Zivilrecht
Examensrelevante Rechtsprechung ZR
Entscheidungen von 2023
Thermofenster – Unionsrechtliche Regeln für Autohersteller sind drittschützend
Thermofenster – Unionsrechtliche Regeln für Autohersteller sind drittschützend
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Käufer K kauft bei einem Händler ein Diesel-Kfz der Mercedes AG (M). Später entdeckt K, dass darin eine Software verbaut ist, die in bestimmten Außentemperaturbereichen die Abgasrückführung verringert (sog. Thermofenster). Dies erhöht den Ausstoß von Stickoxiden. K fordert deshalb von M als Herstellerin Schadensersatz.
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Einordnung des Falls
Noch 2021 sah es der BGH als offensichtlich („acte claire“) an, dass die europarechtlichen Vorschriften für Autohersteller nur dem Umweltschutz dienen und darüber hinaus keinen Drittschutz gegenüber den Endverbrauchern vermitteln sollten. Auf Vorlage des LG Regensburg setzte sich nunmehr auch der EuGH mit dieser Frage auseinander. Der konkrete Streit betraf illegale Abschalteinrichtungen, die bei niedrigen Temperaturen die Abgasrückführung verringern bzw. gänzlich ausschalten (sog. „Thermofenster“). Im Ergebnis gelangte der EuGH zum Ergebnis, dass die europarechtlichen Vorgaben zumindest auch Individualschutz entfalten. Selbst wenn die Hersteller insofern nicht vorsätzlich und sittenwidrig (§ 826 BGB) gehandelt haben, kommt nunmehr zumindest ein Schadensersatzanspruch der Käufer gegen die Hersteller wegen Schutzpflichtverletzung (§ 823 Abs. 2 BGB iVm den europarechtlichen Vorschriften) in Betracht.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. K könnte ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB gegen M zustehen, wenn der Einbau des Thermofensters gegen ein Schutzgesetz verstößt.
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB sind nur Normen, die ausschließlich Individualinteressen schützen.
Nein!
3. Art. 5 Abs. 2 Fahrzeugemissionen-VO iVm Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Typgenehmigungsverfahrens-RL (RL 2007/46/EG) schützen nach Ansicht des EuGH auch Individualinteressen. Sie sind daher Schutzgesetze i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB.
Genau, so ist das!
4. Ein Thermofenster kann eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Fahrzeugemissionen-VO sein.
Ja, in der Tat!
5. Die Mercedes-AG müsste auch mit Schädigungsvorsatz gehandelt haben.
Nein!
6. Die Mercedes-AG handelte zumindest fahrlässig, wenn ihr die Unzulässigkeit des Thermofensters beim Einbau hätte bekannt sein müssen.
Genau, so ist das!
7. Der Schaden besteht nach dem EuGH bereits in dem Abschluss des Kaufvertrags über ein Fahrzeug mit unzulässiger Abschalteinrichtung (=wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht).
Nein, das trifft nicht zu!
8. Aufgrund des EuGH-Urteils müssen die deutschen Gerichte den Käufern von Fahrzeugen mit unzulässigem Thermofenster immer einen Ersatzanspruch zugestehen.
Nein!
9. Infolge des EuGH-Urteil gewährt der BGH Käufern von Dieselfahrzeugen mit unerlaubtem Thermofenster nunmehr die vollständige Rückabwicklung des Kaufvertrags („großer Schadensersatz“).
Nein, das ist nicht der Fall!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
nl_wadnphl
15.5.2023, 13:48:06
Wortneuschöpfungen auf einem neuen Niveau!
Rick-energie🦦
13.7.2023, 10:45:41
Meine These: Beim BGH gibt es eine gesonderte Taskforce, deren alleine Aufgaben Wortneuschöpfungen und das Formulieren von Endlossätze für die Leitsätze sind.
Trierer Weinversteigerer
22.5.2023, 10:58:35
nvertrauensschadensersatz , lieben wir!
Jopies
31.5.2023, 13:43:56
Ja, der BGH Senat hat auch schon selber gesagt, dass dieser Name noch nicht so richtig perfekt und griffig ist 😅
Rick-energie🦦
13.7.2023, 10:48:08
Sofern sich durchsetzt, dass die Betriebserlaubnis durch das KBA entzogen werden könnte/dürfte, läge im Vertragsschluss über ein Fahrzeug, das schwebend illegal ist, dann aber bereits der Schaden - gell? Vorausgesetzt natürlich, dass der Wagen zum Betrieb im dt. Straßenverkehr erworben wurde....
Pilea
29.9.2023, 18:58:19
Ist das Urteil nun tatsächlich verkündet, und wenn ja, gibt es Änderungen (siehe letzte Vertiefung)?
kaan00
22.12.2023, 00:32:47
Genau - Wie siehts aus?=)
Lukas_Mengestu
7.6.2024, 10:31:17
Hi ihr beiden, die Aktualisierung haben wir zwischenzeitlich vorgenommen :-) In aller Kürze: Der BGH erkennt nun zwar auch bei fahrlässigem Verhalten der Hersteller einen Schadensersatzanspruch iHv 5-15% des Kaufpreises (Differenzschaden). In der Praxis entschieden viele OLGs aber, dass noch nicht einmal Fahrlässigkeit vorlag, sodass die Kläger dort wiederum scheiterten (z.B. OLG Bayern = https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/Y-300-Z-BECKRS-B-2023-N-17856?hl=true). Allerdings gibt es hier auch verbraucherfreundlichere Entscheidungen (z.B. OLG Hamm = https://openjur.de/u/2475338.html). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Leonq
23.6.2024, 12:52:46
@[Lukas_Mengestu](136780) Die letzte Antwortmöglichkeit müsste doch richtigerweise „Aussage stimmt nicht“ heißen oder? Weil der BGH iRv 823 II (anders als bei
826) gerade keinen großen Schadensersatz gewährt…
HannaHaas
13.2.2024, 19:26:52
Vllt eine doofe Frage aber die Fahrzeugimmissionen VO sowie die Richtlinien würden für die Klausuren abgedruckt werden oder? :/
HannaHaas
13.2.2024, 19:27:50
Fahrzeugemissionen*
Mord ist geplant
14.2.2024, 12:33:27
In Prüfungssituationen wird wohl nicht erwartet werden können, dass du dieses Spezialwissen hast. Demnach wird wohl ein Auszug der VO und Richtlinien in der Klausur vorzufinden sein.
HannaHaas
14.2.2024, 12:34:58
Ich danke dir für deine Antwort!
Bubbles
26.2.2024, 16:25:52
Könntet ihr diese Aufgabe der Vollständigkeit halber zur Diesel-Abgasskandal-Playlist hinzufügen? Dort habt ihr ja bereits die BGH Entscheidung aus 2021.
DerChristoph
6.8.2024, 12:49:10
Ich stehe gerade auf dem Schlauch. In der letzten Aufgabe wird danach gefragt, ob der BGH nun "großen Schadensersatz"/Rückabwicklung gewährt. Als richtige Antwort ist "ja" hinterlegt. In der Erklärung zur Antwort heißt es dann aber: "Der Käufer könne keine vollständige Rückabwicklung verlangen („großer Schadensersatz“)." Wenn diese Erklärung richtig ist, müsste die korrekte Antwort auf die Aufgabe aber doch "nein" sein, oder nicht?
dario.b
9.8.2024, 11:29:59
Sehe das genauso wie @[DerChristoph](80668)
Johannes Nebe
13.10.2024, 09:52:33
Ist mir auch aufgefallen. Könnte man das klären?