Zivilrecht

BGB Allgemeiner Teil

Geschäftsfähigkeit

Vorübergehende Störung der Geistesfähigkeit (§ 105 Abs. 2 BGB) beim Empfänger

Vorübergehende Störung der Geistesfähigkeit (§ 105 Abs. 2 BGB) beim Empfänger

2. April 2025

25 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Mieter M hat Freunde zu sich nach Hause eingeladen, um zu grillen und sich anschließend zu betrinken. Vermieter V wirft am frühen Abend (um 17 Uhr) durch den Briefschlitz von Ms Haustür die Kündigung. M zerfetzt das Schreiben ungelesen im volltrunkenen Zustand (3,0 Promille).

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Einordnung des Falls

Vorübergehende Störung der Geistesfähigkeit (§ 105 Abs. 2 BGB) beim Empfänger

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Kündigung ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung und wird hier unter Abwesenden abgegeben. Werden empfangsbedürftige Willenserklärungen unter Abwesenden erst wirksam mit tatsächlicher Kenntnisnahme?

Nein, das trifft nicht zu!

Empfangsbedürftige Willenserklärungen unter Abwesenden werden wirksam mit Zugang. Dies folgt unmittelbar aus § 130 Abs. 1 S. 1 BGB. Zugang einer verkörperten Willenserklärung erfordert, dass sie so in den Machtbereich des Empfängers gelangt, dass er von ihr Kenntnis nehmen kann und unter normalen Umständen mit Kenntnisnahme zu rechnen ist. Zur Wiederholung: Beim Wirksamwerden einer Willenserklärung kann man vier Phasen unterscheiden: (1) Abschluss des Erklärungsvorgangs, (2) Abgabe, (3) Zugang und (4) tatsächliche Kenntnisnahme der Willenserklärung.
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2. Ist die Kündigung an dem Abend wirksam geworden, als V sie in den Briefschlitz eingeworfen hat?

Ja!

Durch Einwurf in den Briefschlitz ist die Erklärung so in den Machtbereich des M gelangt, dass M von ihr Kenntnis nehmen konnte. Unter normalen Umständen war die Kenntnisnahme noch am selben Abend zu erwarten. Mithin ist die Willenserklärung M im Zeitpunkt des Einwurfes durch den Briefschlitz zugegangen (§ 130 Abs. 1 S. 1 BGB). Die tatsächliche Kenntnisnahme (Phase 4) ist für den Zugang und das Wirksamwerden der Erklärung irrelevant. Kommt es in der Klausur erkennbar darauf an, erwartet Deine Korrektorin, dass Du die verschiedenen Phasen, die eine Willenserklärung durchläuft, und die möglichen Zeitpunkte für ihr Wirksamwerden sauber unterscheidest.

3. Wird Vs Kündigung erst wirksam, wenn M wieder nüchtern ist?

Nein!

Zugang einer verkörperten Willenserklärung erfordert, dass sie so in den Machtbereich des Empfängers gelangt, dass er von ihr Kenntnis nehmen kann und unter normalen Umständen mit Kenntnisnahme zu rechnen ist. Für Erklärungen an Personen, die bewusstlos oder die nur vorübergehend nicht im Besitz ihrer geistigen Kräfte sind (§ 105 Abs. 2 BGB), gilt nicht § 131 BGB („Wirksamwerden gegenüber nicht voll Geschäftsfähigen“), sondern § 130 BGB. Da es auf die Möglichkeit der Kenntnisnahme unter normalen Umständen ankommt, gehen Willenserklärungen unter Abwesenden auch dann wirksam zu, wenn sich der Empfänger in einem § 105 Abs. 2 BGB entsprechenden Zustand befindet. Für den Zugang ist es mithin unerheblich, dass M zum Zeitpunkt des Briefeinwurfs betrunken war.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

EF

Elisabeth F.

21.4.2022, 22:16:37

Mich irritiert,dass der

Zugang

bereits am Abend eintritt-abends ist doch für gewöhnlich nicht mit Post zu rechnen. Dann müsste der

Zugang

doch erst am nächsten Tag eintreten, oder?

Saberhack

Saberhack

22.4.2022, 09:11:04

Hallo Elisabeth, da hast du grundsätzlich recht. Was genau unter früher Abend zu verstehen ist, ist natürlich nicht wirklich eindeutig. „Bei verkörperten WE liegt

Zugang

vor, wenn die Erklärung so in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, dass er von ihr Kenntnis nehmen kann und wenn unter normalen Umständen mit der Kenntnisnahme zu rechnen ist. Briefe gehen zu, sobald nach der

Verkehrssitte

mit der Leerung des Briefkastens zu rechnen ist. Zusteller wie die PostAG stellen auch nachmittags zu. Daher ist bei bis 18 Uhr eingeworfenen Briefen die Leerung am selben Tag zu erwarten.“ (Quelle: Lektion Abgabe und

Zugang

von Willenserklärung) Ich gehe davon aus, dass insbesondere die Tatsache entscheidend ist, dass das Kündigungsschreiben in den „Briefschlitz“ – und nicht in den Briefkasten – geworfen wurde.

