Spaßveranstaltung als geschützte Versammlung? – Schutzbereich Art. 8 GG („Loveparade“)


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

Veranstalter A meldet bei Polizeipräsidentin P die „Love-Parade“ als Versammlung an. Geplant sind bunte Wagen, die mit Techno-Musik durch die Stadt ziehen. P meint, dass die Veranstaltung keine öffentliche Versammlung sei, und verbietet sie. A ist damit nicht einverstanden.

Einordnung des Falls

Spaßveranstaltung als geschützte Versammlung? – Schutzbereich Art. 8 GG („Loveparade“)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Eine Versammlung setzt voraus, dass die Teilnehmer einen gemeinsamen Zweck verfolgen.

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Ja, in der Tat!

Nach dem Versammlungsbegriff ist eine Versammlung (1) eine örtliche Zusammenkunft (2) mehrerer Personen (3) zu einem gemeinsamen Zweck. Der gemeinsame Zweck der Teilnehmer sowie deren dadurch entstehende innere Verbundenheit sind das Abgrenzungskriterium zur bloßen Ansammlung, die nicht in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 GG fällt. Umstritten ist, ob bzw. welche Anforderungen an den gemeinsamen Zweck zu stellen sind.

2. Die Love-Parade ist nach dem weiten Versammlungsbegriff eine Versammlung.

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Ja!

Auf der Love-Parade konsumieren die Teilnehmer nicht nur, sondern treten als Akteure auf, die ihr Lebensgefühl gemeinsam ausdrücken. Dieses zeigen sie, indem sie gemeinsam tanzen, feiern, Spaß haben und mit den Wagen durch die Straßen ziehen. In diesem Lebensgefühl liegt auch der gemeinsame Zweck der Teilnehmer. Nach dem weiten Versammlungsbegriff liegt eine Versammlung vor.

3. Auch nach einem erweiterten Versammlungsbegriff, der eine gemeinsame Meinungsbildung/-äußerung verlangt, erfüllt die Love-Parade die Voraussetzungen einer Versammlung.

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Genau, so ist das!

Nach einem erweiterten Versammlungsbegriff setzt eine Versammlung voraus, dass die Teilnehmer gemeinsam eine Meinung bilden bzw. kundtun. Eine Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung ist dabei nicht erforderlich. Gegen dieses Begriffsverständnis spricht, dass die Meinungsbildung und -äußerung auch über Art. 5 Abs. 1 GG geschützt ist; dafür spricht wiederum, dass eine Versammlung ohne Meinungsbildung oder Kundgabe nur schwer von einer Ansammlung zu unterscheiden ist. Auf der Love-Parade bilden und äußern die Teilnehmer ihre Meinung in Bezug auf ihr Lebensgefühl. Eine Versammlung liegt vor.

4. Nach dem weiten Versammlungsbegriff reicht jeder gemeinsame Zweck aus.

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Ja, in der Tat!

Nach dem weiten (teilweise auch offen genannten) Versammlungsbegriff ist eine Versammlung das Zusammenkommen mehrerer Menschen zur gemeinsamen Zweckverfolgung. An den Zweck, der verfolgt wird, werden nach dem weiten Versammlungsbegriff keine Anforderungen gestellt. Geschützt sind nach dem weiten Versammlungsbegriff daher auch reine Spaßveranstaltungen. Für den weiten Versammlungsbegriff spricht der offene Wortlaut des Art. 8 Abs. 1 GG, dagegen, dass er auch Veranstaltungen umfasst, die keines Schutzes über Art. 8 GG bedürfen (z.B. Mannschaftssport).

5. Auch nach dem engen Versammlungsbegriff, der eine auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtete Erörterung oder Kundgabe voraussetzt, liegt eine Versammlung vor.

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Nein!

