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Persönlichkeitsrechtsverletzung beim „Online-Shopping

Persönlichkeitsrechtsverletzung beim „Online-Shopping

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

K möchte bei Onlinehändler V Kleidung kaufen. Während des Bestellvorgangs muss K zwischen den Anreden „Herr" und Frau" wählen. K ist non-binär und verklagt V auf Unterlassung und Geldentschädigung. Auf Ks Verlangen hatte V schon vorher die Option „divers/keine Anrede" hinzugefügt.

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Einordnung des Falls

Persönlichkeitsrechtsverletzung beim „Online-Shopping

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. K könnte ein Unterlassungsanspruch gegen V aus § 21 Abs. 1 S. 2 AGG zustehen.

Ja, in der Tat!

Dies setzt voraus: (1) Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot (§§ 3, 19 AGG), (2) Wiederholungsgefahr. Zu (1): (a) Unmittelbare oder mittelbare Benachteiligung aufgrund einer der in § 1 AGG genannten Merkmale (§ 3 Abs. 1, 2 AGG), (b) bei Begründung, Durchführung und Beendigung eines zivilrechtlichen Schuldverhältnisses (§ 19 Abs. 1 Nr. 1, 2 AGG), (c) Keine zulässige unterschiedliche Behandlung (§ 20 AGG). Grundsätzlich entfaltet Art. 3 GG keine unmittelbare Privatrechtswirkung, sondern gilt nur mittelbar über zivilrechtliche Generalklauseln. Jeder kann Verträge schließen, mit wem und warum er will - oder eben nicht. Im Anwendungsbereich des AGG wird dies eingeschränkt.
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2. Indem V verlangt hat, dass K zwischen der Anrede „Frau“ und „Herr“ wählen muss, liegt eine unmittelbare Benachteiligung wegen der sexuellen Identität vor (§§ 19 Abs. 1, 3 Abs. 1, 1 AGG).

Ja!

Dafür müsste eine Person wegen der sexuellen Identität eine weniger günstige Behandlung erfahren, als ein anderer in vergleichbarer Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Für eine weniger günstige Behandlung genügen auch immaterielle Nachteile. Zwar wurde K nicht vom Kleidungskauf bei V ausgegrenzt. Anders als eine Person mit binärem Geschlecht konnte K den Kaufvorgang aber nicht abschließen, ohne eine der eigenen geschlechtlichen Identität nicht entsprechende Angabe („Herr“ oder „Frau“) zu machen. Dies stellt eine unmittelbare Benachteiligung dar.

3. Erfolgte diese Benachteiligung bei Begründung, Durchführung oder Beendigung eines Massengeschäfts (§ 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG)?

Genau, so ist das!

Massengeschäfte sind solche Verträge, die typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen. Die „Begründung“ ist dabei weiter zu verstehen als nur im Sinne der Vertragsanbahnung. Es ist bereits verboten, geschäftliche Kontakte mit Merkmalsträgern von vornherein zu verhindern. Im Online-Handel mit Konsumgütern wie Kleidung schließt V Verträge im Rahmen der Kapazität mit jeder zahlungswilligen und zahlungsfähigen Person ab. Die Anrede musste bei Abschluss des Versandauftrags angegeben werden, und erfolgte damit auch bei Begründung des Schuldverhältnisses.

4. Ein Unterlassungsanspruch könnte K ferner aufgrund einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zustehen (§ 1004 Abs. 1 S. 2 analog, 823 Abs. 1 BGB).

Ja, in der Tat!

§ 1004 Abs. 1 S. 2 BGB ist analog auf die übrigen absoluten Rechte i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB und die sonstigen deliktisch geschützten Rechtsgüter der §§ 823 Abs. 2 ff. BGB anzuwenden (sog. quasi-negatorischer Anspruch). Voraussetzungen sind: (1) Beeinträchtigung eines Rechtsguts i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB, (2) Rechtswidrigkeit (§ 1004 Abs. 2 BGB), (3) Wiederholungsgefahr, (4) Störereigenschaft des Anspruchsgegners. § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog wird nicht allein zitiert, sondern zusammen mit der schutzgewährenden Norm (hier: § 823 Abs. 1 BGB).

5. Hat V das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG) von K beeinträchtigt?

Ja!

Zu den von der Rechtsprechung entwickelten Fallgruppen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zählt auch die geschlechtliche Identität. Die Zuordnung zu (k)einem Geschlecht prägt das Selbstverständnis eines Menschen. Ein Eingriff in diesen Schutzbereich besteht, wenn eine Person nach dem allgemeinen deutschen Sprachgebrauch entgegen ihrem Rollenverständnis angesprochen wird. Die Anreden „Mann“ und „Frau“ beziehen sich nach dem Sprachgebrauch auf das männliche bzw. weibliche Geschlecht. Diese Darstellung zwang K dazu, eine geschlechtsspezifische, mit der non-binären Geschlechtsidentität nicht vereinbare Anredeform zu wählen, sodass eine Rechtsgutsverletzung vorliegt.

