Zivilrecht

BGB Allgemeiner Teil

Abgabe und Zugang von Willenserklärungen

Für den Zugang verkörperter Erklärungen unter Anwesenden ist die tatsächliche Kenntnisnahme nicht erforderlich

Für den Zugang verkörperter Erklärungen unter Anwesenden ist die tatsächliche Kenntnisnahme nicht erforderlich

21. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A möchte S kündigen. In der Mittagspause überlässt er ihr die Kündigung zum Durchlesen. S hätte zwar genug Zeit, sie zu lesen. Sie verbringt die Pause aber lieber mit dem Rauchen einiger Zigaretten und liest sie nicht. Nach Pausenende nimmt A das Schreiben wieder an sich.

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Einordnung des Falls

Für den Zugang verkörperter Erklärungen unter Anwesenden ist die tatsächliche Kenntnisnahme nicht erforderlich

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 1 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Kündigung an S ist wirksam geworden, als A sie S zum Durchlesen überlassen hat.

Ja, in der Tat!

Für das Wirksamwerden empfangsbedürftiger WE gegenüber Anwesenden gilt § 130 Abs. 1 S. 1 BGB analog. Abgabe und Zugang liegen vor, wenn die Erklärung dem Adressaten willentlich übergeben wird. Mit Erlangung der tatsächlichen Verfügungsgewalt gelangt sie so in den Machtbereich des Empfängers, dass er von ihr Kenntnis nehmen kann und unter normalen Umständen mit Kenntnisnahme zu rechnen ist. Nicht erforderlich ist, dass der Empfänger dauerhaft Verfügungsgewalt erlangt. Es genügt, dass er in die Lage gebracht worden ist, vom Inhalt Kenntnis zu nehmen.Indem A der S die Erklärung während der Pause zum Durchlesen überlassen hat, hatte S genug Zeit, vom Inhalt Kenntnis zu nehmen. Die Kündigung ist wirksam.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Praetor

Praetor

4.3.2020, 23:25:30

Bei einer angestellten Kettenraucherin sollte dem Chef klar sein, dass in der Pause nicht mit einer Kenntnisnahme zu rechnen ist. Lebensnah ausgelegt...

Marilena

Marilena

5.3.2020, 10:56:12

Hallo Praetor, vielen Dank für den Hinweis! Interessant, dass Du das so siehst. Ich denke, man kann trotz Rauchens in der Pause Kenntnis nehmen. Es geht sogar beides gleichzeitig. Für den Zugang genügt, dass die Erklärung in den Bereich des Empfängers gelangt und dieser die Möglichkeit hat, von ihr Kenntnis zu nehmen. Wenn S trotz bestehender Möglichkeit keine Kenntnis nimmt, geht das zu ihren Lasten. (RdNr. 23 des BAG-Urteils).

Praetor

Praetor

5.3.2020, 11:01:20

Danke für die Aufklärung! :)

CH

Christopher

25.5.2020, 01:04:42

Naja, wie so häufig wohl gut anders vertretbar: wenn der chef mir in der Pause irgendein wisch gibt, ohne zu sagen, was es ist, nur mit dem Hinweis, ich soll es mir durchlesen, darf er und die Verkehrsauffassung m.E. nicht damit rechnen, dass sein Arbeitnehmer während dessen (wohlverdienten) Pause Arbeit verrichtet( dazu gehört das lesen von beruflichen Dokumenten). Das ändert sich meiner Meinung mach auch dann nicht, wenn der chef ausdrücklich sagt, der AN solle es noch in der Pause lesen. Pause ist Pause. Nur im Fall dass es keine feste vorgegebene Pause war, sondern eine "gleitzeitpause" könnte man dies vllt ueberwiegend anders sehen. Bei Interessenabwägung ist nichts ersichtlich, dass dafür spricht, dass das Interesse des Chefs an einer extrem zügigen Kenntnisnahme über wiegen soll..

BL

Blotgrim

8.3.2024, 09:47:54

Ich sehe das anders da es da es vergleichbar ist mit der Krankheit. Eigentlich kann man mir nicht zumuten ein Schreiben zu lesen wenn ich 40 Grad Fieber habe, für den Zugang ist das aber egal, da ich unter normalen Umständen Kenntnis nehmen kann und Möglichkeiten schaffen muss auch im Krankheitsfall Erklärunen zu erhalten. Hier ist das ähnlich, es ist vielleicht nicht nett von mir zu verlangen den Zettel zu lesen aber ich habe die Möglichkeit. Außerdem ist es meiner Meinung nach zumutbar den Zettel kurz zu überfliegen um zu sehen worum es geht, das dauert ja keine halbe Stunde und dann sieht man ja dass es eine Kündigung ist.

Gerald von Trivia

Gerald von Trivia

10.3.2021, 12:46:12

Ich kann gar nicht glauben, dass ich mich selbst mittlerweile dabei ertappe. Aber ich gebe der Meinung mehr und mehr recht, dass wir immer noch zu viel „Schubladedenken“ in den SV tut Gesicht bekommen. Immer die Sekretärin, Krankenschwester usw die vom männlichen Arbeitgeber gekündigt o.ä. wird. Ich weiß wie diese Meinung einige Leute hier nerven wird, ging mir auch so. Aber tatsächlich kommt das noch zu oft vor in Lehrbüchern, Unifällen und sogar hier.

