Zulässigkeit einer Impflicht nach EMRK

23. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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In der Tschechischen Republik gilt eine Impfpflicht für diverse Kinderkrankheiten. Da Vater V sich weigert, seine Kinder impfen zu lassen, schließen die tschechischen Behörden Vs Kinder vom Besuch der Vorschule aus.

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Einordnung des Falls

Zulässigkeit einer Impflicht nach EMRK

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Gewährleistet die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrecht und Grundfreiheiten (EMRK) ein Recht auf körperliche Unversehrtheit ausdrücklich?

Nein, das ist nicht der Fall!

Ein ausdrückliches Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit findet sich in der EMRK nicht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entnimmt es partiell aus Art. 2 (Recht auf Leben), Art. 3 (Verbot der Folter und unmenschlichen Behandlung) und Art. 8 (Recht auf Privat- und Familienleben) EMRK - je nach Schwere und Qualität des Eingriffs. Tritt zu einer schweren Verletzung der körperlichen Unversehrtheit eine missachtende Komponente hinzu, greift Art. 3 EMRK. Unterhalb dieser Schwelle bleibt der Schutzbereich des sonst subsidiären Art. 8 EMRK.
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2. Da die Kinder bislang nicht geimpft wurden, liegt auch kein Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK (Recht auf Privat- und Familienleben) vor.

Nein, das trifft nicht zu!

In Abgrenzung zu Art. 3 EMRK ist der Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK (Recht auf Privat- und Familienleben) eröffnet, wenn (lediglich) die körperliche Unversehrtheit verletzt ist. Eine Impfung der Kinder erfolgte noch nicht, sodass unmittelbar kein Eingriff in deren körperliche Unversehrtheit stattgefunden habe (RdNr. 263). Allerdings träfen die Kinder unmittelbar die Konsequenzen ihres negativen Impfstatus (RdNr. 263), sodass die Impfpflicht in ihre Rechte auf Privatsphäre aus Art. 8 Abs. 1 EMRK eingriffe (RdNr. 263). Offen lässt der EGMR, ob er den Eingriff als mittelbaren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit oder als unmittelbaren Eingriff in eine andere Schutzdimension des modulierbaren Art. 8 Abs. 1 EMRK - etwa ein Recht auf kindliche Entwicklung - bejaht.

3. Ein Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK (Recht auf Privat- und Familienleben) ist gerechtfertigt, wenn dieser einem legitimen Zweck dient und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.

Ja!

Diese Formel aus Art. 8 Abs. 2 EMRK umschreibt den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Häufig präzisiert der EGMR das Notwendigkeitserfordernis aus Art. 8 Abs. 2 EMRK zusätzlich: der Eingriff müsse einem dringenden sozialen Bedürfnis ("pressing social need") entsprechen und die Gründe für den Eingriff müssten relevant und ausreichend ("relevant and sufficient") sowie verhältnismäßig im engeren Sinne zum legitimen Ziel sein. Die vom EGMR praktizierte Verhältnismäßigkeitsprüfung weicht im Detail von geläufigen Verhältnismäßigkeitsprüfung des BVerfG ab und führt zu einer reduzierten Kontrolldichte. V.a. die Geeignetheit und die Erforderlichkeit des Mittels prüft der EGMR selten eigenständig.

4. Verfolgt die Impfpflicht einen in Art. 8 Abs. 2 genannten legitimen Zweck?

Genau, so ist das!

Art. 8 Abs. 2 EMRK erlaubt Behörden den Eingriff in das Recht auf Privatsphäre u.a. zum Schutz der Gesundheit. Die Impfpflicht gegen diverse Kinderkrankheiten schützt nicht nur das geimpfte Individuum, sondern durch Aufbau sogenannter Herdenimmunität die Gesellschaft als Ganzes. Sie dient damit einem in Art. 8 Abs. 2 EMRK anerkannten Zweck.

5. Die Impfpflicht ist „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft", wenn sie einem dringenden sozialen Bedürfnis begegnet.

Ja, in der Tat!

