Zivilrecht

Deliktsrecht

Haftung nach StVG

Erhöhte Sorgfaltspflicht bei vorausfahrendem Fahrschulfahrzeug

Erhöhte Sorgfaltspflicht bei vorausfahrendem Fahrschulfahrzeug

25. Januar 2025

19 Kommentare

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Fahrschülerin F ist auf Fahrstunde mit ihrem Lehrer L, der auch Halter des Wagens ist. In der Ausfahrt eines Kreisverkehrs bremst F den Wagen voll ab, weil sich etwa 4m entfernt Personen der Fahrbahn nähern. S fährt daraufhin auf das Fahrschulauto auf.

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Einordnung des Falls

Erhöhte Sorgfaltspflicht bei vorausfahrendem Fahrschulfahrzeug

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Bei einem Unfall im Straßenverkehr kommt nur ein Anspruch gegen den Fahrer des anderen Fahrzeugs in Betracht.

Nein, das trifft nicht zu!

Für die Haftung im Straßenverkehr gibt es spezielle Anspruchsgrundlagen: Eine verschuldensabhängige Haftung des Fahrers (§ 18 Abs. 1 S. 1 StVG) und eine Gefährdungshaftung des Halters (§ 7 Abs. 1 StVG). Beide Vorschriften sind vor dem allgemeinen Deliktsrecht (§ 823 Abs. 1 BGB; § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 315b, c StGB) zu prüfen. Die Voraussetzungen der Halterhaftung (§ 7 Abs. 1 StVG) und der Fahrzeugführerhaftung (§ 18 Abs. 1 S. 1 StVG) liegen hier vor: L ist Halter des Fahrschulautos und gilt nach § 2 Abs. 15 S. 2 StVG auch als Fahrzeugführer. Der Unfallschaden ist bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden, nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen und stellt für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis (§ 17 Abs. 3 StVG) dar.
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2. Der Vorausfahrende muss beweisen, dass der Hinterherfahrende den nötigen Abstand missachtet hat.

Nein!

Der Beweis des ersten Anscheins (Beweiserleichterung) spricht bei einem Auffahrunfall dafür, dass der Hinterherfahrende den nötigen Abstand nicht eingehalten hat. Dieser sogenannte Anscheinsbeweis kann vom Hinterherfahrenden erschüttert werden, wenn er atypische Umstände darlegt und beweist, die den üblichen Geschehensablauf in Zweifel ziehen. S trägt als Hinterherfahrender die Darlegungs- und Beweislast.

3. S hat den erforderlichen Sicherheitsabstand gewahrt.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug muss in der Regel so groß sein, dass auch dann hinter ihm angehalten werden kann, wenn es plötzlich gebremst wird (§ 4 Abs. 1 S. 1 StVO). LG Saarbrücken: Es lägen keine atypischen Verhältnisse vor, die den Beweis des ersten Anscheins für einen zu kurzen Sicherheitsabstand erschütterten, weil bei einem vorausfahrenden Fahrschulauto mit plötzlichen und sonst nicht üblichen Reaktionen zu rechnen sei. Das plötzliche Abbremsen oder auch "Abwürgen" des Motors gehöre zu den typischen Anfängerfehlern eines Fahrschülers. Daher sei der Anscheinsbeweis nicht erschüttert (RdNr. 11f.). Folglich hat S gegen § 4 Abs. 1 S. 1 StVO verstoßen.

4. Für die Anrechnung des Mitverschuldensanteils des S gilt § 254 BGB.

Nein, das trifft nicht zu!

Auch für die Anrechnung eines Mitverschuldens enthält das StVG eine speziellere Vorschrift: § 17 StVG. Diese ist auch auf den Anspruch gegen einen anderen Fahrer aus der Fahrzeugführerhaftung (§ 18 Abs. 1 S. 1 StVG) anwendbar (§ 18 Abs. 3 StVG). § 17 Abs. 1 StVG normiert die Haftung im Innenverhältnis, wenn einem Dritten ein Schaden entstanden ist. § 17 Abs. 2 StVG gilt für das Verhältnis der Fahrzeughalter untereinander. Vorliegend sind zur Ermittlung des Mitverschuldens und des Haftungsanteils der Fahrer untereinander die wechselseitigen Verursachens- und Verschuldensbeiträge abzuwägen. In diese Abwägung ist auch der einzuhaltende Sicherheitsabstand einzubeziehen.

5. Im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 2 i.V.m. § 17 Abs. 1 StVG ist von hälftigem Mitverschulden auszugehen.

Nein!

LG Saarbrücken: Die Annahme hälftigen Mitverschuldens würde die gesonderte Sorgfaltspflicht des hinter dem Fahrschulwagen befindlichen Fahrzeugs nicht ausreichend würdigen. Das nachfolgende Fahrzeug habe besondere Vorsicht walten zu lassen, denn die deutliche Kenntlichmachung von Fahrschulfahrzeugen bei Übungsfahrten diene dem Zweck, auf das insoweit erhöhte Risiko eines unangepassten Fahrverhaltens, etwa in Form des unvermittelten Abbremsens ohne zwingenden Grund, hinzuweisen. Aufgrund des Herannahens von Personen sei das Abbremsen auf Stillstand nicht völlig fernliegend und hätte bei der Wahl des Abstandes berücksichtigt werden müssen. Andererseits sei bei der Ausfahrt aus einem Kreisverkehr die Reaktionsmöglichkeit nachfolgender Fahrzeuge geringer, was sich zu Lasten der Haftung des vorausfahrenden Wagens auswirke. Eine Haftungsverteilung von 30 % (L) zu 70 % (S) sei angemessen (RdNr. 15.).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

