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Anfahren von hinten (BGH, Urt. vom 20.06.2024 - 4 StR 15/24)

Anfahren von hinten (BGH, Urt. vom 20.06.2024 - 4 StR 15/24)

5. Februar 2025

2 Kommentare

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Ts Mutter M hat eine Affäre mit L. T ist sauer und fürchtet, dass seine Familie zerbricht. Eines Tages fährt T Auto und sieht L mit der Unbekannten U auf dem Gehweg. T fährt L und U von hinten an. L wird auf die Motorhaube geschleudert und bleibt dort liegen, bis er nach 15 Metern auf ein geparktes Auto aufprallt. ‌

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Einordnung des Falls

Anfahren von hinten (BGH, Urt. vom 20.06.2024 - 4 StR 15/24)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 20 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. L überlebt Ts Angriff. Könnte T sich hier wegen versuchten Mordes an L strafbar gemacht haben, indem er ihn von hinten mit dem Auto anfuhr (§§ 211, 22, 23 Abs. 1 StGB)?

Genau, so ist das!

Voraussetzung für eine Strafbarkeit nach §§ 211, 22, 23 Abs. 1 StGB ist • Nichtvollendung und Strafbarkeit des Versuchs • Tatentschluss • Unmittelbares Ansetzen • Rechtswidrigkeit • Schuld „Vorprüfung“: L lebt, der versuchte Mord ist nach § 211, 23 Abs. 1 StGB strafbar. Nach der Rspr. ist Mord ein eigenständiges Delikt, nach der h.L. dagegen eine Qualifikation des Totschlages. Das wirkt sich auf die Prüfungsreihenfolge aus. Folgst du der Rspr., solltest du § 211 und § 212 StGB getrennt prüfen und mit der Prüfung des schwereren Delikts (§ 211 StGB) beginnen. Folgst du der h.L. kannst du beide zusammen prüfen (§§ 212, 211 StGB). Im ersten Examen bietet sich die h.L. insbesondere dann an, wenn schon der Tötungsvorsatz problematisch ist. Im zweiten Examen musst Du mit der Rspr. § 211 StGB als eigenständiges Delikt zuerst prüfen. Um bei „unübersichtlichen“ Abläufen keine Delikte zu vergessen, solltest Du am besten nach deinen ersten Überlegungen, welche Delikte infrage kommen, noch mal das Inhaltsverzeichnis des StGB durchgehen, ob du ein Delikt vergessen hast.
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2. T müsste Tatentschluss gehabt haben, den L zu töten, wobei Eventualvorsatz ausreicht. Legt der Geschehensablauf nahe, dass T Ls Tod als mögliche Folge seines Handelns erkannte?

Ja, in der Tat!

Der Tatentschluss umfasst den Vorsatz bezüglich aller objektiven Tatbestandsmerkmale. Darüber hinaus müssen eventuell bestehende deliktsspezifische subjektive Tatbestandsmerkmale erfüllt sein. Der bedingte Vorsatz setzt sich zusammen aus dem Wissens- und Wollenselement. Für das Wissenselement ist erforderlich, dass der Täter den Erfolg als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt. Ob dies der Fall ist, wird anhand einer Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände geprüft. Dabei sind neben der objektiven Gefährlichkeit der Tathandlung und der konkreten Angriffsweise des Täters auch seine psychische Verfassung bei Tatbegehung und seine Motivationslage einzubeziehen (RdNr. 23). T steuert gezielt mit seinem Auto auf L zu. L wurde mit großer Wucht auf die Motorhaube geschleudert. Auch danach hielt T nicht an, sondern fuhr 15 Meter weiter, während L immer noch auf dem Auto lag. Dies ist eine objektiv gefährliche Handlung, bei der der Tod von L eine mögliche und naheliegende Folge ist. Dies war für T auch zu erkennen. Das Wissenselement liegt bei T vor.

3. T traf L frontal mit seinem Auto, so dass Ls Kopf gegen die Windschutzscheibe prallte. Nahm T Ls Tod zumindest billigend in Kauf?

Ja!

