Neutrale Handlungen

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

K geht zu ihrer Bank und verlangt, dass die Bankangestellte B Geld über einen anonymen Kapitaltransfer ins Ausland überweist. B erkennt, dass K so Steuern hinterziehen will. Sie nimmt die Überweisung dennoch vor.

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Einordnung des Falls

Neutrale Handlungen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. B könnte sich wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung strafbar gemacht haben, als sie die Überweisung ins Ausland für K vornahm (§ 370 AO, § 27 StGB).

Ja!

Dafür müsste B zur vorsätzlichen, rechtswidrigen Tat des K Hilfe geleistet und mit doppeltem Gehilfenvorsatz gehandelt haben.
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2. Weil das Ausführen von Überweisungen zu ihrem Job gehört, ist eine Strafbarkeit von B unstrittig ausgeschlossen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Fremde Straftaten können auch durch alltägliche oder berufstypische Handlungen in strafbarer Weise unterstützt werden. Da für die Gehilfenstrafbarkeit bereits ein Eventualvorsatz genügt, droht jedoch eine ausufernde Strafbarkeit wegen Beihilfe. Diese muss auch mit Hinblick auf die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) begrenzt werden. Ob eine Begrenzung der Strafbarkeit sich eher nach objektiven oder subjektiven Kriterien richten soll, ist dabei umstritten.Eine absolute Mindermeinung will die Strafbarkeit bei neutralen und berufsadäquaten Handlungen nicht einschränken. Dieser Ansatz wird in Hinblick auf die oben genannten Grundrechte weitgehend abgelehnt.

3. Nach der Lehre von der Sozialadäquanz sind objektiv sozialadäquate Handlungen nicht strafbar.

Ja, in der Tat!

Die Lehre von der Sozialadäquanz verlangt, dass sozial adäquate Handlungen aus dem objektiven Tatbestand der Beihilfe ausscheiden. Sozialübliche Handlungen würden bereits kein rechtlich missbilligtes Risiko schaffen und seien deswegen nach den Regeln der objektiven Zurechnung unbeachtlich. Dies gelte, solange die Handlung auch ohne anschließendes Täterverhalten noch sinnvoll bleibe und nicht unmittelbar in Zusammenhang mit einem Delikt stehe.Die Ausführung von Überweisungen nach Auftrag gehört zu Bs Job. Auch ist das allgemeine Wirtschafts- und Handelsleben darauf angewiesen, dass Banken täglich zahlreiche Überweisungen für ihre Kunden ausführen. Die Ausführung der Überweisung war deswegen sozialadäquat und ist nach dieser Ansicht nicht strafbar.

4. Die Lehre vom deliktischen Sinnbezug vereint objektive und subjektive Kriterien.

Ja!

Die Lehre vom deliktischen Sinnbezug, der sich im Ergebnis auch die Rspr. anschließt, fokussiert sich grundsätzlich auf den Handlungszweck. Sie unterscheidet, ob der Hilfeleistende mit sicherem Wissen (dolus directus 2. Grades) oder mit Eventualvorsatz (dolus eventualis) handelt: 1) Zielt das Handeln des Haupttäters auf die Begehung einer Straftat ab und weiß der Hilfeleistende das positiv, mache der Gehilfe sich strafbar, wenn der Tatbeitrag einen objektiv deliktischen Sinnbezug aufweist. Das ist dann der Fall, wenn direkt eine Handlung deliktischer Natur gefördert wird oder einziger Zweck die Ermöglichung oder Erleichterung einer Straftat ist. 2) Handele der Hilfeleistende nur mit Eventualvorsatz und dürfe er wegen des Alltagscharakters auf die Legalität des Handelns vertrauen, mache er sich dagegen nicht strafbar. Das gelte aber nicht bei erkennbar Tatgeneigten.B hat für K Geld über einen anonymen Kapitaltransfer ins Ausland überwiesen. Das ist eine grundsätzlich legale Handlung. Ihr einziger Zweck ist jedoch die Ermöglichung oder Erleichterung einer Steuerhinterziehung. Das hat B auch erkannt. Ein deliktischer Sinnbezug besteht mithin.

5. Die Ansichten kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Damit ist ein Streitentscheid nötig.

Genau, so ist das!

Die Lehre vom deliktischen Sinnbezug führt mit ihrer Fokussierung auf subjektive Kriterien zu einer Strafbarkeit wegen der inneren Einstellung des Täters. Dadurch droht ein verfassungswidriges „Gesinnungsstrafrecht”. Zudem kann sie zu zufälligen Ergebnissen führen, je nachdem, ob sich der Hilfeleistende vorstellt, der Täter würde die Hilfe nur für eine Straftat oder zusätzlich auch für legale Zwecke nutzen. Gegen die Lehre von der Sozialdäquanz spricht hingegen, dass sie wenig trennscharf ist. Zudem stehen auch Handlungen im beruflichen Leben in einem sozialen Kontext und können nicht isoliert als sozialadäquat betrachtet werden.Die „neutrale” Beihilfe ist ein echter Klausurklassiker. Hier ist vor allem Problembewusstsein ob der jewiligen Stärken und Schwächen einer objektiven bzw. subjektiven Einschränkung gefragt. Achte darauf, dass du auch die Argumente des Sachverhalts für deine Argumentation nutzt.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

TI

Tinki

18.8.2024, 17:28:34

Ich verstehe nicht so ganz, warum überhaupt höhere Anforderungen angelegt werden. Mit Blick auf die Grundrechte scheint es mir keine zu krasse Einschränkung der Berufsfreiheit (oder Handlungsfreiheit), wenn der Berufstätige den Erfolg als möglich erkennt und es billigend in Kauf nimmt, dass der andere es zu der Begehung von Strafbarkeiten nutzt. Erst Recht verstehe ich nicht, warum über das positive Wissen des Berufstätigen hinaus noch der deliktsspezifische Sinnbezug gefordert wird? Vielen Dank für eine Erklärung!

TI

Tinki

18.8.2024, 17:29:35

@[Nora Mommsen](178057)@[Lukas_Mengestu](136780)

Jakob G.

Jakob G.

6.9.2024, 14:10:24

Als Anwält*in ist es ja schwierig, dem dolus eventualis i.S. der Billigungsformel zu entgegehn. Es nicht wenigstens für möglich und nicht ganz fernliegend zu halten, dass der Rechtsrat zur Begehung von Straftaten genutzt wird. Das kann z.B. auch in einem Rat liegen, der skizziert, welches Verhalten gesetzestreu wäre. Das das Kausalitätserfordernis der Rspr. in Bezug auf die Beihilfehandlung wird so weicht gehandhabt, sodass nicht von vorn herein klar ist, ob sich hierin ein Fördern der Tat 'verbirgt'. Dann bliebe noch das Billigungskriterium. Um dem zu entgehen, würde sich ja eine Nachfrage bei der Mandantschaft aufdrängen. Dazu gehalten zu sein, ist schon eine tiefgreifende Berufsausübungsregelung. Denn wenn tatsächlich mit Wissen der Anwält*in Straftaten begangen würden, kommt irgendwann der Moment wo das Mandat niedergelegt werden muss.


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