Strafrecht

BT 2: Diebstahl, Betrug, Raub u.a.

Diebstahl (§ 242 StGB)

Vergessene Gegenstände | innerhalb einer Gewahrsamssphäre

Vergessene Gegenstände | innerhalb einer Gewahrsamssphäre

22. November 2024

4,8(20.050 mal geöffnet in Jurafuchs)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Student O vergisst nach der Strafrechtsvorlesung seinen aus gazeartigem Gewebe in Italien gefertigten Schal im Hörsaal seiner Universität U. Dies bemerkt er schnell, kann jedoch wegen eines Termins erst am Abend wieder den Hörsaal aufsuchen, der die ganze Zeit für jedermann frei zugänglich war. Strafrechtsprofessor P, der modisch am Puls der Zeit bleiben möchte, hatte den Schal jedoch etwa eine halbe Stunde nach Vorlesungsende an sich und mit nach Hause genommen.

Diesen Fall lösen 62,3 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Vergessene Gegenstände | innerhalb einer Gewahrsamssphäre

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Als O den Hörsaal ohne den Schal verließ, behielt er dennoch den Gewahrsam hieran.

Nein!

Gewahrsam ist als die von einem natürlichen Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft zu verstehen, deren Reichweite und Grenzen sich nach der Verkehrsanschauung bestimmen. Bei vergessenen Sachen kann der Gewahrsam fortbestehen, solange keine äußeren Faktoren der Wiedererlangung entgegenstehen und der Gewahrsamsinhaber sich an den Ort des Verlusts erinnern kann (gelockerter Gewahrsam). Von einem Gewahrsamsverlust ist allerdings auszugehen, wenn der Gegenstand in einem öffentlichen, mithin für jede Person zugänglichen Bereich liegt und der ortsabwesende Geschädigte nicht in der Lage ist, auf die Sache einzuwirken. Bei dem Vorlesungssaal handelt es sich um einen öffentlich zugänglichen Raum. Nach dem Verlassen des Vorlesungssaal hatte O keine Einwirkungsmöglichkeit mehr.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. P hat den Schal des O weggenommen.

Genau, so ist das!

Die Wegnahme bezeichnet den Bruch fremden und die Begründung neuen, nicht notwendigerweise tätereigenen Gewahrsam. Indem P den Schal mit nach Hause nahm, verbrachte er diesen in seine Gewahrsamssphäre. Spätestens dadurch begründete er Alleingewahrsam. Dies geschah auch ohne den Willen der R. Somit hat P den Schal weggenommen.

3. Als O den Hörsaal ohne den Schal verließ, wurde der Schal gewahrsamslos.

Nein, das trifft nicht zu!

Wird eine Sache innerhalb des Herrschaftsbereichs eines Dritten (Gaststätte, U-Bahn) verloren, führt dies zur Gewahrsamsneubegründung beim jeweiligen Inhaber, der einen generellen Gewahrsamswillen bezüglich aller Sachen in seinem Herrschaftsbereich hat.Der Schal wurde im Hörsaal der U verloren, also in ihrem Herrschaftsbereich. Somit hat Rektorin R als handelndes Organ der U neuen Gewahrsam an dem Schal begründet.
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
facebook
facebook
facebook
instagram

Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

CAR

Carl

13.5.2021, 14:54:29

Hat P nicht den Gewahrsam der U und nicht der O gebrochen?

Tigerwitsch

Tigerwitsch

13.5.2021, 15:23:52

O hat keinen Gewahrsam (mehr). Grundsätzlich ist es zwar möglich, dass - wenn man sich später an den verlorenen Gegenstand erinnert - dass der Gewahrsam lediglich gelockert ist. Etwas anderes gilt, wenn sich der Gegenstand an einem öffentlich zugänglichen Ort (zB einer Straße oder eben hier im Hörsaal) befindet. Dann ist der Gewahrsam verloren und auch nicht gelockert. Hintergrund ist, dass aufgrund des öffentlich zugänglichen Ortes, der Zugriff für jedermann möglich und die Einwirkung für den Geschädigten nicht mehr ohne weiteres möglich ist. Da der Hörsaal - anders als im Original-Fall des BGH (Straße) - zu der Universität gehört, besteht nunmehr dennoch ein Gewahrsam an dem Schal (Übergang auf den Rektor der Uni). Insofern hat P den Schal weggenommen. ——— Hätte O den Schal demgegenüber auf der Straße verloren, wäre dieser gewahrsamlos. Dann hätte sich P lediglich wegen § 246 Abs. 1 StGB (Fund-Unterschlagung) strafbar gemacht. (Siehe BGH, U. v. 14.04.2020 - AZ.: 5 StR 10/20)

CAR

Carl

13.5.2021, 16:20:47

So sehe ich das auch. In der Lösung steht aber, dass P dem O den Schal weggenommen hat. Müsste doch U (oder R) sein.

