+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Verein A meldet eine öffentliche Gebetsmahnwache gegen Schwangerschaftsabbrüche an. Sie soll örtlich auf der anderen Seite eines Platzes gegenüber einer Beratungsstelle für Schwangerschaftsabbrüche stattfinden. Die zuständige Behörde verfügt, dass die Mahnwache dort während deren Öffnungszeiten nicht stattfinden darf.
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Einordnung des Falls
Mahnwache von Abtreibungsgegnern gegenüber einer Beratungsstelle für Schwangerschaften (VGH Kassel, Beschl. v. 18.03.2022 - 2 B 375/22)
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Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Die Behörde hat die sofortige Vollziehung der Verfügung angeordnet. Ist hier ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 5 Alt. 1 VwGO) statthaft?
Nein, das trifft nicht zu!
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO) ist statthaft, wenn die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs des Antragstellers gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 1-3a VwGO gesetzlich entfällt. Demgegenüber ist der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO) statthaft, wenn der Antragsteller die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs begehrt, der gerichtet ist auf die Aufhebung eines gegen ihn erlassenen Verwaltungsakts, den die Behörde nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO für sofort vollziehbar erklärt hat.
A möchte hier die aufschiebende Wirkung der für sofort vollziehbar erklärten Verfügung, wonach er seine Mahnwache während der Öffnungszeiten der Beratungsstelle nur in 250 m Entfernung derselben und nicht direkt gegenüber abhalten darf, wiederherstellen. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Alt. 2 VwGO ist der statthafte Rechtsbehelf.
Das VG hat As Antrag stattgegeben. Hiergegen richtet sich die Ordnungsbehörde mit der Beschwerde vor dem VGH.
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2. Die Auflage der Behörde gegen As Versammlung auf Grundlage von § 15 Abs. 1 VersG setzt tatbestandlich voraus, dass die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung gefährdet ist.
Ja!
Nach § 15 Abs. 1 VersG kann die zuständige Behörde eine Versammlung verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Die öffentliche Sicherheit umfasst den Schutz der Unverletzlichkeit der objektiven Rechtsordnung, der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen sowie von Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates oder sonstiger Träger der Hoheitsgewalt. Es bedarf dabei einer versammlungsspezifischen Gefahr.
Vorliegend kommt eine Betroffenheit des Schutzguts der öffentlichen Sicherheit in Ausprägung des Teilschutzguts der subjektiven Rechte und Rechtsgüter Einzelner in Betracht. Dies ist u.a. dann der Fall, wenn im Zusammenhang der Versammlung die Versammlungsfreiheit mit Rechten und Rechtsgütern anderer Menschen in Konflikt gerät. Dies kann etwa die Versammlungsfreiheit von Gegendemonstranten sein oder auch – wie hier – das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Menschen, die durch die politische Meinungsäußerung, die von der Versammlung ausgeht, betroffen sind.
Die Ermächtigungsgrundlage des § 15 VersG gilt gemäß Art. 125a Abs. 1 GG in allen Bundesländern fort, die noch kein eigenes Versammlungsgesetz geschaffen haben. 3. Ist die Entscheidung des Veranstalters, die Mahnwache vor der Beratungsstelle für Schwangerschaftsabbrüche abzuhalten, von der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) geschützt?
Genau, so ist das!
Die grundrechtlich gewährleistete Versammlungsfreiheit ist als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung geschützt. Als Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugutekommt, gewährleistet sie den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Versammlung.
Demnach ist As Wahl des Versammlungsortes vom Schutz der Versammlungsfreiheit umfasst.
Vor einem Schwangerschaftsabbruch hat in Deutschland eine Beratung der Schwangeren in einer Not- und Konfliktlage zu erfolgen, in sog. Konfliktberatungsstelle zu Schwangerschaftsabbrüchen (§ 219 StGB). Dies ist eine Voraussetzung, damit ein Schwangerschaftsabbruch straflos ist (§ 281a Abs. 1 Nr. 1 StGB).
4. Das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt sowie Art und Inhalt der Veranstaltung gilt unbegrenzt.
Nein, das trifft nicht zu!
Das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt sowie Art und Inhalt der Versammlung ist durch den Schutz der Rechtsgüter Dritter und der Allgemeinheit begrenzt. Rechtsgüterkollisionen müssen die Behörden im Rahmen versammlungsrechtlicher Verfügungen z.B. durch Auflagen oder Modifikationen der Durchführung der Versammlung Rechnung zu tragen.
Als kollidierendes Rechtsgut kommt hier das das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) der Frauen in Betracht, die bei Schwangerschaften eine Konfliktberatungsstelle aufsuchen.
5. Zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) gehört auch der Schutz der Privatsphäre.
Ja!
Der Schutz der Privatsphäre hat nach der Rechtsprechung des BVerfG verschiedene Dimensionen. In thematischer Hinsicht betrifft er insbesondere solche Angelegenheiten, die wegen ihres Informationsinhalts typischerweise als „privat“ eingestuft werden. In räumlicher Hinsicht gehört zur Privatsphäre ein Rückzugsbereich des Einzelnen, der ihm die Möglichkeit des Zu-Sich-Selbst-Kommens und der Entspannung sichert und der das Bedürfnis verwirklichen hilft, „in Ruhe gelassen zu werden“ (RdNr. 26).
