Strafrecht
BT 2: Diebstahl, Betrug, Raub u.a.
Diebstahl (§ 242 StGB)
Vergessene Gegenstände | innerhalb einer Gewahrsamssphäre
Vergessene Gegenstände | innerhalb einer Gewahrsamssphäre
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Student O vergisst nach der Strafrechtsvorlesung seinen aus gazeartigem Gewebe in Italien gefertigten Schal im Hörsaal seiner Universität U. Dies bemerkt er schnell, kann jedoch wegen eines Termins erst am Abend wieder den Hörsaal aufsuchen, der die ganze Zeit für jedermann frei zugänglich war. Strafrechtsprofessor P, der modisch am Puls der Zeit bleiben möchte, hatte den Schal jedoch etwa eine halbe Stunde nach Vorlesungsende an sich und mit nach Hause genommen.
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Einordnung des Falls
Vergessene Gegenstände | innerhalb einer Gewahrsamssphäre
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Als O den Hörsaal ohne den Schal verließ, behielt er dennoch den Gewahrsam hieran.
Nein!
Jurastudium und Referendariat.
2. P hat den Schal des O weggenommen.
Genau, so ist das!
3. Als O den Hörsaal ohne den Schal verließ, wurde der Schal gewahrsamslos.
Nein, das trifft nicht zu!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Carl
13.5.2021, 14:54:29
Hat P nicht den Gewahrsam der U und nicht der O gebrochen?
Tigerwitsch
13.5.2021, 15:23:52
O hat keinen Gewahrsam (mehr). Grundsätzlich ist es zwar möglich, dass - wenn man sich später an den verlorenen Gegenstand erinnert - dass der Gewahrsam lediglich gelockert ist. Etwas anderes gilt, wenn sich der Gegenstand an einem öffentlich zugänglichen Ort (zB einer Straße oder eben hier im Hörsaal) befindet. Dann ist der Gewahrsam verloren und auch nicht gelockert. Hintergrund ist, dass aufgrund des öffentlich zugänglichen Ortes, der Zugriff für jedermann möglich und die Einwirkung für den Geschädigten nicht mehr ohne weiteres möglich ist. Da der Hörsaal - anders als im Original-Fall des BGH (Straße) - zu der Universität gehört, besteht nunmehr dennoch ein Gewahrsam an dem Schal (Übergang auf den Rektor der Uni). Insofern hat P den Schal weggenommen. ——— Hätte O den Schal demgegenüber auf der Straße verloren, wäre dieser gewahrsamlos. Dann hätte sich P lediglich wegen § 246 Abs. 1 StGB (Fund-Unterschlagung) strafbar gemacht. (Siehe BGH, U. v. 14.04.2020 - AZ.: 5 StR 10/20)
Carl
13.5.2021, 16:20:47
So sehe ich das auch. In der Lösung steht aber, dass P dem O den Schal weggenommen hat. Müsste doch U (oder R) sein.
Tigerwitsch
13.5.2021, 17:07:16
Also wenn ich den Lösungstext richtig verstehe/lese, hat P den Gewahrsam des R (als Organ der Uni) gebrochen und neuen Gewahrsam begründet (= Wegnahme) 😇
Tigerwitsch
13.5.2021, 17:09:17
Falls Du den Satz meinst: „P hat den Schal des O weggenommen.“ stimmt die Aussage mE. Der Schal steht ja weiterhin im Eigentum des O. Der Satz lautet ja nicht, dass P „dem“ O weggenommen hat, sondern lediglich dass eine Wegnahme (abstrakt) erfolgt ist.
Carl
13.5.2021, 17:11:18
Jo, habe den Satz ungenau gelesen. Stellt ja nur aufs Eigentum und nicht auf Gewahrsam ab.
Blotgrim
30.10.2022, 16:24:51
Also mir würde jetzt wenige Plätze einfallen an denen man was verlieren kann, die nicht öffentlich zugänglich sind und somit einen Gewahrsamvetlust bei Entfernung begründen würden. Könnte mir jemand ein alltägliches Beispiel geben, wo man am einer verlorenen Sache Gewahrsam behält?
