Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2021

Vorrang der Leistungsklage auf Schadensersatz und Feststellungsinteresse ("Diesel-Abgasskandal")

Vorrang der Leistungsklage auf Schadensersatz und Feststellungsinteresse ("Diesel-Abgasskandal")

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Assessorexamen
Diesel-Abgasskandal

K hat einen vom Dieselskandal betroffenen VW gekauft. Ein Softwareupdate zur Mangelbehebung lehnt K bisher ab, weil sie Folgeschäden am Fahrzeug befürchtet. Stattdessen klagt K auf Feststellung einer Ersatzpflicht VWs für alle (künftigen) Schäden „aus der Fahrzeugmanipulation“.

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Einordnung des Falls

Vorrang der Leistungsklage auf Schadensersatz und Feststellungsinteresse ("Diesel-Abgasskandal")

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. VW haftet der K dem Grunde nach wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung (§§ 826, 31 BGB). K hat die Wahl zwischen kleinem und großem Schadensersatz.

Ja, in der Tat!

Da § 826 BGB auch die bloße Dispositionsfreiheit schützt, stellt unabhängig vom Wertverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung (Differenzhypothese) ein ungewollter und nach der Verkehrsauffassung objektiv unvernünftiger Vertrag einen normativen Schaden dar („Vertrag als Schaden“) (BGHZ 225, 316 RdNr. 47f.). Dieser ist durch Rückabwicklung des Vertrags (großer Schadensersatz) oder durch Ersatz einer etwaigen Wertminderung der Leistung (kleiner Schadensersatz) zu ersetzen (§ 249 Abs. 1 BGB) (BGH NJW 2021, 3041 RdNr. 16). VW hat K vorsätzlich sittenwidrig geschädigt (§ 826 BGB; vgl. BGHZ 225, 316). Soweit die Abschaltautomatik den Wert ihres Fahrzeugs mindert, kann K Ersatz dieser Wertminderung verlangen (kleiner Schadensersatz). Alternativ kann K den Wagen zurückgeben und sich den Kaufpreis erstatten lassen (großer Schadensersatz). Ein normativer Schaden ist kein Vermögensschaden, sondern ein (Nichtvermögens-) Schaden eigener Art (dualistischer Schadensbegriff, vgl. Grüneberg, in: Grüneberg, BGB, 81.A. 2022, Vor § 249 RdNr. 10, 13f.).
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2. Erst aus der Klagebegründung geht hervor, welche "Fahrzeugmanipulation" K genau meint. Ist ihr Klageantrag trotzdem hinreichend bestimmt (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO)?

Ja!

Die ordnungsgemäße Klageerhebung setzt einen hinreichend bestimmten Klageantrag voraus (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO), der Klarheit über den Streitgegenstand schafft. Ein Antrag auf Schadensersatz muss deshalb das zugrundeliegende Ereignis konkret benennen. Jeder Klageantrag ist einer Auslegung mithilfe der Klagebegründung zugänglich (RdNr. 12). Der Klageantrag benennt die Manipulation als zugrundeliegenden Ereignis nicht konkret, lässt sich aber mithilfe der Klagebegründung auslegen. Über den Streitgegenstand herrscht also hinreichende Klarheit (vgl. RdNr. 13).

3. Die Zulässigkeit einer Feststellungsklage unterliegt besonderen Sachurteilsvoraussetzungen (§ 256 Abs. 1 ZPO).

Genau, so ist das!

Die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Zivilklage untergliedern sich in (1) Echte Prozessvoraussetzungen (ohne diese kommt kein Prozessverhältnis zustande) (2) Sachurteilsvoraussetzungen (Prüfung von Amts wegen) und (3) prozesshindernde Einreden (Prüfung nur auf entsprechende Rüge). Für die Feststellungsklage gelten neben den allgemeinen folgende besondere Sachurteilsvoraussetzungen (§ 256 Abs. 1 ZPO): (1) Feststellungsfähiges Rechtsverhältnis; (2) Feststellungsinteresse. Die allgemeinen Sachurteilvoraussetzungen lassen sich ihrem Betreff nach wiederum kategorisieren in Partei, Gericht und Gegenstand.

