiden ihr mitgeführtes Bargeld ab. Danach erdrosseln sie sie und werfen sie in ein Gebüsch.

Einordnung des Falls

Grundsätzlich müssen Mordmerkmale zum Zeitpunkt der Tatbegehung vorliegen (Koinzidenzprinzip). In diesem Beschluss bestätigt der BGH seine Vorverlagerungsrechtsprechung und erweitert sie auf Fälle, in denen das Opfer vor der Tötung in eine hilflose Position gebracht wird und diese günstige Gelegenheit bis zur Tötung fortwirkt. Das Mordmerkmal der Heimtücke kann demnach auch bereits vor der Tötungshandlung verwirklicht sein. Zudem stellt der BGH klar, dass es zur Erfüllung des Mordmerkmals der Verdeckungsabsicht bei zweiaktigen Geschehen genügt, dass die Tötungsabsicht bereits vor der Begehung der zu verdeckenden Tat gefasst war.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Haben A und B sich wegen gemeinschaftlichen Totschlags in zwei Fällen strafbar gemacht (§§ 212 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB)?

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Genau, so ist das!

Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird gemäß § 212 Abs. 1 BGB wegen Totschlags bestraft. Begehen mehrere die Straftat gemeinschaftlich, so wird gemäß § 25 Abs. 2 StGB jeder als Täter bestraft. A und B haben gemeinschaftlich sowohl O1 als auch O2 getötet und damit den objektiven Tatbestand erfüllt. Dies taten sie auch vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft. Der Tatbestand des Totschlags bezeichnet den „Normalfall“ der vorsätzlichen Tötung. § 212 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB liegen hier unproblematisch vor. Solltest Du so einen Fall in der Klausur haben, gewinnst Du nichts durch langwierige Obersatzbildung, Definitionen und Subsumtion. Auch wenn Du Dich davor fürchtest: Wenn Du einen offensichtlich gegebenen Tatbestand einfach knapp abhandelst, zeigst Du Souveränität. Keine Sorge, in der Klausur wird es noch genug andere Probleme geben!

2. Ist Mörder, wer einen anderen Menschen tötet und dabei mindestens eines von neun Mordmerkmalen erfüllt (§ 211 Abs. 2 StGB)?

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Ja, in der Tat!

Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet (§ 211 Abs. 2 StGB). Die neun Mordmerkmale des § 211 Abs. 2 StGB werden unterschiedlich systematisiert: Teilweise werden sie in mehrere Gruppen mit einzelnen Varianten aufgeteilt, teilweise auch die einzelnen Mordmerkmale als Varianten durchnummeriert. Welcher Systematik und Zitierweise Du in der Klausur folgst, ist unerheblich. Entscheidend ist, dass Du erkennbar machst, welches Merkmal du prüfst.

3. Tötet Heimtückisch, wer die auf Arglosigkeit beruhende Wehrlosigkeit seines Opfers ausnutzt (§ 211 Abs. 2 Gruppe 2 Var. 1 StGB)?

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Ja!

Heimtücke meint das bewusste Ausnutzen der auf Arglosigkeit beruhenden Wehrlosigkeit des Opfers in feindlicher Willensrichtung. Arglos ist, wer sich zum Zeitpunkt der Tat eines Angriffs von Seiten des Täters nicht versieht. Wehrlosigkeit ist gegeben, wenn dem Opfer die natürliche Abwehrbereitschaft und -fähigkeit fehlt oder stark eingeschränkt ist. Teile der Literatur fordern darüber hinaus noch einen besonders verwerflichen Vertrauensbruch des Täters zum Opfer. Mehr dazu in unserem systematischen Kurs zum Mord.

4. Waren O1 und O2 im Zeitpunkt der Tötung arglos?

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Nein, das ist nicht der Fall!

Arglos ist, wer sich zum Zeitpunkt der Tat eines Angriffs von Seiten des Täters nicht versieht. BGH: Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Arglosigkeit ist der Zeitpunkt, in dem der Täter erstmals mit Tötungsvorsatz unmittelbar zur Tötung ansetzt. Beim Eintritt der Tat in das Versuchsstadium muss das Opfer arglos gewesen sein. A und B haben noch nicht unmittelbar zur Tötung angesetzt, als sie die O1 und O2 in die Lagerhalle lockten. Denn nach dem Tatplan waren jeweils weitere Zwischenakte zu tatbestandsfremden Zwecken (Raub, Erpressung) vorgesehen. Beim Anlocken fehlte der erforderliche enge räumliche und situative Zusammenhang zu dem Tötungsgeschehen. In dem Zeitpunkt, als sich der die Tat unmittelbar ausführende Angeklagte O1 und O2 annäherte, um sie zu erdrosseln, waren O1 und O2 aufgrund der vorangegangenen gegen sie angewandten Gewalt nicht mehr arglos (RdNr. 12).

