Referendariat

Die Revisionsklausur im Assessorexamen

Begründetheit II: Verletzungen des Verfahrensrechts (Verfahrensrüge)

Freiwilliges Verlassen des Saals und Disposition über den Öffentlichkeitsgrundsatz

Freiwilliges Verlassen des Saals und Disposition über den Öffentlichkeitsgrundsatz

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Zeugin Z erklärt, sie verweigere das Zeugnis, wenn die Zuschauer der Vernehmung beiwohnen. Angeklagter A erklärt, er sei grundsätzlich mit einem Ausschluss der Öffentlichkeit einverstanden. Die Vorsitzende bittet die Zuschauer, den Saal für die Vernehmung zu verlassen, was sie tun.

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Einordnung des Falls

Freiwilliges Verlassen des Saals und Disposition über den Öffentlichkeitsgrundsatz

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. § 169 Abs. 1 S. 1 GVG ist schon deshalb nicht verletzt, weil die Zuschauer den Saal freiwillig verlassen haben.

Nein, das trifft nicht zu!

Verlässt ein Zuschauer freiwillig den Saal, schränkt dies die Öffentlichkeit grundsätzlich nicht ein. Wenn dies auf die Bitte des Gerichts hin geschieht, ist die Öffentlichkeit nur dann nicht berührt, wenn die Bitte nicht den Eindruck einer verbindlichen Anordnung macht und es feststeht, dass der Betroffene ihr freiwillig ohne erkennbaren Widerspruch nachkommt.Richtet der Vorsitzende die Bitte - wie hier - an alle Zuschauer, dürfte allein durch die Autorität des Gerichts und die Gruppendynamik der Zuschauer der psychische Druck so groß sein, dass die Zuschauer auf die Wahrnehmung ihres Anwesenheitsrechts verzichten, sodass dies einem förmlichen Ausschluss der Öffentlichkeit gleichkommt. Dies gilt auch dann, wenn diese den Saal „freiwillig” räumen.Eine andere Ansicht ist je nach Einzelfall natürlich durchaus vertretbar.
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2. Die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ist jedoch geheilt, da A dem Ausschluss der Öffentlichkeit zugestimmt hat.

Nein!

Ein Verzicht von Verfahrensbeteiligten auf die Beachtung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ist rechtlich nicht vorgesehen. Das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) regelt die Möglichkeiten der Beschränkung der Öffentlichkeit in den §§ 171ff. GVG umfassend. Ein einvernehmliches Entfernen der Zuschauer bzw. einen Verzicht des Angeklagten sehen die Normen gerade nicht vor. Auch dient der Öffentlichkeitsgrundsatz nicht nur dem Interesse des Angeklagten, sondern dem allgemeinen Interesse an der Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Darüber können der Angeklagte und das Gericht naturgemäß nicht disponieren.Der Öffentlichkeitsgrundsatz (§ 169 Abs. 1 S. 1 GVG) ist also trotz des Einverständnisses des A verletzt.

3. Infolge der Zustimmung zum Ausschluss, könnte As Rügemöglichkeit verwirkt sein.

Genau, so ist das!

Aus dem allgemeinen Verbot des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens wird von einem Teil der Literatur abgeleitet, dass die Geltendmachung der Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes in der Revision auch durch einen unwirksamen Verzicht oder einen eigenen Antrag auf die nichtöffentliche Verhandlung verwirkt wird. Der Angeklagte verhalte sich widersprüchlich, wenn er dem Ausschluss zustimme und andererseits dies dann in der Revision rüge.Danach wäre A in der Revision mit der Rüge präkludiert, da er sein Einverständnis erklärt hatte.

4. Eine Gegenansicht geht davon aus, dass die Öffentlichkeitsrüge nie durch ein Einverständnis des A verwirkt sein könne.

Ja, in der Tat!

Gegen eine Verwirkung spreche gerade, dass die Öffentlichkeit nicht zur Disposition des Angeklagten steht und durch das Gericht von Amts wegen sichergestellt werden muss. Ein Einverständnis des A könne damit nichts daran ändern, dass das Urteil zu seinen Lasten rechtsfehlerhaft erging und die Aufhebung des Urteils angezeigt sei.

5. Grenzt man bei der Verwirkung nach dem Grad der Missbräuchlichkeit des Verhaltens des Angeklagten ab, ist hier eine Rüge des A wegen Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes in der Revision weiterhin zulässig.

Ja!

Eine vermittelnde Ansicht differenziert nach dem Grad der Missbräuchlichkeit. Beantragt der Angeklagte der Sache nach naheliegend einen Ausschluss, kann er diesen später nicht rügen, auch wenn er im Ergebnis zu Unrecht erfolgt. Dagegen könne der generellen Zustimmung des Angeklagten zu einem Ausschluss der Öffentlichkeit nicht automatisch die Zustimmung auch zu einem gesetzeswidrigen Verfahren entnommen werden.Hier greift offensichtlich kein gesetzlicher Ausschlussgrund. Auch ging der Impuls zum Ausschluss vom Gericht aus, nicht von A, der nur sein generelles Einverständnis erklärt. In der Gesamtbetrachtung dürfte die Rüge mangels rechtsmissbräuchlichen Verhaltens nicht verwirkt sein.Die Rechtsprechung ist hier uneinheitlich und einzelfallbezogen. In der Klausur hast du damit großen Argumentationsspielraum. Werte deshalb sorgfältig den Sachverhalt aus.
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