+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Ein bei H versicherter Fahrzeughalter verursacht schuldhaft einen Unfall, bei dem das Auto der K beschädigt wird. Laut Gutachten beträgt der Schaden €3.000 Euro. K lässt den Wagen in der Türkei fachgerecht reparieren. K verklagt H auf Zahlung der €3.000 Euro. Im Prozess äußert K sich zu den tatsächlich entstandenen Kosten nicht.
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Einordnung des Falls
Ersatz fiktiver Reparaturkosten bei tatsächlicher Reparatur
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. K hat dem Grunde nach einen Anspruch auf Schadensersatz gegen H wegen der Beschädigung ihres Autos. Ergibt sich der Umfang des Schadensersatzes aus den §§ 249ff. BGB?
Genau, so ist das!
Hs Haftung ergibt sich aus § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG. Da sie dem Grunde nach unstreitig ist, thematisieren wir sie hier nicht weiter und konzentrieren uns auf den Schwerpunkt des Falles. In einer Klausur müsstest Du den Haftungsgrund (zumindest kurz) prüfen. Übungsfälle zur Haftung bei einem Verkehrsunfall findest Du
hier . Wir befassen uns im Folgenden ausschließlich mit dem Umfang der Haftung.
Die §§ 249ff. BGB finden grundsätzlich auf alle Schadensersatzansprüche Anwendung. Nach § 249 Abs. 1 BGB kann die Geschädigte zunächst die Herstellung des Zustands vor dem schädigenden Ereignis verlangen (sog. Naturalrestitution). Wenn wegen Verletzung einer Person oder wegen Beschädigung einer Sache Schadensersatz zu leisten ist, so kann die Geschädigte gemäß § 249 Abs. 2 S. 1 BGB statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen (sog. Ersetzungsbefugnis).
K steht ein Anspruch wegen Beschädigung einer Sache zu. Sie kann also von H die Reparatur (§ 249 Abs. 1 BGB) oder den dafür erforderlichen Geldbetrag (§ 249 Abs. 2 S. 1 BGB) verlangen.Rechtsprechung Zivilrecht-Wissen in 5min testen
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2. K hat Schadensersatz in Geld nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB gefordert. Werden im Rahmen von § 249 Abs. 2 S. 1 BGB grundsätzlich nur die erforderlichen Herstellungskosten ersetzt?
Ja, in der Tat!
Bevor Du konkret darauf eingehen kannst, ob die von K verlangten Kosten i.H.v. €3.000 ersatzfähig sind, musst Du den richtigen Maßstab des § 249 Abs. 2 S. 1 BGB bilden. Hier gibt es einige Besonderheiten zu beachten, auf die wir hier Schritt für Schritt eingehen.
Nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB ist der zur Wiederherstellung „erforderliche“ Geldbetrag zu ersetzen. Die Geschädigte muss demnach bei mehreren zum Schadensausgleich führenden Möglichkeiten grundsätzlich diejenige wählen, die den geringsten Aufwand erfordert (Wirtschaftlichkeitsgebot). Es sind alle Aufwendungen nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB zu ersetzen, die vom Standpunkt eines verständigen, wirtschaftlich denkenden Menschen in der Lage der Geschädigten zur Behebung des Schadens zweckmäßig und angemessen erscheinen. K hat den Pkw reparieren lassen. Grundsätzlich kann sie den Geldbetrag von H verlangen, der für die Reparatur erforderlich war. Vorliegend verlangt K aber gerade nicht den Ersatz von tatsächlich entstandenen Kosten. Vielmehr möchte sie die fiktiven Kosten ersetzt bekommen, die sich aus dem Sachverständigengutachten ergeben.
Neben dem Wirtschaftlichkeitsgebot gilt im Schadensrecht grundsätzlich das Bereicherungsverbot. Die Geschädigte soll zwar volle Herstellung verlangen können, aber nicht am Schadensfall „verdienen”.
3. K verlangt von H den Ersatz sog. fiktiver Reparaturkosten.
Regelt § 249 Abs. 2 S. 1 BGB ausdrücklich, dass der Geschädigten den „erforderlichen“ Geldbetrag nur für eine tatsächlich vorgenommene Reparatur verlangen kann?