5. Haben A und B ihre Opfer nach Ansicht des BGH dennoch heimtückisch getötet (§ 211 Abs. 2 Gr. 2 Var. 1 StGB)?

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Ja, in der Tat!

BGH: Bei einer geplanten Tat könne die Heimtücke auch in den listigen Vorkehrungen liegen, die der Täter mit trifft, um eine Tötungsgelegenheit zu schaffen, wenn sie bei der Tötung fortwirken. Wird das Opfer mit Tötungsvorsatz in eine Falle gelockt, die zu einer Unterlegenheit des Opfers im Zeitpunkt der Tötung führt, komme es daher nicht mehr darauf an, ob es zu Beginn der Tötungshandlung noch arglos ist. Es reiche aus, dass der Täter das zuerst arglose Opfer in eine wehrlose Lage bringt und zu diesem Zeitpunkt schon Tötungsvorsatz hat. Dies verhindere eine ungerechtfertigte Einengung des Anwendungsbereichs der Heimtücke. O1 und O2 waren infolge ihrer ursprünglichen Arglosigkeit wehrlos, weil sie in ihren Abwehrmöglichkeiten fortdauernd so eingeschränkt waren, dass sie sich nicht mehr verteidigen konnten (RdNr. 13). Die wohl h.L. folgt dem BGH. Andere Teile sehen diese Vorverlagerung des für die Arglosigkeit maßgeblichen Zeitpunkts kritisch und lösen entsprechende Fälle u.U. über § 212 Abs. 2 StGB (besonders schwerer Fall des Totschlags). Wieder andere Teile befürworten eine noch weiterreichende Vorverlagerung.

6. Können A und B ihre Opfer auch zur Verdeckung einer anderen Straftat getötet haben (§ 211 Abs. 2 Gr. 3 Alt. 2 StGB)?

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Ja!

BGH: Einen Verdeckungsmord im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB begeht, wer tötet, um dadurch eine vorangegangene Straftat als solche oder auch Spuren zu verdecken, die bei einer näheren Untersuchung Aufschluss über bedeutsame Tatumstände, insbesondere zur Täterschaft, geben könnten. Du musst immer alle Mordmerkmale prüfen, die nach dem Klausursachverhalt in Betracht kommen. Dies ist gerade mit Blick auf die u.U. fehlende Tragfähigkeit eines Mordmerkmals entscheidend, um Dein Ergebnis insgesamt zu „halten“.

7. A und B hatten die spätere Tötung ihrer Opfer im Zeitpunkt der Begehung der zu verdeckenden Tat bereits geplant. Scheidet ein Verdeckungsmord (§ 211 Abs. 2 Gr. 3 Alt. 2 StGB) daher aus?

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Nein, das ist nicht der Fall!

BGH: Dass die spätere Tötung im Zeitpunkt der Begehung der zu verdeckenden Tat bereits geplant war, steht der Annahme eines Verdeckungsmordes (§ 211 Abs. 2 Gr. 3 Alt. 2 StGB) nicht entgegen, wenn es sich bei der zu verdeckenden Vortat und der Tötung um ein zweiaktiges Geschehen handelt (RdNr. 18). BGH: A und B planten jeweils zweiaktige Geschehen (Beuteerlangung und Tötung). Die Tathandlungen der Grunddelikte - die verdeckt werden sollten - waren nicht auf Tötung gerichtet und im Zeitpunkt des Beginns der Tötungshandlungen bereits vollendet (RdNr. 19). § 211 Abs. 2 Gr. 3 Alt. 2 StGB ist daher erfüllt. Keine Verdeckungsabsicht (§ 211 Abs. 2 Gr. 3 Alt. 2 StGB) liegt vor, wenn der Täter nur diejenige Tat verdecken will, die er gerade begeht, etwa wenn er einen bereits aus anderen Motiven begonnenen Tötungsversuch nun auch aus Angst vor Strafverfolgung fortsetzt. In diesem Fall macht allein die im Fortgang der Tatausführung hinzutretende Verdeckungsabsicht die davor begangenen Einzelakte nicht zu einer anderen Tat.

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