6. Im Hinblick auf beide Unterlassungsansprüche (§ 21 Abs. 2 S. 3 AGG und § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog) besteht auch eine Wiederholungsgefahr.

Nein, das ist nicht der Fall!

§ 21 Abs. 2 S. 3 AGG und § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB fordern, dass weitere Beeinträchtigung zu besorgen sind, d.h. die Besorgnis einer erneuten Benachteiligung/Rechtsgutsverletzung besteht. Ein bereits erfolgter rechtswidriger Eingriff indiziert diese Wiederholungsgefahr. V hat den Anredebutton auf Ks Verlangen sofort in eine zulässige Form geändert. Dies zeigt, dass V eine Diskriminierung nicht beabsichtigt hatte. Dass V den Button erneut in eine unzulässige Form ändert, ist nicht zu erwarten. Die Vermutung ist daher widerlegt. Eine Wiederholungsgefahr besteht nicht.

7. K könnte aufgrund der erfolgten Benachteiligung ein Anspruch auf Geldentschädigung zustehen (§§ 21 Abs. 2 S. 3 AGG, 253 Abs. 1 BGB).

Ja, in der Tat!

Voraussetzung des Geldentschädigungsanspruchs ist: (1) Bestehen eines Anspruchs nach § 21 Abs. 1 AGG, (2) Nicht geringfügige Verletzung des Benachteiligungsverbots (ungeschriebene Voraussetzung). Soweit nach deiner Prüfungsordnung zulässig, kommentiere dir daher § 21 Abs. 2 S. 3 AGG neben § 253 Abs. 1 BGB.

8. Für diesen Anspruch (§§ 21 Abs. 2 S. 3 AGG, 253 Abs. 1 BGB) reicht jedwede Beeinträchtigung aus.

Nein!

OLG Karlsruhe: Die europarechtlichen Vorgaben einer wirksamen Prävention könnten nicht nur durch eine lückenlose Sanktionierung aller tatbestandlichen Diskriminierungen gewahrt werden. Da der Betroffene durch Beseitigungs-, Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche stets einen intensitätsunabhängigen Mindestschutz habe, könne für den Entschädigungsanspruch eine nicht nur geringfügige Verletzung des Benachteiligungsverbots gefordert werden. Eine von weiteren Voraussetzungen losgelöste Zuerkennung des Anspruchs wäre nicht damit vereinbar, dass der Ersatz immaterieller Schäden einen Ausnahmefall darstellt (§ 253 Abs. 1 BGB) (RdNr. 44).

9. Die vorliegende Verletzung des Benachteiligungsverbots erreicht die erforderliche Intensitätsschwelle.

Nein, das ist nicht der Fall!

Ob eine nicht nur geringfügige Verletzung vorliegt, ist im Einzelfall anhand der Tragweite der Benachteiligung und den Motiven des Benachteiligenden zu beurteilen. Die Benachteiligung erfolgte nur im privaten Bereich, nicht in der Öffentlichkeit. Zudem war der Zweck der Anredeauswahl nur, eine korrekte Anrede der bestellenden Person während der weiteren Vertragsabwicklung zu ermöglichen. V hatte auch keinen Diskriminierungsvorsatz, wie seine sofortige Bereitschaft zur Anpassung der Bestellmaske zeigt. Damit erreicht die Verletzung nicht die erforderliche Intensität.

10. Ein Geldentschädigungsanspruch käme auch aufgrund der erfolgten Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Betracht (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB).

Ja, in der Tat!

Persönlichkeitsrechtsverletzungen begründen in der Regel nur einen Nichtvermögensschaden, sodass Entschädigung in Geld nur bei gesetzlicher Regelung gewährt wird (§ 253 Abs. 1 BGB). In § 253 Abs. 2 BGB ist das Allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht genannt. Da mangels planwidriger Regelungslücke eine Analogie zu § 253 Abs. 2 BGB ausscheidet, leitet der BGH in verfassungskonformer Reduktion des § 253 Abs. 1 BGB den Geldentschädigungsanspruch unmittelbar aus dem verfassungsrechtlichen Schutzauftrag selbst her (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB).

11. Auch dieser Anspruch scheitert indes daran, dass keine schwerwiegende Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vorliegt.

Ja!

Geldentschädigungsansprüche aufgrund von Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bestehen nur, wenn es sich um einen schwerwiegenden Eingriff handelt und die Beeinträchtigung nicht in anderer Weise befriedigend ausgeglichen werden kann (BGH, NJW 1995, 861). Maßgebend ist die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs, Anlass und Beweggrund des Handelnden sowie der Grad seines Verschuldens. Eine schwerwiegende Verletzung liegt aufgrund der oben genannten Gründe nicht vor. Die Anforderungen sind hier also größer als bei § 21 Abs. 2 S. 3 AGG. Erforderlich ist eine schwerwiegende nicht bloß eine „nicht geringfügige“ Verletzung.
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