Objektiver Tatbestand: Unglücksfall

30. August 2024

10 Kommentare

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Häufigste Klausurkonstellation im Bereich des § 323c Abs. 1 StGB ist der „Unglücksfall“. Wann liegt dieser vor?

Als Unglücksfall gilt ein plötzlich auftretendes Ereignis, das eine erhebliche Gefahr für ein Individualrechtsgut begründet.

Da der Grund für den Unglücksfall irrelevant ist, kommen auch Straftaten in Betracht. Ein Schadenseintritt ist hierbei keine Voraussetzung. Typische Klausursachverhalte sind (1) Verletzungen nach Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit oder das Leben, (2) Verletzungen bedingt durch Straßenverkehrsunfälle und (3) Verletzungen infolge eines Suizidversuchs.

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Polizistinnen erklären sich nicht zuständig bei Unglücksfall

Die Polizistinnen P und T werden um 23.15 Uhr informiert, dass in Berlin Tiergarten eine Frau in ihrem Pkw bewusstlos zusammengebrochen ist. P und T erklären sich für nicht zuständig und werden nicht tätig. Später stellt sich heraus, dass die Frau möglicherweise schon um 23.10 Uhr nicht mehr lebte.

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Einordnung des Falls

In dem Fall geht es um die Definition des „Unglücksfalls“ als objektives Tatbestandsmerkmal der Unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB). Ob ein Unglücksfall vorliegt, richtet sich nach einer ex-Post-Betrachtung der Tatgegebenheiten. Für die Beurteilung der Strafbarkeit ist daher nicht relevant, was sich die potenziellen Täter:innen zum Tatzeitpunkt dachten, sondern ob sich auch unter Einbeziehung erst später bekannt gewordener, objektiver Gegebenheiten, ein Unglücksfall vorlag. Ist dies nicht der Fall, scheidet eine Strafbarkeit nach § 323c StGB aus. Dieser Fall zeigt den Sinn und Zweck des § 323s StGB: Es soll sichergestellt werden, dass jemand Hilfe erhält, sodern Hilfe wirklich notwendig ist. Ist dies tatsächlich nicht der Fall, besteht keine Notwendigkeit einer Strafbarkeit. Dass der Täter eventuell irrig annahm, ein Unglücksfall läge vor, spielt also keine Rolle.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c Abs. 1 StGB) normiert eine allgemeine Hilfeleistungspflicht in Form eines echten Unterlassungsdelikts, das jeder (nicht nur Garanten (§ 13 StGB)) begehen kann.

Ja, in der Tat!

Den objektiven Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c Abs. 1 StGB) verwirklicht, wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist. § 323c Abs. 1 StGB knüpft an den Gedanken der mitmenschlichen Solidarität in Notlagen an und schützt die Individualrechtsgüter desjenigen, der plötzlich in Not geraten ist. Beachte, dass § 323c Abs. 1 StGB oft im Wege der Gesetzeskonkurrenz zurücktritt und Du diesen erst nach den vorrangigen Tatbeständen prüfen solltest.
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2. Handelt es sich bei dem Zusammenbruch der Frau um einen „Unglücksfall“, sodass die Polizisten den objektiven Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung verwirklicht haben?

Nein!

Ein Unglücksfall ist ein plötzlich eintretendes Ereignis, das erhebliche Gefahren für Personen oder bedeutende Sachwerte mit sich bringt oder zu bringen droht. Die Prüfung, ob ein solcher vorliegt, erfolgt nach h.M. anhand einer ex-post-Beurteilung, d.h. nach den objektiven Tatgegebenheiten unter Einbeziehung auch erst nachträglich bekannt gewordener Tatsachen. Ein Unglücksfall liegt nicht mehr vor, soweit der Schaden endgültig eingetreten und die Gefahrenlage beendet ist, demzufolge die Gefahr weiterer Schäden für das geschützte Rechtsgut nicht mehr besteht. Zugunsten P und T muss hier unterstellt werden, dass die Frau bereits tot war, als sie informiert wurden. Ein Unglücksfall lag somit nicht (mehr) vor.

3. P und T haben sich wegen Versuchs des § 323c Abs. 1 StGB strafbar gemacht.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Versuch eines Verbrechens ist stets strafbar, der Versuch eines Vergehens nur dann, wenn das Gesetz es ausdrücklich bestimmt (§ 23 Abs. 1 StGB). Bei § 323c Abs. 1 StGB handelt es sich um ein Vergehen (§ 12 Abs. 2 StGB). Der Versuch ist nicht ausdrücklich bestimmt, sodass der Versuch des § 323c Abs. 1 StGB nicht strafbar ist.

Häufige Fragen

Ist die Ursache des Unglücksfalls relevant?
Nein, deshalb kommen z.B. auch Straftaten als Ursache für einen Unglücksfall in Betracht.
Aus welcher Perspektive wird beurteilt, ob es sich um einen Unglücksfall handelt?
Ob ein Unglücksfall vorliegt, wird ex-post gewürdigt. Für die Beurteilung der Strafbarkeit ist also nicht relevant, was sich die potenziellen Täter:innen zum Tatzeitpunkt dachten, sondern ob auch unter Einbeziehung erst später bekannt gewordener, objektiver Gegebenheiten, ein Unglücksfall vorlag.
Was sind typische Fallgruppen für Unglücksfälle?
Typische Klausursachverhalte sind: 1) Verletzungen nach Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit oder das Leben, 2) Verletzungen bedingt durch Straßenverkehrsunfälle und 3) Verletzungen infolge eines Selbsttötungsversuchs.
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