Für das Wollenselement ist es nach der herrschenden Billigungstheorie erforderlich, dass der Täter den Erfolg billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit diesem abfindet. Ob dies der Fall ist, wird anhand einer Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände geprüft. Besonders gefährliche Handlungen indizieren das Inkaufnehmen des Tötungserfolges. Allerdings muss auch bei hochgefährlichen Handlungen eine Feststellung des Willenselements im Einzelfall erfolgen. T ließ, auch nachdem L auf die Motorhaube geschleudert wurde und mit dem Hinterkopf gegen die Windschutzscheibe aufprallte, nicht von seinem Vorhaben ab, sondern fuhr mit L auf der Motorhaube insgesamt 15 Meter weiter. Seine fortgesetzte gefährliche Handlung sowie seine Abneigung gegen L legen nahe, dass er dessen Tod billigend in Kauf nahm. T handelte mit Tatentschluss bzgl. Ls Tod.

4. Als Mordmerkmal kommen niedrige Beweggründe und Heimtücke in Betracht (§ 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4, Gr. 2 Var. 1 StGB).

Genau, so ist das!

Prüfst Du einen versuchten Mord, musst Du prüfen, ob der Täter mit Tatentschluss bezüglich mindestens einem Mordmerkmal handelte. Hier prüfst Du alle Merkmale, die in der konkreten Sachverhaltsgestaltung in Betracht kommen. Fern liegende Merkmale sprichst Du dagegen nicht an. In Betracht kommen niedrige Beweggründe sowie Heimtücke. Der Täter handelt mit Heimtücke, wenn das Opfer arglos ist und der Täter dessen hierauf beruhende Wehrlosigkeit in feindlicher Willensrichtung bewusst zur Tötung ausnutzt. Niedrige Beweggründe liegen vor, wenn die Motive einer Tötung nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert sind und auf tiefster Stufe stehen. Du musst die Mordmerkmale der 1., 2. und 3. Gruppe unterscheiden. Dabei sind die Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe täterbezogen, die Mordmerkmale der 2. Gruppe tatbezogen.

5. L bemerkt Ts Auto, denkt jedoch zunächst, dass T parkt. Auch die lauten Motorgeräusche bewegen ihn nicht dazu, sich umzudrehen. Versah sich L eines Angriffs auf sein Leben, als T auf ihn zufuhr?

Nein, das trifft nicht zu!

Das Mordmerkmal der Heimtücke setzt voraus, dass das Opfer arglos ist und er dessen hierauf beruhende Wehrlosigkeit in feindlicher Willensrichtung bewusst zur Tötung ausnutzt. Das Opfer ist arglos, wenn es sich bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs (= Zeitpunkt des Versuchs, § 22 StGB) keines Angriffs auf sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit versieht. Wehrlos ist das Opfer, wenn es aufgrund seiner Arglosigkeit zur Verteidigung außerstande oder in seiner natürlichen Abwehrbereitschaft und Abwehrfähigkeit stark eingeschränkt ist. L bemerkte hier zwar das Auto, dachte aber auch trotz lauter Motorgeräusche nicht, dass der Fahrer ihn angreifen wollte. L versah sich keines Angriffs auf sein Leib oder seine körperliche Unversehrtheit (= Arglosigkeit). Aufgrund der sehr kurzen Zeitspanne von Ts Angriff war L nicht in der Lage, sich gegen den Angriff zu verteidigen und in seiner Abwehrfähigkeit stark eingeschränkt. L war infolge seiner Arglosigkeit auch wehrlos. Es ist nicht erforderlich, dass der Angriff heimlich passiert. Das Opfer kann auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen (RdNr. 16).

6. Der Täter muss die Arglosigkeit seines Opfers bewusst ausnutzen. Wenn T klar war, dass L arglos war und er ihn mit seinem Angriff überraschte, liegt dann bereits ein Ausnutzen vor?

Ja!

Für das bewusste Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit genügt es, dass der Täter diese in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (RdNr. 17). T fuhr „plötzlich und überfallartig von hinten“ auf L zu. L zeigte keine Reaktion, die darauf hindeutete, dass er sich des Angriffs bewusst war. T musste erkennen, dass er L überraschte und dieser daher schutzlos war (RdNr. 18). T handelte mit Tatentschluss bezogen auf eine heimtückische Tötung des L. Der BGH bemängelte, dass das LG das Mordmerkmal der Heimtücke vorschnell abgelehnt habe. Das LG führte aus, dass T damit rechnen „musste“, dass L das sich nähernde Auto wahrnehmen würde. Dies betreffe jedoch lediglich die Wahrnehmungssituation des Tatopfers, so der BGH (RdNr. 18). Er verwies zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück.

7. T wollte Ls Arg- und Wehrlosigkeit bewusst ausnutzen (§ 211 Abs. 2 Gr. 2 Var. 1 StGB). Ist damit die Prüfung des Mordmerkmals der Heimtücke abgeschlossen?

