Mietminderung wegen Baulärms

23. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

M ist Mieter einer Wohnung der V. Im März starten Bauarbeiten auf dem Nachbargrundstück. Wegen Baulärms verklagt M die V im Mai auf Rückzahlung überzahlten Mietzinses für März und April, sowie auf Feststellung, dass die Miete fortan gemindert ist, bis die Bauarbeiten enden.

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Einordnung des Falls

Mietminderung wegen Baulärms

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. M hat an der Feststellung, dass die Miete fortan gemindert ist, ein Feststellungsinteresse (§ 256 ZPO).

Ja, in der Tat!

Ein Feststellungsinteresse setzt voraus, dass dem betroffenen Recht des Klägers eine gegenwärtige Gefahr oder Ungewissheit droht und die begehrte Feststellung geeignet ist, diese Gefahr zu beseitigen. An der Feststellung der Mietminderung hat M ein Interesse, um etwa die Gefahr einer späteren Zahlungsverzugskündigung der V zu beseitigen (vgl. RdNr. 14). Denn die Mietminderung ist bloße Vorfrage seiner Leistungsklage auf Rückzahlung und erwächst daher nicht in materieller Rechtskraft (§ 322 ZPO).
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2. Auch im Mai und Juni zahlt M den ungeminderten Mietzins. Muss er hierfür nun vorrangig Leistungsklage auf dessen anteilige Rückzahlung erheben?

Nein!

Der Vorrang der Leistungsklage schließt ein Feststellungsinteresse i.S.d. § 256 ZPO aus, soweit eine Leistungsklage dem Kläger (1) möglich und (2) zumutbar ist, sein (3) Rechtsschutzziel erschöpft und (4) nicht ausnahmsweise bereits ein Feststellungsurteil zu einer sachgemäßen Erledigung des Rechtsstreits führen würde. Ein bei Klageerhebung bestehendes Feststellungsinteresse bleibt bestehen, wenn die genannten Voraussetzungen erst nach Klageerhebung eintreten (RdNr. 15). M muss seinen bereits erhobenen Leistungsantrag nicht um den anteiligen Mietzins für Juni und Juli erweitern. Denn wie gesehen würde dadurch sein Rechtsschutzziel nicht erschöpft. Ohnehin konnte das bei Klageerhebung bestehende Feststellungsinteresse des M durch weitere Zahlungen nicht rückwirkend entfallen.

3. M könnte gegen V einen Anspruch auf anteilige Rückzahlung des Mietzinses haben (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB). Müsste M gegenüber V hierfür die Mietminderung erklärt haben (§ 536 Abs. 1 S. 2 BGB)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die condictio indebiti (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB) setzt voraus, dass (1) etwas (2) durch Leistung und (3) ohne Rechtsgrund erlangt wurde. Die Minderung des Anspruchs auf Zahlung des Mietzinses (§ 535 Abs. 2 BGB) ist - anders als im Kauf- und Werkvertragsrecht - kein Gestaltungsrecht, sondern tritt von Gesetzes wegen (ipso iure) ein. Die vorliegende Entscheidung ist nach BGH NJW 2020, 2884 die zweite Grundsatzentscheidung des BGH zum Thema Mietminderung wegen Baulärms innerhalb von nur eineinhalb Jahren. Schon deshalb halten wir sie für höchst examensrelevant.

4. Eine Mietsache ist mangelhaft, soweit sie von einer Beschaffenheitsvereinbarung abweicht (§ 536 Abs. 1 S. 1 BGB). Kann die Abwesenheit von Baulärm Gegenstand einer Beschaffenheitsvereinbarung sein?

Ja, in der Tat!

