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Grundrechte
Rechtmäßigkeit von Kruzifixen im Eingangsbereich von staatlichen Gebäuden (BVerwG, Urt. v. 19.12.2023, Az. BVerwG 10 C 5.22)
Rechtmäßigkeit von Kruzifixen im Eingangsbereich von staatlichen Gebäuden (BVerwG, Urt. v. 19.12.2023, Az. BVerwG 10 C 5.22)
30. Mai 2025
8 Kommentare
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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Die bayerische Staatsregierung regelt in § 28 der Geschäftsordnung für bayerische Behörden (AGO): „Im Eingangsbereich eines jeden Dienstgebäudes ist als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns gut sichtbar ein Kreuz anzubringen“. K, eine als Körperschaft des öffentlichen Rechts verfasste Glaubensgemeinschaft, begehrt die Aufhebung des § 28 AGO und die Entfernung der Kreuze.
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Einordnung des Falls
Rechtmäßigkeit von Kruzifixen im Eingangsbereich von staatlichen Gebäuden (BVerwG, Urt. v. 19.12.2023, Az. BVerwG 10 C 5.22)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 16 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Bei § 28 AGO handelt es sich um eine Organisations- und Dienstvorschrift (Verwaltungsvorschrift). Ist hinsichtlich des Begehrens, § 28 AGO aufheben zu lassen, die prinzipale Normenkontrolle (§ 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO) statthaft?
Nein, das trifft nicht zu!
Jurastudium und Referendariat.
2. Hinsichtlich des Begehrens, die aufgehängten Kreuze entfernen zu lassen, ist die allgemeine Leistungsklage statthaft.
Ja!
3. K müsste überdies klagebefugt sein (§ 42 Abs. 2 VwGO analog). Scheidet eine mögliche Verletzung von Art. 4 Abs. 1, 3 Abs. 3 GG bereits deswegen aus, weil K als Körperschaft des öffentlichen Rechts organisiert ist?
Nein, das ist nicht der Fall!
4. K macht geltend, die aufgehängten Kreuze verletzen sie in ihrer Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) und ihrem Recht auf Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG). Ist sie klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO analog)?
Ja, in der Tat!
5. Die im Übrigen zulässige allgemeine Leistungsklage ist begründet, soweit K einen Anspruch auf Entfernung der aufgehängten Kreuze hat.
Ja!
6. Als Anspruchsgrundlage kommt der Folgenbeseitigungsanspruch in Betracht. Ist dieser gesetzlich normiert?
Nein, das ist nicht der Fall!
7. Handelt es sich bei dem Aufhängen der Kreuze in Dienstgebäuden um hoheitliches Handeln?
Ja, in der Tat!
8. Erforderlich ist weiter ein Eingriff in ein subjektives Recht. K rügt eine Verletzung in ihrer Religions- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1, 2 GG), deren Schutzbereich eröffnet ist. Ist ein Eingriff im klassischen Sinne gegeben?
Nein!
9. Die Kreuze beeinflussen Ks Betätigung als weltanschaulicher Zusammenschluss nicht. Spricht das dafür, dass ein Eingriff in Ks positive Glaubensfreiheit nach dem modernen Eingriffsbegriff vorliegt?
Nein, das ist nicht der Fall!
10. Wenn schon kein Eingriff in Ks positive Glaubensfreiheit vorliegt, musst Du dann auch automatisch einen Eingriff in die negative Glaubensfreiheit verneinen?
Nein, das trifft nicht zu!
11. In Betracht kommt aber eine Verletzung von Art. 3 Abs. 3 GG. Schützt dieser vor Diskriminierungen u.a. aufgrund des Glaubens und der Weltanschauung?
Ja!
12. Entscheidend dafür, dass eine Ungleichbehandlung der K mit dem Christentum angenommen werden kann, ist also die Wirkung der Kreuze. Spricht für eine diskriminierende Wirkung, dass die Wahrnehmung der Kreuze im Eingangsbereich nur flüchtig ist?
Nein, das ist nicht der Fall!
13. Eine Diskriminierung könnte sich, trotz geringer Wirkkraft der Kreuze, gleichwohl aus der staatlichen Pflicht zur weltanschaulich-religiösen Neutralität ergeben.
Ja, in der Tat!
14. Die dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität hat zur Folge, dass Staat und Religion strikt getrennt sind und der Staat ausnahmslos Distanz zu religiösen Bezügen wahren muss.
Nein!
15. Der Gesetzeswortlaut des § 28 AGO zeigt, dass der Freistaat Bayern durch das Anbringen der Kreuze keine Identifikation mit christlichen Glaubenssätzen bezweckt.
Genau, so ist das!
16. Damit fehlt es an einem Eingriff in ein subjektives Recht. Hat K einen Anspruch auf Entfernung der Kreuze?
Nein, das trifft nicht zu!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Findet Nemo Tenetur
14.5.2025, 21:57:35
Wieso käme hier nicht auch eine ÖR-
Unterlassungsklagein Betracht? Außerdem ein großes Dankeschön, für die Vertiefung zu den Wirkungen von ermessenslenkenden und gesetzeskonkretisierenden Verwaltungsvorschriften. Ich erinnere mich, dass ich mir das vor Monaten in irgendeinem Kommentar mal “gewünscht” hatte und habe mich sehr gefreut, es hier nun - einen Monat vorm Examen :) - entdeckt zu haben.