Nein, das ist nicht der Fall!

In der Klausur musst du die vom BVerfG geforderte restriktive Auslegung des Heimtücke-Merkmals diskutieren. Die Literatur regt eine Restriktion auf Tatbestandsebene an und fordert etwa einen verwerflichen Vertrauensbruch. Die Rechtsprechung verurteilt weiterhin wegen Mordes, mindert aber auf Rechtsfolgenseite den Strafrahmen, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, die das Ausmaß der Täterschuld erheblich mindern (§ 49 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Der Begriff des Vertrauensbruchs ist selbst unscharf und erlaubt einen heimtückischen Mord nur bei vorhandener Vertrauensbeziehung zwischen Opfer und Täter. Daher ist der Rechtsfolgenlösung der Rechtsprechung zu folgen. Es kommt damit nicht darauf an, ob T mit Tatentschluss bzgl. des Bruchs eines besonderen Vertrauensverhältnisses gehandelt hat. T handelte mit Tatentschluss bezüglich der heimtückischen Begehungsweise. Die Lösung der Rechtsprechung wird erst im Rahmen der Strafzumessung, nicht bereits auf Tatbestandsebene, relevant.

8. Niedrige Beweggründe liegen vor, wenn die Motive einer Tötung nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert sind und auf tiefster Stufe stehen. Schließt Wut dieses Mordmerkmal grundsätzlich aus?

Nein, das trifft nicht zu!

Vergiss nicht, noch weitere in Betracht kommende Mordmerkmale zu prüfen. Selbst dann, wenn Du bereits eines angenommen hast. Niedrige Beweggründe liegen vor, wenn die Motive einer Tötung nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert sind und auf tiefster Stufe stehen. Die Beurteilung erfolgt anhand rechtlicher, nicht moralischer Maßstäbe. Es sind die Gesamtumstände der Tat zu berücksichtigen. Gefühle wie Eifersucht, Rache, Zorn, Wut und Enttäuschung können niedrige Beweggründe sein, wenn ihnen in ihrer konkreten Ausprägung selbst eine niedrige Gesinnung des Täters zugrunde liegt. Das ist der Fall, wenn die tatmotivierenden Gefühle jeglichen nachvollziehbaren Grund entbehren oder wenn die Motive in deutlich weiter reichendem Maße als bei einem Totschlag verachtenswert erscheinen.

9. Der noch junge T war wegen Ls Affäre mit seiner Mutter sauer und befürchtete, seine Familie könnte zerbrechen. Gehen Ts Handlungen auf niedrige Beweggründe zurück (§ 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB)?

Nein!

Niedrige Beweggründe liegen vor, wenn die Motive einer Tötung nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert sind und auf tiefster Stufe stehen. Die Beurteilung erfolgt anhand rechtlicher, nicht moralischer Maßstäbe. Es sind die Gesamtumstände der Tat zu berücksichtigen. Gefühle wie Eifersucht, Rache, Zorn, Wut und Enttäuschung können niedrige Beweggründe sein, wenn sie unbegründet bzw. objektiv nicht mehr nachvollziehbar sind. T hatte Angst, dass seine Familie zerbrechen würde. Ts Handlung waren aufgrund seiner Angst noch irgendwie nachvollziehbar. Er handelte nicht aus niedrigen Beweggründen. Neben den tatbestandlich konkretisierten mordtypischen Motiven und Absichten der ersten Gruppe (Mordlust, geschlechtliche Befriedigung und Habgier) und dritten Gruppe (Ermöglichungs- und Verdeckungsabsicht) enthält § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB mit den niedrigen Beweggründen eine Generalklausel für nicht näher spezifizierte höchststrafwürdige Tötungsantriebe. Durch ihren Auffangcharakter hat sie rechtspraktisch große Bedeutung.

