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Am 24.02.2022 überfällt Russland die Ukraine in einer groß angelegten Militäroperation. Damit wolle man den angeblichen Genozid an der russischen Minderheit in den Regionen Donezk und Luhansk unterbinden und die Ukraine „entnazifizieren“. Die Ukraine beantragt vor dem IGH, Russland zur Einstellung sämtlicher Waffengewalt zu bewegen.

Einordnung des Falls

IGH (Ukraine v. Russian Federation)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Zuständigkeit des IGH besteht, sobald zwei Staaten über die Anwendung und Auslegung völkerrechtlicher Regeln im Streit liegen.

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Nein, das ist nicht der Fall!

Dass der anhängige Streitgegenstand aus dem Völkerrecht erwächst, begründet allein noch nicht die Zuständigkeit des IGH. Entscheidend ist, ob und inwieweit sich die streitenden Staaten der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen haben. Das kann auf drei Arten geschehen sein: (1) durch Schiedskompromiss bzw. rügelose Einlassung (sog. forum prorogatum) (Art. 36 Abs. 1 Alt. 1 IGH-Statut), (2) durch Unterwerfungsklauseln in bi- oder multilateralen Abkommen (Art. 36 Abs. 1 Alt. 2 IGH-Statut) oder (3) durch eine einseitige, fakultative Staatenerklärung (Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut). Der IGH verfügt damit gerade nicht über eine Allzuständigkeit über völkerrechtliche Streitfragen zwischen Staaten. Dies ist Ausdruck der staatlichen Souveränität, über die sich auch der IGH nicht hinwegsetzen kann.

2. Russland hat mit seinem Angriff gegen die Ukraine gegen das Gewaltverbot (Art. 2 Abs. 4 UN-Charta) verstoßen. Begründet diese Normverletzung die Zuständigkeit des IGH?

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Nein, das trifft nicht zu!

Die Unterverwerfung unter die Zuständigkeit des IGH kann erfolgen (1) durch Schiedskompromiss bzw. rügelose Einlassung (sog. forum prorogatum) (Art. 36 Abs. 1 Alt. 1 IGH-Statut), (2) durch Unterwerfungsklauseln in bi- oder multilateralen Abkommen (Art. 36 Abs. 1 Alt. 2 IGH-Statut) oder (3) durch eine einseitige, fakultative Staatenerklärung (Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut). Die UN-Charta etabliert zwar den Internationalen Gerichtshof als oberstes Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen (Art. 96 UN-Charta), ohne jedoch alle aus der UN-Charta erwachsende Streitigkeiten der Zuständigkeit des IGH zu unterwerfen. Mangels Schiedskompromiss bzw. einseitiger Unterverwerfungsklausel auf beiden Seiten folgt aus den Verstößen gegen das Gewaltverbot aus Art. 2 Nr. 4 UN-Charta keine Zuständigkeit des IGH.

3. Ist die Zuständigkeit des IGH begründet, weil Russland prima facie einen Völkermord an der ukrainischen Bevölkerung begeht?

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Nein!

Die Unterverwerfung unter die Zuständigkeit des IGH kann erfolgen (1) durch Schiedskompromiss bzw. rügelose Einlassung (sog. forum prorogatum) (Art. 36 Abs. 1 Alt. 1 IGH-Statut), (2) durch Unterwerfungsklauseln in bi- oder multilateralen Abkommen (Art. 36 Abs. 1 Alt. 2 IGH-Statut) oder (3) durch eine einseitige, fakultative Staatenerklärung (Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut). Die UN-Völkermordkonvention („Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“) enthält in Art. 9 eine Unterverwerfungsklausel i.S.d. Art. 36 Abs. 1 Alt. 2 UN-Charta: Danach ist der IGH zuständig für „Streitfälle zwischen den Vertragsstaaten hinsichtlich der Auslegung, Anwendung oder Durchführung der Konvention einschließlich derjenigen, die sich auf die Verantwortlichkeit eines Staates für Völkermord beziehen“. Die Ukraine befasste den IGH mit dem Antrag festzustellen, dass sie selbst – entgegen dem russischen Vorbringen – keinen Völkermord i.S.d. Art. 2 der Völkermordkonvention an der russischsprachigen Bevölkerung im Donbas begangen hat (RdNr. 25). Dieser negative Feststellungsantrag der Ukraine ist der argumentative Clou: ohne den kruden Rechtfertigungsversuch Russlands für seinen Angriffskrieg, russischsprachige Minderheiten vor einem Völkermord schützen zu wollen, wäre die Zuständigkeit des IGH nur schwer begründbar gewesen.

4. Russland wirft der Ukraine vor, einen Völkermord an der russischsprachigen Bevölkerung im Donbas zu begehen, sodass die Zuständigkeit des IGH begründet ist.

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Genau, so ist das!