Nein!
Aus § 249 Abs. 2 S. 1 BGB ergibt sich gerade nicht ausdrücklich, dass der Geschädigte den Geldbetrag auch für eine Reparatur verwenden muss.
Nach ständiger Rechtsprechung kann die geschädigte Fahrzeugeigentümerin entscheiden, ob sie ihr Auto reparieren lässt oder nicht (Dispositionsfreiheit). Für den Fall, dass sie ihr Auto nicht reparieren lässt, kann sie – auf fiktiver Basis – die erforderlichen Kosten für eine Reparatur verlangen (§ 249 Abs. 2 S. 1 BGB). Der Schaden wird dann ausschließlich auf abstrakter Grundlage in einem Sachverständigengutachten berechnet. Der Schadensersatzanspruch besteht also unabhängig davon, ob die Geschädigte das Fahrzeug tatsächlich voll, minderwertig oder überhaupt reparieren lässt.
K könnte von H also grundsätzlich auch ohne tatsächliche Reparatur Ersatz der hypothetisch erforderlichen Kosten verlangen, die sich aus dem Sachverständigengutachten ergeben.
Die fiktive Abrechnung kann im Spannungsverhältnis zum schadensrechtlichen Bereicherungsverbot stehen. Denn häufig werden Pkw erheblich günstiger als nach dem Sachverständigengutachten repariert. Die Besonderheit in diesem Fall besteht darin, dass K die fiktiven Reparaturkosten verlangt, obwohl sie den Pkw bereits hat reparieren lassen und somit grundsätzlich auch die tatsächlichen Reparaturkosten geltend machen könnte.
4. K hat die Reparatur bereits vorgenommen, verlangt aber dennoch die (fiktiven) Reparaturkosten nach dem Gutachten. Spricht der Grundsatz der Dispositionsfreiheit dafür, dass K grundsätzlich frei entscheiden kann, ob sie auf konkreter oder fiktiver Grundlage abrechnet?
Genau, so ist das!
Grundsätzlich kann ein Schaden nur so abgerechnet werden, wie er tatsächlich angefallen ist (konkrete Schadensberechnung). Ausnahmsweise ermöglicht es § 249 Abs. 2 S. 1 BGB, einen Sachschaden auch fiktiv zu berechnen. Es steht der Geschädigten dabei frei, ob sie konkret oder fiktiv abrechnet.
K kann somit grundsätzlich frei entscheiden, ob sie den Schaden auf konkreter (= tatsächlicher) oder fiktiver Grundlage abrechnet.
Nur bei Personenschäden besteht keine Dispositionsfreiheit. Es können dann keine fiktiven, sondern nur tatsächlich angefallene Heilungskosten verlangt werden. Den Verletzten soll kein Anreiz geboten werden, einen erlittenen Schaden nicht zu behandeln. Eine Geldentschädigung ist bei Personenschäden allein im Rahmen des § 253 BGB möglich.
5. Innerhalb von § 249 Abs. 2 S. 1 BGB werden grundsätzlich nur die erforderlichen Herstellungskosten ersetzt. Könnte dies dafür sprechen, dass K hier ausnahmsweise nur die konkrete Schadensabrechnung geltend machen kann?
Ja, in der Tat!
Die zentrale Frage ist weiterhin: Darf K fiktiv abrechnen, obwohl sie bereits eine Reparatur durchgeführt hat?
Nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB ist der zur Wiederherstellung der Sache „erforderliche“ Geldbetrag zu ersetzen. Dies ist bei mehreren zum Schadensausgleich führenden Möglichkeiten grundsätzlich diejenige, die den geringsten Aufwand erfordert (Wirtschaftlichkeitsgebot). Wenn die Geschädigte die Reparatur bereits vorgenommen hat, können die tatsächlichen Kosten geringer gewesen sein als im Gutachten vorgesehen. Der „erforderliche” Geldbetrag wäre dann eindeutig bestimmbar. Aus dieser Perspektive erscheint es zunächst unschlüssig, darüber hinaus fiktiv abrechnen zu wollen.