CH1RON

CH1RON

22.4.2022, 13:11:51

Da bei „Jurafuchs“ auch die Bilder zum Sachverhalt gehören, spricht selbiges genau dafür, was Saberhack meint: Der Briefschlitz bietet im Fall eine direkte Einwurfmöglichkeit „in den Wohnbereich“ des M - mithin seinen Machtbereich - beim Briefkasten kann man getrost (mE bis 18.00 Uhr) mit mein:e Vorredner:in argumentieren ;)

JO

Jone

24.6.2022, 07:06:16

Inwieweit würde es sich auf den

Zugang

auswirken, wenn V Kenntnis vom Trunkenheitszustand des M hat? Z.B. weil er ihn zuvor gesehen hat und sein Zustand offensichtlich war…

Nora Mommsen

Nora Mommsen

6.7.2022, 14:25:41

Hallo Jone, danke für deine Frage. Bei einer persönlichen Übergabe des Briefes würde es sich um eine verkörperte Erklärung gegenüber Anwesenden handeln. Deine Frage bezieht sich aber auf die Abgabe einer Erklärung unter Abwesenden. Dort ist der

Zugang

gegeben, wenn nach den gewöhnlichen Umständen mit einer Kenntnisnahme zu rechnen ist. Dafür sind objektive Umstände maßgeblich, auf individuelle Umstände kommt es nicht an. Der Empfänger hat grundsätzlich dafür zu sorgen, dass er empfangsbereit ist. Es ist also ähnlich, wie wenn er im Urlaub ist. Da erfolgt auch ein

Zugang

, auch wenn der Erklärende von der Abwesenheit Kenntnis hat. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

CO

cornelius.spans

5.12.2024, 20:32:01

Hi, ich wäre im Fall der Kenntnis des Erklärenden auch davon ausgegangen, dass dies den

Zugang

verspätet eintreten lässt. Danke also für die Klarstellung. Wenn ich das richtig im Kopf habe, kommt es zu genau dieser Wirkung aber im Fall des § 147 II BGB. Um den Urlaubs-Fall zu nutzen, würde die Kenntnis des Erklärenden über den Urlaub und damit die Abwesenheit des Empfängers der Willenserklärung (per Brief an die Wohnadresse des Empfängers) dazu führen, dass sich die Annahmefrist verlängert. Kommt diese Abweichung in der Wirkung der Kenntnis daher, dass § 147 II BGB explizit auf den "Antragenden" abstellt und daher auf einen obj. Dritten in der Person des Antragenden und damit auch unter Berücksichtigung dessen Wissen abzustellen ist, wohingegen § 130 I 1 BGB kein subj. Bezugspunkt hat und damit rein obj. zu verstehen ist? Was meint Ihr? MFG

STE

Stella2244

19.2.2025, 19:06:38

@[cornelius.spans](264551) genau so ist es denke ich

Dogu

Dogu

27.5.2023, 11:06:20

Müsste die erste Frage nicht eher lauten "nur" wirksam bei tatsächlicher Kenntnisnahme, damit die Antwort Nein ist? Tatsächliche Kenntnisnahme reicht ja bei zielgerichteter Abgabe und

Zugang

auch aus, liegt hier aber nicht vor, sodass es auf den Regelfall ankommt.

SvzW

SvzW

23.10.2023, 12:44:06

Stimme dir zu und würde auch behaupten das die erste Frage zu ungenau ist. Es müsste um ein "nur" oder "erst" konkretisiert werden, da die WE spätestens mit tatsächlicher Kenntnisnahme wirksam wird.

MenschlicherBriefkasten

MenschlicherBriefkasten

13.11.2023, 15:19:03

Wenn der M die Kündigung sofort nach dem Einwurf gelesen hätte, wäre sie dann in dem Zeitpunkt jedenfalls zugegangen? Also ist es so, dass normalerweise der

Zugang

gegeben ist, wenn die WE im Machtbereich des Empfängers ist und die Kenntnisnahme möglich, in jedem Falle aber dann, wenn der Empfänger sie tatsächlich gelesen hat?

LELEE

Leo Lee

19.11.2023, 11:12:42

Halo MenschlicherBreifkasten, genauso ist es! § 130 BGB geht – wie die Überschrift suggeriert – erstmal davon aus, dass die WE nicht unmittelbar zugeht, weil der Empfänger abwesend ist. Und für genau diesen Fall stellt die Norm die Fiktion auf, dass der

Zugang

dann schon passiert, wenn für gewöhnlich mit Kenntnisnahme gerechnet werden kann. Jedoch werden Fiktionen immer von der „Realität“ geschlagen, womit auch beim

Zugang

die TATS. KENNTNISNAHME IMMER die MGL. hierzu schlägt! Somit gilt: Wenn jemand um 3 Uhr nachts einen Brief einwirft und dieser Brief dann tats. zur Kenntnis genommen wird, liegt

Zugang

vor :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

MenschlicherBriefkasten

MenschlicherBriefkasten

19.11.2023, 12:13:03

Danke!

NI

Niro95

23.3.2024, 16:38:53

Was wäre denn die Grenze, ab wann nicht mehr nur eine „vorübergehende“ Geisteskrankheit angenommen wird?

LELEE

Leo Lee

29.3.2024, 03:48:09

Hallo Niro95, vielen Dank für die sehr gute Frage! Hierzu gibt es in der Literatur keine wirklich einheitliche Definition (vielmehr eine grobe Umschreibung als „nicht Dauerzustand“); jedoch gibt es Fallgruppen, an denen du dich orientieren kannst, etwa: Alkohol, Medikamente oder Rauschgift (da die Wirkungen hiervon i.d.R. nach einer bestimmten Zeit natürlich abklingen! Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom MüKo-BGB 9. Auflage, Spickhoff § 105 Rn. 40 f. sehr empfehlen :) Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo


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