10. Indem T auf L losfuhr, hat T unmittelbar zu einer heimtückischen Tötung angesetzt. Ist Ts Strafe i.R.d. Strafzumessung zu mindern (§ 49 Abs. 1 Nr. 2 StGB)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Das BVerfG fordert eine restriktive Auslegung des Mordmerkmals der Heimtücke. Hast Du mit der Ansicht der Rspr. auf tatbestandlicher Ebene das Erfordernis eines verwerflichen Vertrauensbruchs abgelehnt, musst Du auf Rechtsfolgenseite überlegen, ob die Strafe ausnahmsweise zu mindern ist (Rspr.). Die Rechtsprechung verzichtet auf das zusätzliche Merkmal des besonderen Vertrauensbruchs (Lit.) auf tatbestandlicher Ebene. Dafür sei es möglich, auf Rechtsfolgenseite den Strafrahmen zu mindern, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, die das Ausmaß der Täterschuld erheblich mindern (§ 49 Abs. 1 Nr. 2 StGB). T hat den Tatbestand des versuchten Mordes verwirklicht. Es sind keine Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe einschlägig. Zudem sind keine außergewöhnlichen Umstände ersichtlich, die das Ausmaß von Ts Schuld erheblich mindern (§ 49 Abs. 1 Nr. 2 StGB). T hat sich wegen versuchten Mordes strafbar gemacht und seine Strafe ist nicht zu mildern.

11. T hat sich zudem wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht, indem er L von hinten mit dem Fahrzeug anfuhr und weiterfuhr, obwohl L mit dem Hinterkopf gegen die Autoscheibe prallte (§§ 223, 224 Abs. 1 StGB).

Ja, in der Tat!

Denk daran, in Deinem Gutachten auch dann weiter zu prüfen, wenn Du einen Mord bejaht hast. Du musst die Strafbarkeit des Täter vollumfänglich prüfen. Wie die Delikte zueinander stehen, ist eine Frage der Konkurrenzen. Neben dem versuchten Mord kommt eine Strafbarkeit des T nach §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2, 5 StGB in Betracht. Ein gefährliches Werkzeug (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) ist jeder körperliche, bewegliche Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit und der konkreten Art seiner Verwendung geeignet ist, erhebliche Verletzungen hervorzurufen. Eine Behandlung ist lebensgefährdend (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB), wenn sie nach den Umständen des Einzelfalls generell geeignet ist, das Opfer in Lebensgefahr zu bringen. Ein Auto ist bei gezieltem Einsatz gegen einen Menschen geeignet, erhebliche Verletzungen zu verursachen. Das Anfahren des L (= Körperverletzung, § 223 Abs. 1 StGB) und das Weiterfahren mit L auf dem Auto bis zum Aufprall auf ein geparktes Auto waren geeignet, den L in Lebensgefahr zu bringen. Damit hat sich T, indem er L mit dem Auto anfuhr, nach §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2, 5 StGB strafbar gemacht. Handle unproblematische Delikte insbesondere in Fällen, in denen viele Delikte zu prüfen sind, schnell ab.

12. T fuhr L frontal an, U dagegen „nur“ seitlich gegen das Bein, wodurch U umfiel. Könnte Ts Fahrmanöver dafür sprechen, dass er Us Tod vermeiden wollte (§§ 211, 22, 23 Abs. 1 StGB)?

Ja!

Gibt es im Sachverhalt mehrere Betroffene, denk daran, die Strafbarkeit des Täters in Bezug auf alle Personen zu prüfen! Der bedingte Vorsatz setzt sich zusammen aus dem Wissens- und Wollenselement. Es erscheint möglich, dass T den Tod der U als Folge seines Handelns erkannte. Allerdings fuhr T nur L frontal an, U dagegen seitlich. Im Hinblick auf sein Fahrmanöver ist nicht sicher, ob T auch Us Tod billigend in Kauf nahm. T hatte zudem keine Motive, die U zu schädigen. Es könnte sein, dass er auf das Ausbleiben des Todes der U vertraute. Damit hatte T keinen Tatentschluss, die U zu töten. Das LG hatte hier nach dem BGH rechtsfehlerhaft bedingten Tötungsvorsatz in Bezug auf U angenommen. Das unterschiedliche Fahrmanövers stelle einen für das Willenselement kritischen und erörterungsbedürftigen Umstand dar, den das LG nicht prüfte (RdNr. 25). Gerade bei Tötungsdelikten solltest Du im Anbetracht des Strafmaßes immer sorgfältig den Vorsatz prüfen.

13. Indem T die U von hinten mit dem Auto anfuhr, hat T sich wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB).

Genau, so ist das!

Ein gefährliches Werkzeug ist jeder körperliche, bewegliche Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit und der konkreten Art seiner Verwendung geeignet ist, erhebliche Verletzungen hervorzurufen. Ein Auto ist bei gezieltem Einsatz gegen einen Menschen geeignet, erhebliche Verletzungen zu verursachen. T hat sich nach §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB strafbar gemacht, indem er L von hinten anfuhr.