Simon
15.5.2025, 00:58:34
Hier geht es m.E. nicht darum, dass ein andauerndes staatliches Verhalten unterlassen werden soll, sondern darum, dass die Folgen eines staatlichen Verhaltens (nämlich dem Aufhängen der Kreuze) beseitigt werden sollen (die Kreuze also abzuhängen sind).

LorenaGiacco
15.5.2025, 10:41:08
Hallo @[Findet
Nemo Tenetur](254807), vielen Dank für Dein Feedback und Deine Frage! Danke für auch für Deine Antwort @[Simon](131793), genau richtig: Ziel des öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruchs ist das Unterbinden eines gerade stattfindenden bzw. Verhindern eines künftigen
rechtswidrigen Verwaltungshandelns. Es geht dort also um die präventive Abwehr drohender Rechtsverletzungen. Der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch wäre in dem Kruzifix-Fall hier z.B. denkbar, wenn die Kreuze noch nicht aufgehängt wurden und K also nur möchte, dass der Staat insofern auch untätig bleibt. Der
Folgenbeseitigungsanspruchhingegen ist gerichtet auf Beseitigung der
rechtswidrigen Folgen eines Verwaltungshandelns, d.h. die Wiederherstellung des vorherigen, rechtmäßigen Zustandes. Er ist also ein verlängerter Abwehranspruch. Da die Kreuze hier bereits aufgehängt wurden, möchte K, dass genau dieser (in seinen Augen
rechtswidrige) Zustand beseitigt wird. Zu der (nicht immer einfachen) Konkurrenz von FBA und öffentlich-rechtlichem Unterlassungsanspruch gilt also: Der FBA ist immer dann einschlägig, wenn vom Hoheitsträger mehr verlangt wird als ein bloßes Unterlassen im Sinne einer Untätigkeit. Ich hoffe, das hilft. Viel Erfolg im Examen! :) Beste Grüße, Lorena – für das Jurafuchs-Team
Findet Nemo Tenetur
15.5.2025, 21:26:15
Danke!!

Simon
15.5.2025, 00:56:44
Ich halte das Urteil aus folgenden Gründen für falsch: (1) (a)
Art. 3 I GGund die speziellen Ausprägungen in Art. 3 III GG schützen m.E. nicht nur vor Ungleichbehandlungen einer gewissen Intensität, sondern auf einer ersten Stufe vor jeder Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem bzw. wegen eines der verpönten Merkmale in Abs. 3. Welche Intensität diese unterschiedliche Behandlung aufweist, ist eine Frage der Rechtfertigung und nicht schon des Schutzbereichs (sofern man beim Gleichheitssatz diese Vokabeln bemühen möchte). (b) Hier liegt recht offensichtlich auch eine Ungleichbehandlung verschiedener Religionen (und damit von wesentlich Gleichem) hinsichtlich ihrer Repräsentation in staatlichen Einrichtungen vor. (2) Fraglich kann also nur die Rechtfertigung sein. (a) Dabei ist zu fragen, ob zwischen den Vergleichsgruppen hinsichtlich des geregelten Sachverhalts ein solcher Unterschied besteht, der die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermag. Hier wird man dann in der Tat angesichts der geringen Beeinträchtigung der Rechtssphäre der Grundrechtsträger die sog. Willkürformel heranziehen müssen, sodass schon ein sachlicher Grund für die Rechtfertigung ausreicht. (b) Bei der Beurteilung, ob ein solcher vorliegt, spielt die staatliche Neutralitätspflicht aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 I, 137 I WRV eine maßgeblich Rolle. Berücksichtigt man noch, dass Art. 3 III GG eine Ungleichbehandlung aus Gründen des Glaubens "verbietet", muss man zu dem Schluss kommen, dass die kulturelle Verankerung des Christentums in Deutschland und insbesondere Bayern hier nicht als Rechtfertigung angeführt werden kann. Vielmehr handelt es sich bei der von der bayerischen Staatsregierung angeführten Begründung um eine bloße Schutzbehauptung: Wegen Art. 3 III GG muss der Grund der Ungleichbehandlung in einem anderen Gesichtspunkt als der Religion selber liegen. Man kann aber nicht sagen, dass das Kreuz Ausdruck einer besonderen kulturellen Prägung Bayerns ist, ohne seinerseits auf das Christentum zu rekurrieren. Denn letztlich wird hier gerade auf diese christliche Prägung der bayerischen Kultur abgestellt. Damit ist das Argument der kulturellen Prägung lediglich ein Scheinargument, welches die Bevorzugung einer bestimmten Religion verdecken soll. (c) Zwar mag eine besondere Verankerung in der Bevölkerung grundsätzlich eine Besserstellung in bestimmten Belangen zu rechtfertigen (bspw. bei der Festlegung von Feiertagen oder der Ausgestaltung des Religionsunterrichts). Dies trifft hinsichtlich des Aufhängens von Kreuzen in
Behörden aber nicht zu. Damit identifiziert sich der Staat mit dieser Religion in einer Weise, die mit der staatlichen Neutralitätspflicht unvereinbar ist. Es ist richtig, dass das GG - im Gegensatz zur französischen Verfassung - keinen strikten Laizismus vorsieht. Das erlaubt es aber nicht, dass der Staat gezielt Symbole einer Religion in seiner Darstellung nach außen heranzieht und sich dadurch mit ihr identifiziert. Dass eine solche Repräsentation gewollt ist, zeigt gerade auch die zugrundeliegende Verwaltungsvorschrift: Der "Kreuzerlass" soll die besondere kulturelle, sprich christliche, Prägung Bayerns zum Ausdruck bringen. Für eine solche Bevorzugung in der Selbstdarstellung gibt es jedoch in einem auf weltanschaulicher Neutralität angelegten Rechtsstaat keine sachlichen Rechtfertigungsgrund.