Die Unterverwerfungsklausel des Art. 9 der Völkermordkonvention erfordert ratione materiae „Streitfälle zwischen den Vertragsparteien hinsichtlich der Auslegung, Anwendung oder Durchführung dieser Konvention einschließlich derjenigen, die sich auf die Verantwortlichkeit eines Staates für Völkermord beziehen“ (RdNr. 28 f.). Russland rechtfertige seine „Spezialoperation“ als Gegen- bzw. Schutzmaßnahme gegen Völkermord der Ukraine an der russischsprachigen Bevölkerung im Donbas. Der IGH verweist v.a. auf die Ansprache Putins vom 21. Februar (RdNr. 38) sowie diverse Stellungnahmen des russischen UN-Gesandten im Sicherheitsrat (RdNr. 39 ff.). Art. 9 sei damit prima facie anwendbar, die Zuständigkeit des IGH mithin begründet (RdNr. 48). Auch Russlands veränderte Argumentation, den Volksrepubliken in Luhansk und Doneszk zur Selbstverteidigung i.S.d. Art. 51 UN-Charta zur Hilfe geeilt zu sein, durchbricht diese Zuständigkeitsbegründung nicht. Denn hierin liege ein zusätzlicher und kein alternativer Rechtfertigungsgrund (RdNr. 46).

5. Voraussetzung für eine einstweilige Anordnung nach Art. 41 IGH-Statut ist neben der Rechtsverletzung eine enge Verbindung zwischen der Rechtsverletzung und der angeordneten Maßnahme sowie die Gefahr irreversibler Schäden.

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Ja, in der Tat!

Anders als deutsche Verwaltungsgerichte stellt der IGH im vorläufigen Rechtsschutz (sog. provisional measures) damit keine Interessenabwägung zwischen Suspensiv- und Vollzugsinteresse an. Er konzentriert sich auf die erwartbaren negativen Konsequenzen für die Rechtspositionen des Antragsstellers.

6. Russlands Angriffshandlung muss Rechte der Ukraine aus der Völkermordkonvention verletzen. Daran fehlt es hier.

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Nein!

Der IGH kann eine einstweilige Anordnung nur treffen, wenn der Antragsteller eine Rechtsverletzung plausibel darlegt (RdNr. 50) Nach Art. 1 und 8 der Völkermordkonvention sind deren Vertragsstaaten dazu verpflichtet, Völkermord zu verhindern und zu sanktionieren. Aber die Vertragsparteien dürfen zur Einhaltung dieser Pflicht nur innerhalb des völkerrechtlich zulässigen Rahmens gezwungen werden (RdNr. 56 f.). Erzwingt ein Vertragsstaat die Durchsetzung der Pflicht eines anderen Staates zur Verhinderung von Völkermord durch einseitige Gewaltanwendung, könne dadurch das Gewaltverbot aus Art. 2 Nr. 4 UN-Charta verletzt sein, womit der völkerrechtlich zulässige Rahmen überschritten würde (RdNr. 59). Damit gelingt es der Ukraine, eine Rechtsverletzung plausibel geltend zu machen (RdNr. 60).

7. Zwischen beantragter Maßnahme und Rechtsverletzung muss eine enge Verbindung bestehen.

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Genau, so ist das!

Zwischen beantragter Maßnahme und dargelegter Rechtsverletzung besteht eine enge Verbindung, wenn diese geeignet ist, die Rechtsposition zu erhalten bzw. den Konflikt nicht weiter zu verschleppen (RdNr. 63). Die beantragten Maßnahmen der Ukraine, insbesondere die Einstellung der militärischen Operation, erfüllt diese Voraussetzung.

8. Es besteht die dringliche Gefahr eines irreparablen Schadens, sodass auch die letzte Voraussetzung für die einstweilige Anordnung erfüllt ist.

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Ja, in der Tat!

Die weiteren Voraussetzungen – die Gefahr eines irreparablen Schadens und Dringlichkeit – müssen erfüllt sein (RdNr. 65). Dringlichkeit ist gegeben, wenn der irreparable Schaden jederzeit bis zur Hauptsacheentscheidung eintreten kann (RdNr. 66). Hier subsumiert der IGH angesichts der – damaligen – Berichte über die verherrende Lage in der Ukraine kurz und prägnant und bejaht die dringliche Gefahr irreparabler Schäden: Militärische Operationen würden unweigerlich zu Tod, mentalen und körperlichen Schädigungen, und Zerstörung von Eigentum und Umwelt führen (RdNr. 74). Insbesondere das Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung hebt der IGH hervor (RdNr. 75). Die einstweilige Anordnung hat vor allem normative und symbolische Wirkung: Sie deutet bereits klar an, dass sich die russische Aggression außerhalb der Völkerrechtsordnung bewegt. Die zwangsweise Durchsetzung der einstweiligen Anordnung des IGH jedoch obliegt dem Sicherheitsrat – und hier ist Russland bekanntlich in der Lage, die Durchsetzung durch sein Veto zu verhindern. Im Jahr 2023 beginnt der IGH die Verhandlung in der Hauptsache. Mit einer schnellen Entscheidung in der Hauptsache wird nicht gerechnet.

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