Eine Mietsache ist mangelhaft, soweit ihre Ist-Beschaffenheit von der vertraglichen Soll-Beschaffenheit abweicht (§ 536 Abs. 1 S. 1 BGB). Die vertragliche Soll-Beschaffenheit wird (1) primär durch die Beschaffenheitsvereinbarungen der Parteien definiert und (2) subsidiär durch ergänzende Vertragsauslegung (RdNr. 27 f.; BGHZ 205, 177 RdNr. 39). Die vertragliche Soll-Beschaffenheit kann auch Umstände betreffen, die von außen auf die Mietsache einwirken, wie etwa Immissionen (sog. Umweltbedingungen). Über solche Umweltbedingungen können die Parteien also auch Beschaffenheitsvereinbarungen treffen (RdNr. 18).

5. Eine Beschaffenheitsvereinbarung können die Vertragsparteien auch konkludent schließen. Genügt dafür, dass der Vermieter erkennt, welche Vorstellungen der Mieter von der Mietsache hat?

Nein!

Eine konkludente Beschaffenheitsvereinbarung durch übereinstimmende Willenserklärungen setzt voraus, dass - jeweils nach dem objektiven Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB) - (1) der Mieter zum Ausdruck bringt, einen Umstand für die gesamte Mietdauer als entscheidend für die Mangelfreiheit anzusehen (§ 535 Abs. 1 S. 2 BGB) und (2) der Vermieter hierauf „in irgendeiner Form zustimmend reagiert“. Für eine Zustimmung genügt nicht schon die bloße Kenntnis des Vermieters von den Vorstellungen des Mieters (RdNr. 21).

6. Die Mietsache ist mangelhaft (§ 536 Abs. 1 S. 1 BGB), weil M und V konkludent eine Beschaffenheitsvereinbarung (§ 535 Abs. 1 S. 2 BGB) über die Abwesenheit von Baulärm getroffen haben (§§ 133, 157 BGB).

Nein, das ist nicht der Fall!

BGH: Der Mieter dürfe ohne konkrete Anhaltspunkte nicht damit rechnen (§§ 133, 157 BGB), dass der Vermieter dauerhaft (§ 535 Abs. 1 S. 2 BGB) für Umstände haften wolle, die er selbst nicht beherrschen kann (RdNr. 22). Dies gelte auch für Umstände, die für die Bestimmung des Mietzinses maßgeblich gewesen seien (RdNr. 24 f.; vgl. BGHZ 205, 177 RdNr. 37 f.). Anhaltspunkte für einen Willen der V zur dauerhaften Haftung für die durch sie nicht beherrschbaren Immissionen bestehen nicht. Daher fehlte es jedenfalls an einer zustimmenden Reaktion der V (§§ 133, 157 BGB). Die Anforderungen des BGH an eine konkludente Beschaffenheitsvereinbarung im Mietrecht werden als „(viel zu) streng“ kritisiert (Emmerich, in: Staudinger, BGB, Stand: 06.03.2022, § 536 RdNr. 6 m.w.N.).

7. Fehlt eine Beschaffenheitsvereinbarung, so ist die vertragliche Soll-Beschaffenheit der Mietsache (§ 535 Abs. 1 S. 2 BGB) durch ergänzende Vertragsauslegung zu ermitteln (§ 157 BGB).

Ja, in der Tat!

Eine ergänzende Vertragsauslegung (§ 157 BGB) findet statt, wenn (1) eine ungeplante vertragliche Regelungslücke besteht, (2) die Regelung zur Verwirklichung des Vertragszwecks erforderlich ist und (3) kein lückenfüllendes dispositives Gesetzesrecht existiert. An die Stelle der Regelungslücke setzt die ergänzende Vertragsauslegung dasjenige, was die Parteien vereinbart hätten, wenn sie den Regelungsgegenstand ursprünglich bedacht hätten (hypothetischer Parteiwille). Diese Grundsätze finden auf die Ermittlung der mietvertraglichen Soll-Beschaffenheit Anwendung (§ 535 Abs. 1 S. 2 BGB), soweit es an Beschaffenheitsvereinbarungen fehlt (RdNr. 27 f.; BGHZ 205, 177 RdNr. 39).

8. Soweit im Rahmen des § 535 Abs. 1 S. 2 BGB bei Fehlen einer subjektiven Beschaffenheitsvereinbarung eine ergänzende Vertragsauslegung vorzunehmen ist, gilt ein objektiver Mangelbegriff.

