Thermofenster – Unionsrechtliche Regeln für Autohersteller sind drittschützend


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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Käufer K kauft bei einem Händler ein Diesel-Kfz der Mercedes AG (M). Später entdeckt K, dass darin eine Software verbaut ist, die in bestimmten Außentemperaturbereichen die Abgasrückführung verringert (sog. Thermofenster). Dies erhöht den Ausstoß von Stickoxiden. K fordert deshalb von M als Herstellerin Schadensersatz.

Einordnung des Falls

Noch 2021 sah es der BGH als offensichtlich („acte claire“) an, dass die europarechtlichen Vorschriften für Autohersteller nur dem Umweltschutz dienen und darüber hinaus keinen Drittschutz gegenüber den Endverbrauchern vermitteln sollten. Auf Vorlage des LG Regensburg setzte sich nunmehr auch der EuGH mit dieser Frage auseinander. Der konkrete Streit betraf illegale Abschalteinrichtungen, die bei niedrigen Temperaturen die Abgasrückführung verringern bzw. gänzlich ausschalten (sog. „Thermofenster“). Im Ergebnis gelangte der EuGH zum Ergebnis, dass die europarechtlichen Vorgaben zumindest auch Individualschutz entfalten. Selbst wenn die Hersteller insofern nicht vorsätzlich und sittenwidrig (§ 826 BGB) gehandelt haben, kommt nunmehr zumindest ein Schadensersatzanspruch der Käufer gegen die Hersteller wegen Schutzpflichtverletzung (§ 823 Abs. 2 BGB iVm den europarechtlichen Vorschriften) in Betracht.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. K könnte ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB gegen M zustehen, wenn der Einbau des Thermofensters gegen ein Schutzgesetz verstößt.

Ja, in der Tat!

Der Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB setzt voraus: (1) den Verstoß gegen ein Schutzgesetz, das den Geschädigten schützen soll, (2) Rechtswidrigkeit, (3) Verschulden hinsichtlich der Schutzgesetzverletzung und (4) einen dem Schädiger zurechenbarer Schaden. Das Verhalten der verantwortlichen Personen (z.B. Vorstand einer AG) wird einer juristischen Person nach § 31 BGB analog zugerechnet (§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 31 BGB analog). Da der Wortlaut des § 31 BGB unmittelbar nur Vereine betrifft, wird die Norm für alle anderen juristischen Personen (z.B. AG und GmbH) und die Personengesellschaften (GbR, OHG u. KG) analog angewandt.

2. Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB sind nur Normen, die ausschließlich Individualinteressen schützen.

Nein!

Ein Schutzgesetz ist eine materielle Rechtsnorm (Art. 2 EGBGB), die nach ihrem Zweck und Inhalt zumindest auch dazu bestimmt ist, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts zu schützen. Unerheblich ist, ob die Norm auch oder sogar überwiegend Rechtsgüter der Allgemeinheit schützt. Ob die Norm individualschützend ist, ist der jeweiligen Norm im Wege der Auslegung zu entnehmen. Anhaltspunkt für einen Individualschutz ist, dass bereits der Tatbestand der Norm private Rechtsgüter oder Interessen einbezieht.Die erste Frage, die das vorlegende LG Ravensburg an den EuGH hatte, betraf die Frage, inwieweit zentrale EU-Richtlinien, die dem Einsatz von Thermofenster entgegenstehen, auch Individualschutz entfalten.

3. Art. 5 Abs. 2 Fahrzeugemissionen-VO iVm Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Typgenehmigungsverfahrens-RL (RL 2007/46/EG) schützen nach Ansicht des EuGH auch Individualinteressen. Sie sind daher Schutzgesetze i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB.

Genau, so ist das!