MLENA

MLena

28.3.2024, 21:31:09

Ich verstehe gerade nicht, wie man darauf kommt, dass bei einem Auffahrunfall die Vermutung besteht, dass der Hintere zu dicht am Vorderen war. Wir prüfen doch § 18 und dann würde das Verschulden der Fahrschülerin nach Abs. 2 doch eigentlich vermutet, so dass sie selbst das Gegenteil beweisen müsste. Was habe ich falsch verstanden? :)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

16.4.2024, 17:50:56

Hallo MLena, vielen Dank für Deine Nachfrage! In der Tat liegen die Anspruchsvoraussetzungen des § 18 StVG grundsätzlich vor, insbesondere wird das Verschulden der

Fahrzeugführer

in vermutet. Über § 18 Abs. 3 StVG findet aber auch bei der

Fahrzeugführer

haftung der §

17 StVG

Anwendung. Die Haftung des Fahrers ist insofern ausgeschlossen, wenn es sich bei dem Unfall um ein

unabwendbares Ereignis

gehandelt hat (§ 17 Abs. 3 StVG). Ist dies - wie regelmäßig - nicht der Fall, so ist nach § 17 Abs. 2 i.V.m. § 17 Abs. 1 StVG eine Haftungsquote zu bilden, bei der die beiderseitigen Verursachungsbeiträge miteinander abgewogen werden. Genau an dieser Stelle kommt nun der Anscheinsbeweis zum Tragen, dass bei Auffahrunfällen der Hintermann den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht gewahrt hat. Dies wiegt hier umso schwerer, als das Fahrschulauto deutlich als solches erkennbar war. Insofern liegt ein überwiegendes Verschulden des Auffahrenden vor. Im Ergebnis kann dieser nur 30% seines Schadens gelten machen, während er 70% des Schadens am Fahrschulauto zu tragen hat. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Teddy

Teddy

30.4.2024, 20:55:31

Da die Ermittlung der Haftungsquote nach §

17 StVG

namentlich im zweiten Examen regelmäßig einen – leidigen – Schwerpunkt der „Verkehrsunfall-Klausur“ darstellt, wären hier vertiefende Aufgaben echt toll! 🧸

HME

Hilfloser Melancholiker

7.5.2024, 11:47:36

Finde ich auch! Hier gibt es viele relevante (und relativ leicht darstellbare) Anscheinsbeweis-Konstellationen, die man gut zu Fällen machen kann (:

Nora Mommsen

Nora Mommsen

11.5.2024, 16:53:05

Hallo ihr beiden, Danke euch für den Inhaltsvorschlag! Den nehmen wir mit auf unsere Liste. Ich möchte euch an dieser Stelle aber schon um etwas Geduld bitten, da wir immer zeitgleich viele Sachen umsetzen. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

AME

Amelie7

31.10.2024, 15:10:33

Hier wird in Bezug auf den Abstand insbesondere auf die Besonderheiten des Fahrschulautos eingegangen, aber auch bei normalen

Fahrzeug

en ist doch in der Praxis der Auffahrende "immer" schuld? Habe ich bisher in Fällen aus dem Bekanntenkreis zumindest immer so gehört.

LELEE

Leo Lee

3.11.2024, 10:18:26

Hallo Amelie7, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! In der Tat wird es in der Praxis - vor allem aufgrund mangelnder Beweismöglichkeiten - meist so gehandhabt, dass der Auffahrende "Schuld" ist. Bei einem zweiten Blick auf die genauere Rechtslage fällt jedoch auf, dass dies nicht immer zwingend der Fall ist. Denn wie auch sonst gilt immer, dass derjenige "in der Schuld" ist, der auch schuldhaft gehandelt hat. Der Grund hinter der Formel, dass der Auffahren immer haften muss ist der Grundsatz des Beweises des ersten Anscheins. Denn weil im Straßenverkehr eben immer ein hinreichender Sicherheitsabstand einzuhalten ist (Reaktionsweg + Bremsweg), spricht sehr viel dafür, dass derjenige, der hinten aufgefahren ist, nicht diesen Abstand eingehalten hat. Wenn jedoch sich andere Gründe ergeben sollten, etwa der Vordermann bremst ohne Grund/nicht berechtigt, wird dieser Anschein erschüttert, weshalb dann der Hintermann nicht "schuld" ist. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom BeckGK-StVG, Walter § 17 Rn. 61 ff. sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

Artimes

Artimes

14.12.2024, 05:59:02

1. Bei welcher Anspruchsgrundlage wird § 17 Abs. 1 StVG auf Rechtsfolgenseite relevant (wäre §

426 BGB

ein solcher Fall?)? Beim Anspruch des Geschädigten Dritten gem. § 7 Abs. 1 StVG gegenüber einem der

Fahrzeug

halter wäre § 17 Abs. 1 StVG jedenfalls irrelevant, da er nur im Verhältnis der

Fahrzeug

halter zueinander gilt, richtig? 2. Wie ist § 17 Abs. 3 Satz 2 StVG auszulegen bzgl. der Sorgfalt von Halter und Führer? Bezieht sich die Formulierung „Halter und Führer“ auf jedes einzelne

Fahrzeug

, dass den Schaden i.S.v. § 17 Abs. 1 StVG verursacht hat (also alle beteiligten Halter und Führer)? Müsste bei Schadensverursachung durch zwei

Fahrzeug

e die Halter/Führer auf beiden Seiten jeweils sorgfaltsgemäß handeln, um eine Unabwendbarkeit i.S.v. § 17 Abs. 3 StVG zu bejahen?


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