Nein!

Im Mietrecht gilt - abweichend vom Kauf- und Werkvertragsrecht - ein ausschließlich subjektiver Mangelbegriff (hM). Soweit die vertragliche Soll-Beschaffenheit durch ergänzende Vertragsauslegung zu bestimmen ist (BGHZ 205, 177 RdNr. 39), beurteilt diese den hypothetischen Parteiwillen anhand einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Mietverhältnisses, insbesondere der Mietsache, deren beabsichtigter Nutzung sowie der Verkehrsanschauung und des Grundsatzes von Treu und Glauben (RdNr. 27). Die ergänzende Vertragsauslegung ist also zwar objektiviert, im Kern aber ebenfalls subjektiv.

9. Dem hypothetischen Parteiwillen von M und V entspricht es, dass V die Mietsache dauerhaft von erhöhten Immissionsbelastungen Dritter freihält (§ 535 Abs. 1 S. 2 BGB).

Nein, das ist nicht der Fall!

BGH: Nachträglich erhöhte Immissionsbelastungen durch Dritte widersprächen jedenfalls dann nicht der hypothetisch vereinbarten Soll-Beschaffenheit (§ 535 Abs. 1 S. 2 BGB), wenn auch der Vermieter sie ohne eigene Abwehr- oder Entschädigungsansprüche hinnehmen müsse (§§ 906, 1004 BGB). § 906 BGB finde zwar weder direkte, noch analoge Anwendung auf den Mieter. Er entfalte aber eine „Ausstrahlunsgwirkung“ (RdNr. 31) auf die Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens. Insoweit habe der Mieter an der Situationsgebundenheit des Grundstücks teil. (RdNr. 28). Diese Rechtsprechung seit 2015 (BGHZ 205, 177 RdNr. 35ff.) begegnet Kritik, auch seitens der Vorinstanz (LG Berlin BeckRS 2019, 25774). Ein Kernargument des BGH ist, dass vom Vermieter mit der Beseitigung der Immissionen nichts Unmögliches verlangt werden dürfe (§ 275 Abs. 1, Abs. 2 BGB) (BGHZ 205, 177 RdNr. 42).

10. Muss M darlegen und beweisen, dass V gegen den Emittenten Abwendungs- oder Entschädigungsansprüche hat (§§ 906, 1004 BGB)?

Nein, das trifft nicht zu!

Jeder muss die für ihn günstigen Tatsachen darlegen und beweisen (Rosenbergsche Formel). Abweichend davon ist im Wohnraummietrecht die Darlegungs- und Beweislast nach Verantwortungsbereichen verteilt (RdNr. 40). Nur Tatsachen aus dem Verantwortungsbereich des Mieters muss dieser selbst darlegen und beweisen - insbesondere solche, die für ihn wahrnehmbar sind. BGH: Der Mieter müsse daher Art, Dauer und Frequenz des Lärms so darlegen und beweisen, dass die Annahme seiner Wesentlichkeit (§ 906 BGB) gerechtfertigt sei (RdNr. 41 f.). Jedoch trage der Vermieter die Darlegungs- und Beweislast für Tatsachen, die seine Ansprüche gegen den Emittenten ausschließen und seinem eigenen Verantwortungsbereich entstammen (RdNr. 47). Während M den Mangel darlegen und beweisen muss, muss V zeigen, dass ihm keine entsprechenden Ansprüche gegen den Emittenten zustehen.

11. Stellt diese Verteilung der Darlegungs- und Beweislast eine Ausnahme vom Grundsatz des § 536 Abs. 1 S. 3 BGB dar?

Nein!

Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass ein Mietmangel unerheblich ist, trägt der Vermieter (§ 536 Abs. 1 S. 3 BGB). M muss darlegen und beweisen, dass der Lärm wesentlich ist (§ 906 BGB). Auf diese Weise wird der hypothetische Parteiwille ermittelt, der im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung die vertragliche Soll-Beschaffenheit definiert. BGH: So entscheide sich, ob überhaupt ein Mietmangel vorliege (§ 536 Abs. 1 S. 1 BGB). Diese Frage habe logischen Vorrang vor der Beurteilung der Erheblichkeit des Mangels, sodass für eine Anwendung des § 536 Abs. 1 S. 3 BGB kein Raum mehr bleibe (BGH NJW 2020, 2884 Rn. 86 f.).

12. Ob die Miete gemindert und daher die Klage des M begründet ist (§ 536 Abs. 1 S. 1 BGB), lässt sich vorliegend nicht abschließend beurteilen.

Genau, so ist das!

Eine Klage ist unschlüssig, wenn der Kläger seiner Darlegungslast nicht genügt, also nicht schlüssig vorträgt. Der Mieter muss Art, Dauer und Frequenz des Lärms so darlegen, dass die Annahme seiner Wesentlichkeit (§ 906 BGB) gerechtfertigt ist (RdNr. 41 f.). M (d.h. der Sachverhalt) macht keinerlei Angaben zum Ausmaß des Lärms. Im Originalfall hatte der BGH zur weiteren Sachverhaltsermittlung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. In der Klausur müssten entweder noch zusätzliche Angaben gemacht oder die Wesentlichkeit im Bearbeitervermerk festgestellt werden.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

PPAA

Philipp Paasch

11.10.2022, 23:20:03

Wisst ihr, wie die Sache weiter ging?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

26.10.2022, 19:39:30

Hallo Philipp, online ist noch keine nachfolgende Entscheidung abrufbar. Bei Interesse kannst Du aber natürlich das LG Berlin einmal nach dem Verfahrensstand fragen :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Simon

Simon

17.10.2024, 23:41:52

Falls noch jemanden das Update interessiert: LG Berlin II, BeckRS 2024, 2949. Das LG bejaht wohl eine wesentliche Beeinträchtigung i.S.d. § 906 I 1 BGB, wenngleich es nur von einer "mehr als unerheblichen Beeinträchtigung" spricht. Dazu das LG: "Der von der Klägerin geschilderte und von den Zeugen bestätigte Staub sowie vor allem der Lärm [...] bedingte zur Überzeugung der Kammer, dass die Klägerin die Wohnung während des Baubetriebs tagsüber nicht lüften und sich während dieser Zeiten auf dem Balkon nicht mehr zu Erholungszwecken aufhalten konnte. [...] Die Zeugen haben übereinstimmend und gut nachvollziehbar geschildert, dass Telefonate oder persönliche Gespräche innerhalb ihrer jeweiligen Wohnungen nur erschwert möglich waren und eine gegenseitige Verständigung lautes Rufen erforderte." Allerdings ging das Gericht davon aus, dass es sich um eine ortsübliche Benutzung des Baugrundstücks handelt, die nicht durch wirtschaftlich zumutbare Maßnahmen zu verhindern war (§ 906 II 1): Eine Neubebauung des Grundstücks alle 50 Jahre stelle eine solche ortsübliche Nutzung dar, zumal die Nachtzeiten und einschlägigen Immissionsrichtwerte beim Bau eingehalten wurden. Ein nach § 906 II 2 ausgleichsplichtiges Sonderopfer läge nicht vor. Damit wurde iErg. ein Mangel abgelehnt, allerdings hat das LG die Revision zum BGH zugelassen.

fuchs_

fuchs_

19.10.2024, 14:10:20

Vielen Dank @[Simon](131793). Aus Sicht von Mietern echt irre, dass ein Mangel abgelehnt wurde, wenn derartige Einschränkungen vorlagen, wie im Urteil selbst beschrieben. Andererseits irgendwie verständlich, dass der Vermieter auch nichts dafür kann, wenn das Grundstück mit der Baustelle nicht in seinem Eigentum steht. Ich frage mich, ob man dann wenigstens Ansprüche gegen denjenigen hat, der das Nachbargrundstück bebaut, wenn der Lärm und Staub wirklich derartig ist?


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