Der BGH vertrat bislang die Auffassung, dass es offensichtlich sei („acte claire“), dass die genannten Rechtsakte nur eine hohe Verkehrssicherheit und einen hohen Gesundheits- und Umweltschutz sicherstellen und damit nur die Allgemeinheit schützen sollten (BGH, Urt. v. 25.05.2020 - VI ZR 252/19, RdNr. 84 ff.). Das LG Ravensburg hat die Frage nach dem Individualschutz deshalb dem EuGH vorgelegt.EuGH: Zwar diene die Fahrzeugemissionen-VO vordringlich dem Umweltschutz. Vor dem Hintergrund des europäischen Regelungsrahmens zur Genehmigung von Kraftfahrzeugen und insbesondere aus der Verpflichtung des Herstellers, dem Käufer die Übereinstimmung des hergestellten Fahrzeugs mit dem genehmigten Fahrzeugtyp zu bestätigen (Übereinstimmungsbescheinigung), lasse sich aber auch ein Schutz der Einzelinteressen des individuellen Käufers eines Kraftfahrzeugs gegenüber dessen Hersteller herleiten [RdNr. 70ff., 85]. Die europäischen Richtlinienvorgaben zur Übereinstimmungsbescheinigung wurden u.a. in § 6 Abs. 1 Satz 1 EG-FGV und § 27 Abs. 1 Satz 1 EG-FGV in deutsches Recht umgesetzt.

4. Ein Thermofenster kann eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Fahrzeugemissionen-VO sein.

Ja, in der Tat!

Nach dem EuGH stelle ein „Thermofenster“ eine Abschalteinrichtung nach Art. 3 Nr. 10 Fahrzeugemissionen-VO dar, wenn es einen Temperaturbereich erfasse, der bei normalem Fahrbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sei und hierdurch eine Überschreitung der zulässigen Grenzwerte erfolge (vgl. RdNr. 58). Eine solche sei nur zulässig, wenn ein in Art. 5 Abs. 2 Fahrzeugemissionen-VO enumerierter Ausnahmetatbestand greife. Eine Abschalteinrichtung ist danach insbesondere zulässig, wenn sie notwendig ist, um den Motor vor Schäden zu schützen (RdNr. 60). Darauf können sich die Hersteller aber dann nicht berufen, wenn die Abschalteinrichtung zum Schutz des Motors unter normalen Bedingungen den Großteil des Jahres laufen muss. Die Ausnahme würde hierdurch sonst zur Regel. Ein Thermofenster ist in solchen Fällen unzulässig (RdNr. 63ff.).

5. Die Mercedes-AG müsste auch mit Schädigungsvorsatz gehandelt haben.

Nein!

§ 823 Abs. 2 BGB erfordert Verschulden. Dieses muss sich nicht auf den Schaden, sondern auf die Schutzgesetzverletzung beziehen. Der Maßstab des Verschuldens ist abhängig vom jeweiligen Schutzgesetz. Verlangt das Schutzgesetz selbst kein Verschulden, muss mindestens Fahrlässigkeit vorliegen (§§ 823 Abs. 2 S. 2, 276 BGB); diese wird bei Vorliegen des Schutzgesetzverletzung aber vermutet. Da die vorliegenden Schutzgesetze selbst kein Verschulden verlangen, ist für einen Anspruch kein Schädigungsvorsatz nötig. Im Rahmen des § 823 Abs. 2 BGB ist dennoch mindestens Fahrlässigkeit erforderlich. In dieser Hinsicht ist § 823 Abs. 2 BGB vorteilhafter als § 826 BGB, der eine sittenwidrige Schädigung voraussetzt. Einen Schädigungsvorsatz wird man den Herstellern insbesondere im Hinblick auf die unsichere Rechtslage regelmäßig nur schwer nachweisen können.

6. Die Mercedes-AG handelte zumindest fahrlässig, wenn ihr die Unzulässigkeit des Thermofensters beim Einbau hätte bekannt sein müssen.

Genau, so ist das!