LorenaGiacco
16.5.2025, 12:56:57
Hallo @[Simon](131793), vielen Dank für Deine interessanten Gedanken zu dem Urteil! Ich kann Deine Kritik gut nachvollziehen und halte das Urteil auch nicht für durchweg überzeugend. Zu Deinen Punkten: (1) (a) und (b) : Das sehe ich beides genauso. Dass das BVerwG hier schon „tatbestandlich“ eine relevante Ungleichbehandlung ablehnt, halte ich nicht für überzeugend. (2) (a) Zur Rf.: Hier würde ich sogar einen Schritt weitergehen und sagen, dass der
Prüfungsmaßstabdie Verhältnismäßigkeitsprüfung iSd „Neuen Formel“ wäre — zwar gefühlt geringe Intensität der Kreuze, aber neben
Art. 3 GGist zugleich der Schutzbereich der (negativen) Glaubensfreiheit, also einem speziellen Freiheitsgrundrecht eröffnet. Außerdem ist ein Differenzierungsmerkmal des Art. 3 Abs. 3 GG (Religion) betroffen. Das spricht mE beides für den strengeren
Prüfungsmaßstab. (b) Aber egal ob Willkürformel oder VHMK, in beiden Fällen bedarf es eines sachlichen Grundes bzw. eines legitimen Zwecks. Dass du einen solchen ablehnst, finde ich gut vertretbar. Insbesondere, dass gerade wegen der Neutralitätspflicht kein Verweis auf die Bedeutung des Christentums erlaubt ist und die „abendländische Kultur“, auf die Bezug genommen wird, eben maßgeblich christlich geprägt ist. Auch finde ich bemerkenswert (fragwürdig), dass das Land Bayern hier versucht, dem Kreuz als zentrales Symbol des Christentums eine neue, rein kulturelle Bedeutung zu geben. (c) Auch hier stimme ich Dir zu, ebenso betont Kirchenrechtler Heinig: Entscheidend sei nicht die Intensität der Konfrontation für Besucher, "sondern das – von einem verständigen
Empfängerhorizontaus betrachtet – neutralitätswidrige Erscheinungsbild des Staates", das eine Religionskultur demonstrativ heraushebe und damit den Anspruch auf gleichberechtigte Achtung aller Bürger verletze.“ (https://www.br.de/nachrichten/bayern/soeders-kreuzerlass-besteht-vor-gericht-recht-auf-unserer-seite). -- Wie am Ende erwähnt, hat der Bund für Geistesfreiheit angekündigt, Verfassungs
beschwerde bei dem BVerfG einzulegen. Es bleibt spannend, wie das BVerfG entscheiden wird. Trotz aller (berechtigter) Kritik haben wir aber natürlich auch das Ziel, Euch die Rechtsprechungsfälle so zu präsentieren, wie sie entschieden wurden und die Argumentation des Gerichts abzubilden. Ich hoffe aber, dass die Einordnungen an den entsprechenden Stellen und dieser Austausch zum Nachdenken anregen und aufzeigen, dass man in der Klausur selbstverständlich nicht auf der Linie des BVerwG entscheiden muss. Im Gegenteil sollten wir alle auch höchstrichterliche Entscheidungen kritisch hinterfragen, gerade das Verfassungsrecht lebt von pluralen, gut begründeten Auffassungen. Daher würde Deine starke Argumentation mind genauso punkten! :) Danke und beste Grüße, Lorena - für das Jurafuchs-Team

Simon
16.5.2025, 14:01:25
Vielen Dank für Deine sehr hilfreiche und ausführliche Antwort!
Jonihier
23.5.2025, 08:02:05
Ich möchte mich hier mal herzlich für diese Kommentare bedanken! Das hilft bei der Auseinandersetzung mit den Themen enorm und ist eine große Bereicherung!