Mit der Formel vom „dringenden sozialen Bedürfnis" präzisiert der EGMR das Notwendigkeitserfordernis aus Art. 8 Abs. 2 EMRK. Sie ist regelmäßig erfüllt, wenn ein Staat in Erfüllung einer sich aus der EMRK ergebenden Schutzpflicht handelt. Aus Art. 2 (Recht auf Leben) und Art. 8 EMRK folge eine Schutzpflicht Tschechiens für die Gesundheit seiner Gesellschaft und v.a. der vulnerabelsten Mitglieder (RdNr. 282). Die Impfpflicht solle einem Abwärtstrend bei der Impfquote von Kindern und den damit verbundenen Gesundheitsrisiken vorbeugen (RdNr. 283 f). Tschechien begegnet mit der Impflicht einem dringenden sozialen Bedürfnis.

6. Die Impfpflicht ist verhältnismäßig im engeren Sinne, weil sie individuelle Freiheitsrechte und kollektiven Gesundheitsschutz in gerechten Ausgleich bringt.

Ja!

Die Impfpflicht ist verhältnismäßig im engeren Sinne, wenn sie einen gerechten Ausgleich zwischen kollektivem Gesundheitsschutz und individuellem Recht auf Privatsphäre schafft. Einerseits sei die Sicherheit der Impfung wissenschaftlich bestätigt und seltene Nebenwirkungen seien Gegenstand eines Monitorings (RdNr. 301). Auch sehe die Impfpflicht selbst Ausnahmen bei Kontraindikationen vor (RdNr. 291). Andererseits beschneide der Ausschluss die kindliche Entwicklung der ungeimpften Kinder (RdNr. 306). Angesichts dessen, dass der Ausschluss aber auf einer abweichenden individuellen Einschätzung eines objektiv geringen Gesundheitsrisikos basiere, sei die sanktionsbewehrte Impfpflicht verhältnismäßig. Denn nur die sog. Herdenimmunität könne auch die vulnerabelsten Mitglieder der Gesellschaft schützen (RdNr. 306, 309). Der EGMR argumentiert mit gesellschaftliche Solidarität (vgl. RdNr. 279) und legt dem Einzelnen ein (geringes) Risiko auf, um die vulnerabelsten Mitglieder der Gesellschaft zu schützen. Die EMRK schützt die Rechte des Einzelnen also nicht nur, sondern legt ihm als Mitglied einer demokratischen Gesellschaft auch Pflichten auf.

7. Beim BVerfG ist eine Verfassungsbeschwerde gegen die deutsche Masernimpfpflicht anhängig. Ist es an die Entscheidung des EGMR gebunden?

Nein, das ist nicht der Fall!

Bindungswirkung entfalten Urteilen des EGMR nur inter-partes, erga omnes kommt ihnen eine sog. Orientierungsfunktion zu. Mangels Beschwerdegegnerschaft trifft Deutschland zwar keine völkerrechtliche Pflicht zur Berücksichtigung. Auf innerstaatlicher Ebene hat sich das BVerfG jedoch aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und des engen Zusammenhangs zwischen Konventionsrechten und der Menschenwürde selbst an die Rechtsprechung des EGMR gebunden und berücksichtigt die Rechtsprechung des EGMR im Rahmen der konventionskonformen Auslegung der deutschen Grundrechte. Die Ausführungen des EGMR zur Masern-Impfpflicht sind nicht eins zu eins auf die aktuell europaweit diskutierte Impfpflicht gegen COVID-19 übertragbar. Zu berufsbezogenen „Corona-Impfpflichten“ sind jedoch bereits Verfahren vor dem EGMR anhängig (EGMR, Kakaletri et al. vs. Griechenland und Thevenon vs. Frankreich).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

LUKA

Lukas

7.6.2022, 15:26:41

Bei der letzten Frage sollte „Ja“ richtig sein oder die Frage präziser formuliert werden

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

7.6.2022, 18:16:15

Hallo Lukas, herzlich willkommen im Forum und vielen Dank für Deinen Hinweis! Wir haben in der Fragestellung nun präzisiert, dass es um die Frage geht, ob eine unmittelbare Bindungswirkung vorliegt. Dadurch sollte es klarer werden, dass nicht die Orientierungsfunktion gemeint ist. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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