Nach dem engen Versammlungsbegriff (BVerfG, st. Rspr.) ist eine Versammlung (1) eine örtliche Zusammenkunft (2) mehrerer Personen (3) zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Für den engen Versammlungsbegriff spricht: Historisch betrachtet bedarf die kommunikative Einflussnahme auf die öffentliche Meinung eines besonderen Schutzes. Denn gerade bei politischen Versammlungen, bei denen kommunikativ auf die öffentliche Meinungsbildung Einfluss genommen werden sollte, griff (und greift) der Staat ein. Gerade diesen Schutz soll Art. 8 Abs. 1 GG gewährleisten (Historie und Telos). Für den engen Versammlungsbegriff spricht auch, dass er – im Gegensatz zum weiten und zum erweiterten Versammlungsbegriff – eine klarere Abgrenzung zum Schutz der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) ermöglicht (Systematik). Eine Veranstaltung, die – wie bei der Love-Parade - der bloßen Zurschaustellung eines Lebensgefühls dient oder die als eine auf Spaß und Unterhaltung ausgerichtete öffentliche Massenparty gedacht ist, fällt nicht unter den engen Versammlungsbegriff.

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Vica

Vica

16.7.2020, 08:29:31

Eine Frage. Die Loveparade war ja nicht nur zum feiern und seine Lebensgefühle zu präsentieren da, sondern auch für die Gleichsetzung und Unterstützung anderer Sexualitäten. Liegt hier nicht so mit auch eine gemeinsame Meinungsbildung vor?

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

16.7.2020, 08:40:02

Hey Vica, danke für die Frage. War das auch 2001 schon so? Von dem Jahr ist nämlich die BVerfG Entscheidung. Zudem ist es "verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, die rechtliche Beurteilung (der Loveparade) danach zu richten, ob die Veranstaltung ihrem Gesamtgepräge nach eine Versammlung ist, oder ob der Spaß-, Tanz-, oder Unterhaltungszweck im Vordergrund steht." Laut unserem Sachverhalt wird hier mit bunten Wägen mit Twchnomusik durch die Stadt gefahren. Das ist keine Versammlung.

Vica

Vica

16.7.2020, 08:41:02

Vielen Dank für die Erklärung:)

EL

Elisabeth

21.8.2020, 09:12:49

Ich habe mal gehört, dass als Zweck in der Versammlungsanmeldung damals „Friede, Freude, Eierkuchen“ angegeben wurde.... (ohne Gewähr ;) ) Das ist zumindest formal auch kein Zweck um an der öffentlichen Meinungsbildung teilzuhaben/ bzw. für Gleichsetzung zu demonstrieren. Bemerkenswert ist allerdings, dass man mit der Wahl der „Formulierung“ des Versammlungszweck ein bisschen scheinheilig vorgeben könnte, man fördert einen von Art.8 I GG geschützten Zweck ohne das wirklich zu tun.... ?

Isabell

Isabell

11.9.2021, 11:33:28

Ich glaube mit den Jahren trat der Versammlungsaspekt immer mehr hinter dem Partyaspekt zurück. Aber auch das ohne Gewähr 😉

TAME

Tamer

12.12.2021, 13:15:58

Hätte noch eine Folgefrage. Wenn man den Versammlungsbegriff des Art. 8 I GG bejaht - den sachlichen Schutzbereich also eröffnet - spielt es dann eigentlich noch eine wirkliche Rolle, ob ich zwischen Versammlung und Aufzug differenziere? (Loveparade wäre ja, wenn wir so weit gekommen wären, vermutlich ein Aufzug gewesen.) Oder kann ich mir diese Differenzierung/Feststellung, ob Versammlung oder Aufzug "sparen"? Bei flüchtigem Blick ins VersG des Bundes kann ich nämlich nicht wirklich erkennen, wo diese Unterscheidung eine Rolle spielen könnte? Vielleicht bei den Möglichkeiten des Eingriffs für die Behörde? Weil Aufzüge sich leichter lenken lassen als eine "stationäre" Versammlung? 🤔 LG, Tamer


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