4. Die Ersatzpflicht VWs gegenüber K für Schäden aus der Fahrzeugmanipulation (§§ 826, 31 BGB) ist ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis (§ 256 Abs. 1 ZPO).

Ja, in der Tat!

Ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis ist jede bestimmte, aus dem Vorbringen des Klägers abgeleitete Rechtsbeziehung einer Person zu einer anderen Person oder zu einem Gegenstand, die gegenwärtig ein subjektives Recht verleiht oder hierfür die Grundlage bildet (§ 256 Abs. 1 ZPO). Die Schadensersatzpflicht VWs gegenüber K ist ein gesetzliches Schuldverhältnis (§§ 826, 31 BGB). K kann daraus Rückabwicklung des "Vertrags als Schaden" verlangen, also ein subjektives Recht gegen VW ableiten (vgl. § 194 Abs. 1 BGB). Zugleich bildet das Schuldverhältnis die Grundlage für potentielle weitere Ersatzansprüche der K.

5. Eine Feststellungsklage setzt zudem ein Feststellungsinteresse voraus (§ 256 Abs. 1 ZPO). Vorab: Ist jede Feststellungsklage als unzulässig abzuweisen, wenn es am Feststellungsinteresse fehlt?

Nein!

Grundsätzlich ist jede Klage durch Prozessurteil als unzulässig abzuweisen, wenn es an einer Sachurteilsvoraussetzung fehlt. Ausnahmen gelten hiervon aber für das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis und das Feststellungsinteresse: Wenn eines von ihnen fehlt, die Klage aber "ohnehin" in der Sache abweisungsreif ist, ergeht kein Prozess-, sondern ein abweisendes Sachurteil. Wie gesehen besteht das von K behauptete Rechtsverhältnis, nämlich eine Ersatzpflicht VWs nach §§ 826, 31 BGB. Die Klage ist also in der Sache begründet. Ein Feststellungsinteresse der K ist deshalb nicht ausnahmsweise entbehrlich. Die genannten Ausnahmen durchbrechen zugunsten der Prozessökonomie den Grundsatz des Vorrangs der Zulässigkeit vor der Begründetheit.

6. Ein Feststellungsinteresse der K könnte wegen des Vorrangs der Leistungsklage fehlen: K könnte gehalten sein, statt einer Feststellung der Ersatzpflicht VWs direkt auf deren Erfüllung zu klagen.

Genau, so ist das!

Der Vorrang der Leistungsklage schließt ein Feststellungsinteresse aus, wenn eine Leistungsklage dem Kläger (1) möglich und (2) zumutbar wäre, sein (3) Rechtsschutzziel erschöpft und (4) nicht ausnahmsweise bereits ein Feststellungsurteil zu einer sinnvollen und sachgemäßen Erledigung des Rechtsstreits führen würde (RdNr. 15). Begründung: Die Leistungsklage ist rechtsschutzintensiver, da eine Feststellungsklage keinen vollstreckbaren Titel verschafft. Auch führt die Leistungsklage zu einer Klärung des gesamten Streitstoffs (Grund und Höhe) in einem Prozess, sodass ein Folgeprozess vermieden wird (Prozessökonomie).

7. Die Erhebung einer Leistungsklage wäre der K möglich. Sie könnte einen hinreichend bestimmten Klageantrag auf Schadensersatz stellen.

Ja, in der Tat!

Möglich ist die Erhebung einer Leistungsklage nur, wenn der Kläger einen hinreichend bestimmten Klageantrag stellen kann (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Das Gericht kann die Höhe eines Schadens schätzen (§ 287 Abs. 1 S. 1 ZPO). Hinreichend bestimmt ist eine Leistungsklage auf Schadensersatz deshalb schon dann, wenn der Kläger die Schadenshöhe in das Ermessen des Gerichts stellt, zugleich aber (1) einen Mindestbetrag und (2) die tatsächlichen Grundlagen zur Schadensschätzung angibt (RdNr. 21). Kleinen Schadensersatz könnte K einklagen, indem sie eine ungefähre Wertminderung ihres Fahrzeugs angibt. Großen Schadensersatz könnte K in Höhe des ihr bekannten Kaufpreises abzüglich ungefährer Nutzungsvorteile (Vorteilsausgleichung) einklagen. Die genauen Beträge könnte K in das Ermessen des Gerichts stellen (RdNr. 22).