Nora Mommsen
12.11.2022, 13:13:43
Hallo Blotgrim, die von dir beschriebene Konstellation gibt es nicht. Entweder jemand hat zumindest noch gelockerten Gewahrsam. Besteht kein Gewahrsam mehr ist die Sache verloren. Ist die Sache nicht nur verloren, also ohne Gewahrsam daran, sondern auch nicht im Eigentum einer Person stehend bezeichnet man sie als herrenlos. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Prokurist
17.11.2022, 14:44:44
@ Blotgrim: Verliert man die Sache, weiß also nicht wo sie sich befindet, verliert man grundsätzlich den Gewahrsam. In Fällen, in denen sich der Eigentümer aber daran erinnert, wo sich die Sache befindet und er auch die Möglichkeit und den Willen hat, die Sache sofort wiederzuerlangen, spricht sich ein Teil der Literatur durchaus dafür aus, dass auch im öffentlich zugänglichen Bereich der Gewahrsam fortbesteht. Ich persönlich halte die Lösung zu diesem Fall deshalb für richtig (weil hM) aber nicht für ganz unumstritten.
omnimodo facturus
27.11.2022, 15:28:18
Ist das mit dem Gewahrsamsverlust tatsächlich so? Ich habe es seit dem ersten Semester so gelernt, dass der Gewahrsam nur bei verlorenen Sachen, nicht aber bei - wie hier - vergessenen Sachen verloren geht, unabhängig davon, ob man jetzt direkt wieder darauf zugreifen kann.
Nora Mommsen
28.11.2022, 12:33:39
Hallo omnimodo facturus, es ist zu unterscheiden. In einem generell beherrschten Raum (Wohnung, Pkw etc.) gelagerte – fremde oder eigene – Sachen stehen im Gewahrsam des Rauminhabers, sofern sie sich nicht in einer
Gewahrsamsenklavebefinden (z.B. im Rucksack). Sind Gegenstände im eigenen Herrschaftsbereich nur verlegt oder von Dritten versteckt, bleibt nach sozialer Anschauung der Gewahrsam für den Rauminhaber bestehen. Werden Sachen dagegen außerhalb der eigenen
Gewahrsamssphäreverloren oder vergessen, ist zu differenzieren: Der Gewahrsamsverlust führt zur Gewahrsamslosigkeit, wenn die Sache außerhalb des Herrschaftsbereichs eines Dritten (Wald, Straße) verloren wird, dagegen zur Gewahrsamsneubegründung beim Inhaber von generell beherrschten Räumen wie Gaststätten, Geschäften etc. bei Verlust in diesen Räumen. Nach einer stark vertretenen Ansicht besteht Gewahrsam fort, wenn sich der Eigentümer der Sache an den Ort erinnert und die Möglichkeit hat, die Sache sofort wiederzuerlangen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
jannis21
9.2.2024, 18:50:16
Mit Ihrem letzten Satz widersprechen Sie aber der (vermeintlich) richtigen Lösung des Sachverhalts. Der Inhaber des Schals hat nämlich gewusst wo genau er den Schal liegen gelassen hat und zusätzlich auch faktisch Möglichkeit gehabt den Schal innerhalb kürzester Zeit wieder zu erlangen. Er hat sich jedoch freiwillig dagegen entschieden von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, da er lieber seinen Termin wahrnehmen wollte. Nach meinem Gefühl wird der Gewahrsamsbegriff von euch nicht klar genug definiert. Ist es erheblich ob der Schal in der
Gewahrsamssphäreeines anderen vergessen wird, oder ob er auf einer öffentlichen Straße vergessen wird? Hängt der Eintritt des Gewahrsamsverlusts wirklich davon ab, ob der ursprüngliche Gewahrsamsinhaber sich den vergessenen Gegenstand sofort oder nur unter zeitlicher Zäsur wieder zurück holen kann? Falls ja, wie viel Zeit muss vergangen sein? Oder hängt es gar davon ab ob er sich den Schal sofort oder später holen möchte (wie scheinbar hier entscheidend)? Schwer vorstellbar… Schon die Definitionen scheinen mir ziemlich schwammig und teils widersprüchlich. Eine klare Subsumption ist so kaum möglich.
blu
12.6.2024, 19:40:52
Auch wenn er weiß, wo er den Schal verloren hat, besteht kein Gewahrsam mehr, wenn die Sache in einem öffentlichen Bereich liegt. Universität Bahnhof etc. eben OBWOHL er genau weiß dass er den Schal dort verloren hat