14. Im Originalfall fuhr T, nachdem er L und U anfuhr, gegen weitere am Straßenrand parkende Autos, bis er seine Fahrt auf der Straße fortsetzte. Könnte T sich gemäß § 142 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben?

Ja, in der Tat!

§ 142 Abs. 1 StGB setzt im objektiven Tatbestand voraus: • Unfall im Straßenverkehr • Täter: Unfallbeteiligter nach § 142 Abs. 5 StGB • Sich-Entfernen vom Unfallort • Ohne Ermöglichen von Feststellungen (Nr. 1) oder angemessene Wartezeit (Nr. 2) Führe dir zum Verständnis immer das Schutzgut und den Sinn und Zweck einer Strafvorschrift vor Augen. Bei § 142 StGB ist das geschützte Rechtsgut ausschließlich das zivilrechtliche Interesse des Geschädigten an der Geltendmachung seiner aus der Unfallverursachung des Täters resultierenden Schadensersatzansprüche.

15. T benutzte das Auto, als er L und U anfuhr, willentlich als eine Art Tatwaffe. Scheidet daher ein Unfall im Straßenverkehr gänzlich aus (§ 142 Abs. 1 StGB)?

Nein!

Ein Unfall im Straßenverkehr ist ein plötzliches, zumindest für einen ungewolltes, Ereignis im öffentlichen Straßenverkehr, das zu einem nicht völlig unerheblichen Personen- oder Sachschaden geführt hat und auf typischen Gefahren des Straßenverkehrs beruht. Zumindest für andere Verkehrsteilnehmer war der Unfall ein plötzliches und ungewolltes Ereignis. Dem Vorliegen eines Verkehrsunfalls steht nicht entgegen, dass einer der Beteiligten ihn vorsätzlich herbeigeführt hat. Das Anfahren des L und der U geht zwar auf eine deliktische Planung zurück und stellt keine verkehrstypische Gefahr dar (RdNr. 20). Allerdings benutzte T sein Auto, als er zurück zur Straße fuhr und die dort parkenden PKWs beschädigte, nicht mehr (ausschließlich) als Tatwaffe (RdNr. 21). Unterscheide zwischen den einzelnen Tatabschnitten und frag dich für jeden gesondert, ob der Täter sich strafbar gemacht hat oder nicht.

16. T hat mit seinen Handlungen den Straßenverkehr für „verkehrsfremde Zwecke pervertiert“. Scheidet eine Strafbarkeit nach § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB damit von vornherein aus?

Nein, das ist nicht der Fall!

§ 315b Abs. 1 setzt voraus: • einen Eingriff (Nr. 1-3), der • für die Sicherheit des Straßenverkehrs (abstrakt) gefährlich ist und • sich zu einer konkreten Gefährdung für eines der Schutzobjekte verdichtet In Betracht kommt ein ähnlicher, ebenso gefährlicher Eingriff (Nr. 3). Zwar soll § 315b StGB vornehmlich verkehrsfremde Eingriffe unterbinden, die von außen die Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs beeinträchtigen (sog. Außeneingriffe). Allerdings werden auch innerhalb des Verkehrs vorgenommene Eingriffe einbezogen, wenn eine sog. Pervertierung des Straßenverkehrs für verkehrsfremde Zwecke vorliegt. T ist mit seinem Auto auf den Gehweg gefahren, um L anzufahren. Damit hat er sein Auto für verkehrsfremde Zwecke pervertiert. Dies ist auch vergleichbar mit den Eingriffen der § 315b Abs. 1 Nr. 1, 2 StGB.

17. Hat der Eingriff auch abstrakt die Sicherheit des Straßenverkehrs gefährdet und hat sich dies zu einer konkreten Gefahr verdichtet, so dass der objektive Tatbestand des § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB erfüllt ist?

Ja, in der Tat!

§ 315b Abs. 1 setzt voraus: • einen Eingriff (Nr. 1-3), der • für die Sicherheit des Straßenverkehrs (abstrakt) gefährlich ist und • sich zu einer konkreten Gefährdung für eines der Schutzobjekte verdichtet. „Zwischenerfolg“ des § 315b StGB ist die (abstrakte) Beeinträchtigung der Sicherheit des Straßenverkehrs. Davon umfasst sind auch Fußgänger. Die abstrakte Beeinträchtigung liegt vor, wenn der Eingriff sich störend auf Verkehrsvorgänge auswirkt und so zu einer Steigerung der allgemeinen Verkehrsgefahr führt. Die konkrete Gefahr kann auch vorliegen, wenn die Handlung unmittelbar zu einer Schädigung führt. Das Befahren eines Gehweges mit einem Auto ist eine abstrakte Beeinträchtigung der Sicherheit des Straßenverkehrs. T fuhr L und U an, so dass auch eine konkrete Gefahr in Form einer Schädigung vorlag. T hat § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB objektiv erfüllt.