6. Der Schutzbereich der Privatsphäre ist räumlich auf Innenräume beschränkt.
Nein, das ist nicht der Fall!
Der Schutzbereich der Privatsphäre kann sich auch auf den außerhäuslichen Bereich erstrecken. Der Schutzumfang der Privatsphäre der ratsuchenden Frauen umfasst dabei auch den Zugang zu einer Konfliktberatungsstelle zu Schwangerschaftsabbrüchen, weil sie zur Inanspruchnahme der Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch gesetzlich verpflichtet sind (vgl. § 218a StGB) (RdNr. 32).
7. Kann das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Frauen, die eine Konfliktberatungsstelle für Schwangerschaftsabbrüche aufsuchen, durch eine Versammlung von Abtreibungsgegnern in räumlicher Nähe zur Beratungsstelle grundsätzlich betroffen sein?
Ja, in der Tat!
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist nicht erst durch aktives Zugehen und Ansprechen der Frauen durch die Versammlungsteilnehmer berührt. Ein derartiges körperliches Element ist nicht notwendig. Vielmehr kann auch psychischer Druck, der durch optische und akustische Wahrnehmung vermittelt wird, einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellen.
Demnach kann der Gewährleistungsgehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Frauen durch die Erzeugung von Schuld- und Schamgefühlen – z.B. mittels des Zeigens von Baby- und Fötusbildern – oder durch Gebete und Gesänge, betroffen sein (RdNr. 28).
Auch das schutzwürdige Geheimhaltungsinteresse hinsichtlich einer bestehenden Frühschwangerschaft und des in Erwägung gezogenen Schwangerschaftsabbruchs berührt das allgemeine Persönlichkeitsrecht der ratsuchenden Frauen (RdNr. 31).
8. Berührtjede Wahrnehmbarkeit von As Versammlung durch schwangere Frauen, die die Konfliktberatungsstelle für Schwangerschaftsabbrüche aufsuchen, deren allgemeines Persönlichkeitsrecht?
Nein!
VGH: Die Rechtsordnung kennt keinen Konfrontationsschutz vor nicht gewünschten Ansichten. Die besondere psychische Belastung von ungewollt schwangeren Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch in Betracht ziehen, ist zwar bei der Bestimmung des Schutzbereichs ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu berücksichtigen. Jedoch kann nicht jede unangenehme Empfindung, die die Frauen bei Wahrnehmung der Versammlung empfinden, deren räumliche Verlegung begründen. Dies wäre ein nicht gerechtfertigter Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (RdNr. 33).
9. Berührt As Versammlung auf der anderen Seite des Platzes gegenüber der Konfliktberatungsstelle für Schwangerschaftsabbrüche das allgemeine Persönlichkeitsrecht der ratsuchenden Frauen?
Nein, das ist nicht der Fall!
Ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der ratsuchenden schwangeren Frauen ist nur dann gegeben, wenn diese durch die Versammlung in eine unausweichliche Situation geraten, in der sie sich direkt und unmittelbar angesprochen sehen müssen.
Dies wäre erst der Fall, wenn die Versammlung so nahe an dem Eingang der Konfliktberatungsstelle für Schwangerschaftsabbrüche stattfände, dass die Versammlungsteilnehmer den Frauen direkt ins Gesicht sehen könnten, nicht aber, wenn sie auf der anderen Seite des Platzes stattfindet, wo die Versammlungsteilnehmer nur von weitem gesehen werden können (RdNr. 34f.).
10. Geht von As Versammlung eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus, mit der Folge, dass eine Verlegung des Versammlungsortes auf eine noch weitere Entfernung zur Beratungsstelle gemäß § 15 VerG gerechtfertigt ist?
Nein, das trifft nicht zu!
Nach § 15 VersG kann die zuständige Behörde kann die Versammlung von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Die öffentliche Sicherheit umfasst den Schutz der Unverletzlichkeit der objektiven Rechtsordnung, der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen sowie von Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates oder sonstiger Träger der Hoheitsgewalt.
Hier käme als Schutzgut das allgemeine Persönlichkeitsrecht der schwangeren in Betracht, aber ein Eingriff in dieses liegt nicht vor, da die Versammlung einen angemessenen Abstand zum Eingang der Beratungsstelle wahrt. Es fehlt also an einer Verletzung des Schutzguts der öffentlichen Sicherheit.
Der VGH – das geht aus der Entscheidung nicht zweifelsfrei hervor – scheint diesen Fall bereits auf Tatbestandsebene zu lösen und lehnt offenbar bereits eine Gefahr für das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit ab, weil durch die Versammlung die subjektiven Rechte und Rechtsgüter Einzelner – hier in Form des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der ratsuchenden Frauen – nicht betroffen seien. Ebenfalls denkbar wäre es, den Tatbestand zu bejahen und auf Rechtsfolgenseite die Verhältnismäßigkeit der Auflage zu verneinen.