Nach § 276 Abs. 2 BGB handelt fahrlässig, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. . Ein Rechtsirrtum entschuldigt dabei nur ausnahmsweise dann, wenn die gebotenen Anstrengungen unternommen wurden, um die Rechtslage zu ermitteln.Trotz Kenntnis vom Einbau der Thermofenster hat nicht einmal das Kraftfahrtbundesamt deren Verwendung beanstandet. Die nationalen Gerichte müssen insofern prüfen, ob die Hersteller eventuell einem unvermeidbarem Irrtum unterlegen sind, der das Verschulden ausschließt.Scheinbar haben viele Hersteller allerdings konkrete Angaben zur konkreten Funktionsweise dem Kraftfahrtbundesamt nicht mitgeteilt (vgl. NJW 2023, 1099 (1101)). Dies könnte einem unvermeidbaren Rechtsirrtum entgegenstehen.

7. Der Schaden besteht nach dem EuGH bereits in dem Abschluss des Kaufvertrags über ein Fahrzeug mit unzulässiger Abschalteinrichtung (=wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht).

Nein, das trifft nicht zu!

Dem Urteil des EuGH ist nicht zu entnehmen, dass die unionsrechtlichen Rechtsakte das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht des Käufers schützen sollen. Ohne Weiteres kann also kein Schaden in Form eines ungewollten Vertrags bejaht werden. Bisher wurde auch die Nutzung von Fahrzeugen mit verbauten Thermofenstern nicht untersagt, sodass ein Fahren und Veräußern generell möglich bleibt. Der Ersatzanspruch könnte sich also höchstens auf den durch das Thermofenster bedingten Minderwert beziehen. Fraglich bleibt aber, ob dieser überhaupt einen messbaren individuellen Nachteil darstellt.Durch ein - noch nicht rechtskräftiges - Urteil des VG Schleswig v. 20.02.2023 droht nun allerdings tatsächlich auch die Nutzungsuntersagung für Autos mit Thermofenster und insofern dann auch ein konkreter Schaden.

8. Aufgrund des EuGH-Urteils müssen die deutschen Gerichte den Käufern von Fahrzeugen mit unzulässigem Thermofenster immer einen Ersatzanspruch zugestehen.

Nein!

Der EuGH hat in seinem Urteil in erster Linie klargestellt, dass die Einzelinteressen des Käufers eines Kraftfahrzeugs gegenüber dessen Hersteller unionsrechtlich geschützt sind. Nationale Gerichte dürften einen Schadensersatzanspruch nicht praktisch unmöglich machen. Der Käufer eines Kfz mit unzulässigem Thermofenster könne Schadensersatz geltend machen, wenn ihm dadurch tatsächlich ein Schaden entstanden ist. Über die genauen Modalitäten eines Schadensersatzanspruchs entscheidet aber nicht der EuGH, sondern die nationalen Gerichte. Dies betrifft insbesondere das Verschulden und das Vorliegen eines konkreten Schadens.Offen gelassen hat der EuGH dabei insbesondere die Frage, inwieweit Nutzungsvorteile bei der Schadensberechnung angerechnet werden dürfen. Insoweit weist er lediglich darauf, dass die Gerichte dafür Sorge tragen müssten, dass eine effektive Durchsetzung des Unionsrechts („effet utile“) gewährleistet bleibt.

9. Infolge des EuGH-Urteil gewährt der BGH Käufern von Dieselfahrzeugen mit unerlaubtem Thermofenster nunmehr die vollständige Rückabwicklung des Kaufvertrags („großer Schadensersatz“).

Genau, so ist das!

Infolge des EuGH Urteils erkennt nunmehr auch der BGH (BGHZ 237, 245) an, dass dem Käufer gegen den Hersteller im Falle eines fahrlässigen Einbaus von Thermofenstern ein Schadensersatzanspruch aus §§ 823 Abs. 2 i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zustehe. Umfangsmäßig begrenzt er allerdings den Anspruch. Der Käufer könne keine vollständige Rückabwicklung verlangen („großer Schadensersatz“). Vielmehr solle die Wertdifferenz zwischen einem Kfz ohne unzulässiges Thermofenster und dem tatsächlich gelieferten KfZ mit eingebautem Thermofenster ersetzt werden (=„Differenzschaden“). Die Höhe des vom Tatrichter zu ermittelnden Schadens müsse infolge unionsrechtlicher Vorgaben mindestens 5% des Kaufpreises betragen (wirksame Sanktionierung), dürfe aus Gründen der Verhältnismäßigkeit aber auch nicht höher als 15% sein (RdNr. 80-82).Trotz der Entscheidungen des EuGH und BGH scheiterten zahlreiche Klagen in der Praxis. Denn viele Oberlandesgerichte entschieden, die Hersteller hätten sich aufgrund der Genehmigung durch das Kraftfahrtbundesamt in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden und damit noch nicht einmal fahrlässig gehandelt.