Marilena

Marilena

10.3.2021, 14:00:49

Hi Gerald von Trivia, danke für Deinen Kommentar! Uns nervst Du damit nicht und wir geben Dir völlig recht. Es gibt dazu auch eine interessante Studie der Uni Hamburg mit erschreckenden Ergebnissen. https://www.jura.uni-hamburg.de/media/ueber-die-fakultaet/gremien-und-beauftragte/broschuere-gleichstellung.pdf Wir haben seit vier Monaten in unseren best practices für unsere Mitarbeiter:innen den Hinweis aufgenommen, darauf zu achten, dass auch genügend Frauen in den Jurafuchs-Fällen vorkommen und eben auch nicht mehr vorwiegend in der Rolle von Sekretärinnen und Krankenschwestern. Wir haben auch dazu aufgerufen, gerne gender trouble einzusetzen, also Chefin und Sekretär (zum Beispiel). Diese Aufgabe hier ist schon drei Jahre alt. Wir werden nach und nach auch alte Aufgaben anpassen.

Marilena

Marilena

10.3.2021, 14:03:10

Unser Fokus ist zumindest zum jetzigen Zeitpunkt aber darauf gerichtet, all unsere Kräfte in die Erstellung neuer, weiterer Fälle zu investieren, in denen Frauen auch nicht mehr unterrepräsentiert werden. In den neuen Fällen zum Gesellschaftsrecht beispielsweise kommen sehr oft Frauen vor. Danke für Deine Mithilfe unsere Aufgaben zu verbessern! Liebe Grüße Marilena, für das Jurafuchs-Team

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

29.7.2021, 15:25:31

Ist nicht die Pause genau dazu gedacht, NICHT am Arbeitsplatz zu sitzen, sondern unbezahlt das zu tun, was man möchte? Meiner Ansicht nach hatte sie nicht die Möglichkeit Kenntnis zu nehmen, zumal man in der Mittagspause gewöhnlich nicht am Arbeitsplatz isst…

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

9.12.2021, 11:59:48

Vielen Dank für den Hinweis, Nick. Bei unseren Fällen gibt es die Besonderheit, dass auch die Skizzen Teil des Sachverhaltes sind. S hat also durchaus zur Kenntnis genommen, dass sie hier eine Erklärung erhalten hat und diese dann aber nicht näher zur Kenntnis genommen. Dies liegt aber allein in ihrem Verantwortungsbereich (ähnlich, wenn ich meinen Briefkasten nicht leere). Insofern liegt ein Zugang vor. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Elijah

Elijah

27.11.2021, 15:54:39

Als Jura-Anfänger und AN finde ich es lebensfremd, dass diese Kündigung gilt. Wenn ein AG seinen AN loswerden will, besteht i. d. R. kein Vertrauensverhältnis mehr. Einige AG gehen bei ihren Kündigungen skrupellos vor. Ich stelle mir gerade den folgenden möglichen Ablauf vor: 1) Ich verlasse mein Büro, um wie immer meine 45-minütige Pause in einem der umliegenden Restaurants zu verbringen. 2) Mein Chef wartet ab, bis ich mein Büro verlassen habe und legt mir die Kündigung auf den Tisch. 3) Bevor ich zurückk

ehre

, nimmt mein Chef die Kündigung wieder an sich. 4) Ich k

ehre

ins Büro zurück. Wenn dieser Ablauf rechtlich okay ist, macht mir das als AN Angst - obwohl ich selbst Personaler bin.

Marilena

Marilena

27.11.2021, 16:28:30

Hallo Elijah, schön Dich mal wieder hier im Forum zu sehen!🙂 vielen Dank für Deinen interessanten Beitrag. Für Deinen geschilderten Ablauf stimme ich Dir zu. Er unterscheidet sich aber deutlich von unserem Fall hier, der zugegeben etwas lebensfremd erscheint: A hat S das Schreiben nicht heimlich während ihrer Rauchpause hingelegt wieder weggenommen. Das kann man der Illustration sehr deutlich entnehmen. In beiden Szenen sind beide Personen zugegen. S hatte die Möglichkeit, Kenntnis zu nehmen. Ein schönes Wochenende Dir! Liebe Grüße für das Jurafuchs-Team Marilena

Elijah

Elijah

28.11.2021, 17:31:23

Hallo Marilena, danke für deine Rückmeldung. 🙂 Die Illustration zeigt tatsächlich deutlich, dass S anwesend ist, als sie das Schreiben bekommt. Ich hatte die Falllösung allerdings dummerweise so verstanden, dass es grundsätzlich okay ist, die Kündigung auf den Tisch zu legen und wieder mitzunehmen, egal ob der AN an- oder abwesend ist. Es hat sich gezeigt, dass ich genauer hinsehen muss. 😇 LG Elias

JEN

Jenny

12.12.2023, 06:16:58

Wäre der Fall anders zu beurteilen, wenn die Kündigung trotz expliziter Verweigerung übergeben worden wäre? Oder anders gefragt: Argumentiert man auch in diesem Fall mit der WE unter Anwesenden oder geht man schlicht von einer WE unter Abwesenden aus?

MWA

mwally

25.12.2023, 19:46:29

Die Kündigungserklärung wurde in diesem Fall übergeben und hätte zur Kenntnis genommen werden können.


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