K verfügt über genaue Informationen zu den Reparaturkosten, hat diese jedoch nicht offengelegt. Dies könnte dafür sprechen, dass sie den Schaden hier ausnahmsweise nur konkret nach diesen Kosten abrechnen darf.
Dagegen spricht allerdings die Dispositionsfreiheit der K: Sie könnte auch den „erforderlichen” Geldbetrag verlangen, wenn sie gar nicht reparieren möchte.
6. Im Schadensrecht gilt das Verbot der Bereicherung durch Schadensersatz. Spricht dies dafür, dass K fiktiv abrechnen darf, obwohl sie bereits eine möglicherweise günstigere Reparatur im Ausland vorgenommen hat?
Nein!
Nach einer Ansicht ist der Schadensersatz wegen des Verbots der Bereicherung in diesem Fall auf die tatsächlich angefallenen Kosten begrenzt. Wenn die Geschädigte tatsächlich eine günstigere Reparatur vorgenommen hat, als die fiktive Abrechnung im Gutachten ergeben hat, werde sie in unzulässiger Weise durch den Unfall bereichert.
Das Gutachten bezieht sich auf den regionalen Markt für eine Reparatur in Deutschland. Ks Reparaturkosten in der Türkei sind deshalb möglicherweise niedriger als im Gutachten errechnet. Sie könnte bei fiktiver Abrechnung um die Differenz bereichert werden. Nach dieser Ansicht ist K daher verpflichtet, die tatsächlichen Reparaturkosten darzulegen oder eine Rechnung der Reparatur vorzulegen. Der Schadensersatzanspruch beschränke sich danach auf die tatsächlich angefallenen Kosten.
Das ist das zentrale Problem des Falles. Hier solltest Du differenziert zwischen dem Bereicherungsverbot und den Grundsätzen zur fiktiven Schadensabrechnung abwägen.
7. Eine nachträgliche Begrenzung auf die tatsächlichen Kosten würde dazu führen, dass K bei einer Reparatur vor dem Prozess schlechter stünde, als wenn sie die Reparatur erst nach dem Prozess vorgenommen hätte. Spricht dies dafür, dass sie die fiktiven Reparaturkosten abrechnen darf?
Genau, so ist das!
Nach einer Ansicht darf die Geschädigte nur die tatsächlich angefallenen Reparaturkosten ersetzt verlangen. Gegen diese Ansicht spricht, dass die Höhe des Schadensersatzes davon abhängen würde, wann die Reparatur durchgeführt wurde. Wer erst nach dem Prozess repariert, kann sich dann frei für die günstigste Werkstatt entscheiden und hat trotzdem bereits den fiktiven Schaden laut Gutachten ersetzt bekommen. Wer jedoch schon vorher reparieren lässt, soll auf die tatsächlichen – möglicherweise niedrigeren – Kosten beschränkt sein. Dadurch könnten zwei Geschädigte für den gleichen Schaden unterschiedlich viel Geld bekommen – je nachdem, wann sie die Reparatur vornehmen.
K hätte auch nach dem Prozess ihren Wagen in der Türkei reparieren lassen können. Das spricht gegen die erste Ansicht und dafür, dass sie auch auf fiktiver Basis abrechnen kann.
8. Die „erforderlichen” Kosten (§ 249 Abs. 2 S. 1 BGB) sind objektiv ohne Bezug zu tatsächlichen Aufwendungen zu bestimmen. Kann K deshalb nach der Auslegung des BGH die fiktiven Reparaturkosten verlangen, ohne sich zur Reparatur äußern zu müssen?
Ja, in der Tat!
BGH: Bei fiktiver Abrechnung ist der objektiv zur Herstellung erforderliche Betrag ohne Bezug zu tatsächlich getätigten Aufwendungen zu ermitteln. Die Geschädigte ist nicht verpflichtet, sich zu einer etwaigen Reparatur konkret zu äußern (RdNr. 12). Sie muss weder darlegen, ob sie ihren Unfallwagen hat reparieren lassen, noch auf welche Weise und in welchem Umfang die Reparatur durchgeführt worden ist.