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nl_wadnphl

nl_wadnphl

15.5.2023, 13:48:06

Wortneuschöpfungen auf einem neuen Niveau!

Rick-energie🦦

Rick-energie🦦

13.7.2023, 10:45:41

Meine These: Beim BGH gibt es eine gesonderte Taskforce, deren alleine Aufgaben Wortneuschöpfungen und das Formulieren von Endlossätze für die Leitsätze sind.

Trierer Weinversteigerer

Trierer Weinversteigerer

22.5.2023, 10:58:35

Differenzhypothesenvertrauensschadensersatz , lieben wir!

Jopies

Jopies

31.5.2023, 13:43:56

Ja, der BGH Senat hat auch schon selber gesagt, dass dieser Name noch nicht so richtig perfekt und griffig ist 😅

Rick-energie🦦

Rick-energie🦦

13.7.2023, 10:48:08

Sofern sich durchsetzt, dass die Betriebserlaubnis durch das KBA entzogen werden könnte/dürfte, läge im Vertragsschluss über ein Fahrzeug, das schwebend illegal ist, dann aber bereits der Schaden - gell? Vorausgesetzt natürlich, dass der Wagen zum Betrieb im dt. Straßenverkehr erworben wurde....

Pilea

Pilea

29.9.2023, 18:58:19

Ist das Urteil nun tatsächlich verkündet, und wenn ja, gibt es Änderungen (siehe letzte Vertiefung)?

kaan00

kaan00

22.12.2023, 00:32:47

Genau - Wie siehts aus?=)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

7.6.2024, 10:31:17

Hi ihr beiden, die Aktualisierung haben wir zwischenzeitlich vorgenommen :-) In aller Kürze: Der BGH erkennt nun zwar auch bei fahrlässigem Verhalten der Hersteller einen Schadensersatzanspruch iHv 5-15% des Kaufpreises (Differenzschaden). In der Praxis entschieden viele OLGs aber, dass noch nicht einmal Fahrlässigkeit vorlag, sodass die Kläger dort wiederum scheiterten (z.B. OLG Bayern = https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/Y-300-Z-BECKRS-B-2023-N-17856?hl=true). Allerdings gibt es hier auch verbraucherfreundlichere Entscheidungen (z.B. OLG Hamm = https://openjur.de/u/2475338.html). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

LEO

Leonq

23.6.2024, 12:52:46

@[Lukas_Mengestu](136780) Die letzte Antwortmöglichkeit müsste doch richtigerweise „Aussage stimmt nicht“ heißen oder? Weil der BGH iRv 823 II (anders als bei 826) gerade keinen großen Schadensersatz gewährt…

HannaHaas

HannaHaas

13.2.2024, 19:26:52

Vllt eine doofe Frage aber die Fahrzeugimmissionen VO sowie die Richtlinien würden für die Klausuren abgedruckt werden oder? :/

HannaHaas

HannaHaas

13.2.2024, 19:27:50

Fahrzeugemissionen*

Mord ist geplant

Mord ist geplant

14.2.2024, 12:33:27

In Prüfungssituationen wird wohl nicht erwartet werden können, dass du dieses Spezialwissen hast. Demnach wird wohl ein Auszug der VO und Richtlinien in der Klausur vorzufinden sein.

HannaHaas

HannaHaas

14.2.2024, 12:34:58

Ich danke dir für deine Antwort!

Bubbles

Bubbles

26.2.2024, 16:25:52

Könntet ihr diese Aufgabe der Vollständigkeit halber zur Diesel-Abgasskandal-Playlist hinzufügen? Dort habt ihr ja bereits die BGH Entscheidung aus 2021.


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