8. Die Erhebung einer Leistungsklage wäre der K jedoch unzumutbar, da sie bei Klageerhebung noch nicht absehen kann, ob kleiner oder großer Schadensersatz für sie wirtschaftlich günstiger wäre.

Nein!

Kleiner und großer Schadensersatz sind untereinander gleichwertig. Dennoch kann eine Methode wirtschaftlich günstiger sein, als die andere, ohne dass dies im Zeitpunkt der Klageerhebung vorhersehbar wäre. BGH: Dies aber rechtfertige keine Aufspaltung des Rechtsstreits in eine Feststellungsklage über den Grund und eine spätere Leistungsklage über die Höhe der Haftung (RdNr. 18). Ein wirtschaftlicher Unterschied kann sich mit fortschreitendem Zeitablauf zum Beispiel ergeben, wenn die Wertminderung konstant bleibt (kleiner Schadensersatz), während sich der große Schadensersatz um Nutzungsvorteile sukzessive bis auf Null reduziert (vgl. diesen Fall) oder um unvorhergesehene Schadensposten erhöht.

9. Die Erhebung einer Leistungsklage wäre der K unzumutbar, weil wegen möglicher Folgeschäden eines späteren Softwareupdates die Schadensentwicklung noch nicht abgeschlossen ist.

Nein, das ist nicht der Fall!

Ist die Schadensentwicklung noch nicht abgeschlossen, so ist dem Kläger jede Leistungsklage auf Schadensersatz unzumutbar (BGH NJW 2017, 1823 RdNr. 19), sodass er sich in vollem Umfang auf eine Feststellungsklage beschränken darf (RdNr. 28). In den kleinen Schadensersatz wären etwaig drohende Folgeschäden bereits eingepreist. BGH: Ob im Rahmen des großen Schadensersatzes erst später berücksichtigungsfähige Folgeschäden überhaupt drohen, könne dahinstehen. Denn die insoweit ein Feststellungsinteresse begründende Unsicherheit hätte K selbst zu verantworten, indem sie sich die Wahl zwischen kleinem und großem Schadensersatz offenhalte (RdNr. 33).

10. Vorliegend gilt jedoch eine Ausnahme vom Vorrang der Leistungsklage: Bereits ein Feststellungsurteil würde zu einer sinnvollen und sachgemäßen Erledigung des Rechtsstreits führen.

Nein, das trifft nicht zu!

Eine Ausnahme vom Vorrang der Leistungsklage gilt unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie für den Fall, dass bereits ein Feststellungsurteil zu einer sinnvollen und sachgemäßen Erledigung des Rechtsstreits führt. Dies ist anzunehmen bei gesicherter grundsätzlicher Leistungsbereitschaft etwa von Behörden, Banken und Versicherungen. Die von K begehrte Feststellung ließe Art und Höhe des Schadensersatzes völlig ungeklärt. Deshalb würde die begehrte Feststellung den Rechtsstreit selbst bei grundsätzlicher Leistungsbereitschaft VWs nicht sachgemäß erledigen(RdNr. 18).

11. Ks Klage ist mangels Feststellungsinteresses durch Prozessurteil als unzulässig abzuweisen.

Ja!

Der K fehlt ein Feststellungsinteresse. Die Erhebung einer Leistungsklage auf - kleinen oder großen - Schadensersatz wäre ihr möglich, zumutbar und würde ihr Rechtsschutzziel erfüllen. Die positiven Voraussetzungen des Vorrangs der Leistungsklage sind damit erfüllt. Eine Ausnahme vom Vorrang der Leistungsklage ist nicht einschlägig.
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