K ist nicht verpflichtet, sich zu einer Reparatur zu äußern. Etwaige finanzielle Vorteile durch die Reparatur in der Türkei sind im Rahmen der fiktiven Schadensabrechnung nicht zu berücksichtigen. Somit kann K von H die fiktiven Reparaturkosten auf Grundlage des Gutachtens verlangen.
In einigen Fällen haben Gerichte in der Vergangenheit angenommen, bei fiktiver Abrechnung sei der Anspruch der Geschädigten wegen des Bereicherungsverbots auf die tatsächlichen Reparaturkosten begrenzt (OLG Hamm, Urt. v. 6.5.2016 - 11 U 93/15; OLG Stuttgart, Urt. v. 30.6.2014 - 5 U 28/14). Der BGH hat sich nun klar dagegen positioniert.
9. Kann H die K wegen der Schadensminderungspflicht auf die günstigere Reparaturmöglichkeit in der Türkei verweisen, sodass ihr Schadensersatzanspruch auf die dort entstandenen Kosten begrenzt ist (§ 254 Abs. 2 BGB)?
Nein!
Die Geschädigte muss sich wegen der Schadensminderungspflicht (§ 254 Abs. 2 BGB) auf eine mühelos zugängliche, gleichwertige Reparaturmöglichkeit verweisen lassen, die dem Qualitätsstandard einer Fachwerkstatt entspricht. Dann ist der Schadensersatzanspruch nach der Rechtsprechung des BGH auf die Kosten in dieser Werkstatt zu kürzen.
Bei einer Werkstatt in der Türkei handelt es sich von vornherein nicht um eine für K mühelos und ohne Weiteres zugängliche Werkstatt. Somit konnte H sie auch nicht auf diese Reparaturmöglichkeit verweisen. Im Ergebnis hat K gegen H einen Anspruch auf Zahlung von €3.000 aus § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG, § 249 Abs. 1 S. 1 BGB.
Die Erstattungsfähigkeit von Schäden bei Verfügbarkeit einer günstigeren Werkstatt kannst Du in diesem Fall vertiefen.
Die Beweislast für die Verweisung trägt die schadensersatzpflichtige Partei. Trägt die Geschädigte von sich aus zu einer durchgeführten günstigeren Reparatur im Ausland vor, verweist sie sich sozusagen „selber” dorthin und ihre Kosten sind auf die dortigen Kosten beschränkt. 10. Stärkt der BGH durch dieses Urteil die fiktive Schadensabrechnung zulasten des schadensrechtlichen Bereicherungsverbots?
Genau, so ist das!
Der BGH betont mit dieser Entscheidung die freie Wahl der Geschädigten zwischen fiktiver und konkreter Schadensabrechnung. Bei fiktiver Abrechnung müssen sie im Prozess nichts zu etwaigen Reparaturen vortragen. Müsste die Geschädigte die tatsächlichen Kosten offenlegen, wäre eine fiktive Abrechnung nur noch dann sinnvoll, wenn die Reparatur erst nach dem Prozess erfolgt.
In diesem Fall kam es entscheidend darauf an, das Spannungsverhältnis zwischen Bereicherungsverbot und den Grundsätzen der fiktiven Abrechnung (insbesondere Dispositionsfreiheit) zu erkennen und damit zu argumentieren.
In einer früheren Entscheidung (BGH, Urt. v. 3.12.2013 - VI ZR 24/13) hat der Geschädigte zu einer günstigeren Reparatur im Prozess vorgetragen. Damals hat der BGH entschieden, dass die Schadensminderungspflicht (§ 254 Abs. 2 BGB) greift und der Geschädigte nur noch die tatsächlichen Reparaturkosten verlangen kann. Der entscheidende Unterschied war, dass er bereits von sich aus zu den Kosten vorgetragen hatte. In der aktuellen Entscheidung betonte der BGH, dass aus dem Urteil von 2013 keine generelle Pflicht folgt, tatsächliche Reparaturkosten offenzulegen.