18. T handelte auch vorsätzlich. Reicht dies für Ts Strafbarkeit nach § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB aus?

Nein!

Rein vorsätzliches Handeln reicht bei verkehrsfremden Inneneingriffen nicht aus. Subjektiv erforderlich ist, dass das Fahrzeug bewusst zweckwidrig in verkehrsfeindlicher Absicht eingesetzt wird und der Täter mit mindestens bedingtem Schädigungsvorsatz handelt. Dies ist z.B. gegeben, wenn er das Fahrzeug als Waffe oder Schadenswerkzeug einsetzt. T hat den PKW nicht mehr primär als Fortbewegungsmittel genutzt, sondern ihn absichtlich mit Verletzungsvorsatz zum Umfahren des U eingesetzt. Er hat sein Fahrzeug zweckwidrig in verkehrsfeindlicher Absicht eingesetzt und handelte mit Schädigungsvorsatz.

19. T handelte auch in der Absicht, einen Unglücksfall herbeizuführen (§ 315b Abs. 3 i.V.m. § 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB).

Genau, so ist das!

§ 315b Abs. 3 StGB verweist auf § 315 Abs. 3 StGB. Nach § 315b Abs. 3 i.V.m. § 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB liegt eine Qualifikation vor, wenn der Täter in der Absicht handelt, einen Unglücksfall herbeizuführen. Ein Unglücksfall ist ein plötzlich eintretender Zustand, bei dem der Eintritt eines durch die Gefahr verursachten Schadens droht. Aufgrund des Absichtserfordernisses muss der Wille des Täters auf eine Schadensherbeiführung gerichtet sein. Auch deliktische Angriffe werden unter den Unglücksfall subsumiert. T fuhr L mit dolus directus 1. Grades an und führte damit einen Unglücksfall herbei. Sein Wille war auf Schadensherbeiführung gerichtet. T hat sich nach § 315b Abs. 3 i.V.m. § 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr zur Herbeiführung eines Unglücksfalls strafbar gemacht. Zudem hat sich T auch wegen Sachbeschädigung gemäß § 303 Abs. 1 StGB strafbar gemacht, indem er die parkenden Autos anfuhr und beschädigte.

20. Damit hat sich T tateinheitlich nach §§ 211, 22, 23 Abs. 1 StGB, §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2, 5 StGB, §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB, § 142 Abs. 1 StGB, § 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 StGB i.V.m. § 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB, § 303 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.

Ja, in der Tat!

Die verwirklichten Delikte stehen zueinander in Tateinheit (§ 52 Abs. 1 StGB). Zwischen ihnen besteht keine Gesetzeskonkurrenz, so dass sich T nach allen oben genannten Vorschriften strafbar gemacht hat. In Strafrechtsklausuren kann es sein, dass du eine Vielzahl von Delikten durchprüfen musst. Die Schwierigkeit liegt dann darin, trotz des Zeitdrucks alle in Betracht kommenden Delikte durchzuprüfen. Dafür brauchst Du eine gute Schwerpunktsetzung und solltest keine Delikte übersehen. Gerade bei Delikten, die offensichtlich erfüllt sind (wie hier § 303 Abs. 1 StGB) solltest Du nicht zu viel Zeit verlieren.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

CR7

CR7

27.1.2025, 16:51:51

Super aufbereitet. Hier heißt es an einer Stelle nur: "T hat mit seinen Handlungen den Straßenverkehr für „verkehrsfremde Zwecke pervertiert“. Scheidet eine Strafbarkeit nach § 313b Abs. 1 Nr. 3 StGB damit von vornherein aus?" Einen § 313b kenne ich leider nicht :/

AM

Api M.

27.1.2025, 17:37:26

Es müsste lauten: T hat mit seinen Handlungen den Straßenverkehr für „verkehrsfremde Zwecke pervertiert“. Scheidet eine Strafbarkeit nach §

315b

Abs. 1 Nr. 3 StGB damit von vornherein aus?


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