Tigerwitsch

Tigerwitsch

13.5.2021, 17:07:16

Also wenn ich den Lösungstext richtig verstehe/lese, hat P den Gewahrsam des R (als Organ der Uni) gebrochen und neuen Gewahrsam begründet (= Wegnahme) 😇

Tigerwitsch

Tigerwitsch

13.5.2021, 17:09:17

Falls Du den Satz meinst: „P hat den Schal des O weggenommen.“ stimmt die Aussage mE. Der Schal steht ja weiterhin im Eigentum des O. Der Satz lautet ja nicht, dass P „dem“ O weggenommen hat, sondern lediglich dass eine Wegnahme (abstrakt) erfolgt ist.

CAR

Carl

13.5.2021, 17:11:18

Jo, habe den Satz ungenau gelesen. Stellt ja nur aufs Eigentum und nicht auf Gewahrsam ab.

BL

Blotgrim

30.10.2022, 16:24:51

Also mir würde jetzt wenige Plätze einfallen an denen man was verlieren kann, die nicht öffentlich zugänglich sind und somit einen Gewahrsamvetlust bei Entfernung begründen würden. Könnte mir jemand ein alltägliches Beispiel geben, wo man am einer verlorenen Sache Gewahrsam behält?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

12.11.2022, 13:13:43

Hallo Blotgrim, die von dir beschriebene Konstellation gibt es nicht. Entweder jemand hat zumindest noch gelockerten Gewahrsam. Besteht kein Gewahrsam mehr ist die Sache verloren. Ist die Sache nicht nur verloren, also ohne Gewahrsam daran, sondern auch nicht im Eigentum einer Person stehend bezeichnet man sie als herrenlos. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

PR

Prokurist

17.11.2022, 14:44:44

@ Blotgrim: Verliert man die Sache, weiß also nicht wo sie sich befindet, verliert man grundsätzlich den Gewahrsam. In Fällen, in denen sich der Eigentümer aber daran erinnert, wo sich die Sache befindet und er auch die Möglichkeit und den Willen hat, die Sache sofort wiederzuerlangen, spricht sich ein Teil der Literatur durchaus dafür aus, dass auch im öffentlich zugänglichen Bereich der Gewahrsam fortbesteht. Ich persönlich halte die Lösung zu diesem Fall deshalb für richtig (weil hM) aber nicht für ganz unumstritten.

OFAC

omnimodo facturus

27.11.2022, 15:28:18

Ist das mit dem Gewahrsamsverlust tatsächlich so? Ich habe es seit dem ersten Semester so gelernt, dass der Gewahrsam nur bei verlorenen Sachen, nicht aber bei - wie hier - vergessenen Sachen verloren geht, unabhängig davon, ob man jetzt direkt wieder darauf zugreifen kann.

Nora Mommsen

Nora Mommsen

28.11.2022, 12:33:39

Hallo omnimodo facturus, es ist zu unterscheiden. In einem generell beherrschten Raum (Wohnung, Pkw etc.) gelagerte – fremde oder eigene – Sachen stehen im Gewahrsam des Rauminhabers, sofern sie sich nicht in einer

Gewahrsamsenklave

befinden (z.B. im Rucksack). Sind Gegenstände im eigenen Herrschaftsbereich nur verlegt oder von Dritten versteckt, bleibt nach sozialer Anschauung der Gewahrsam für den Rauminhaber bestehen. Werden Sachen dagegen außerhalb der eigenen

Gewahrsamssphäre

verloren oder vergessen, ist zu differenzieren: Der Gewahrsamsverlust führt zur Gewahrsamslosigkeit, wenn die Sache außerhalb des Herrschaftsbereichs eines Dritten (Wald, Straße) verloren wird, dagegen zur Gewahrsamsneubegründung beim Inhaber von generell beherrschten Räumen wie Gaststätten, Geschäften etc. bei Verlust in diesen Räumen. Nach einer stark vertretenen Ansicht besteht Gewahrsam fort, wenn sich der Eigentümer der Sache an den Ort erinnert und die Möglichkeit hat, die Sache sofort wiederzuerlangen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

JAN

jannis21

9.2.2024, 18:50:16

Mit Ihrem letzten Satz widersprechen Sie aber der (vermeintlich) richtigen Lösung des Sachverhalts. Der Inhaber des Schals hat nämlich gewusst wo genau er den Schal liegen gelassen hat und zusätzlich auch faktisch Möglichkeit gehabt den Schal innerhalb kürzester Zeit wieder zu erlangen. Er hat sich jedoch freiwillig dagegen entschieden von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, da er lieber seinen Termin wahrnehmen wollte. Nach meinem Gefühl wird der Gewahrsamsbegriff von euch nicht klar genug definiert. Ist es erheblich ob der Schal in der

Gewahrsamssphäre

eines anderen vergessen wird, oder ob er auf einer öffentlichen Straße vergessen wird? Hängt der Eintritt des Gewahrsamsverlusts wirklich davon ab, ob der ursprüngliche Gewahrsamsinhaber sich den vergessenen Gegenstand sofort oder nur unter zeitlicher Zäsur wieder zurück holen kann? Falls ja, wie viel Zeit muss vergangen sein? Oder hängt es gar davon ab ob er sich den Schal sofort oder später holen möchte (wie scheinbar hier entscheidend)? Schwer vorstellbar… Schon die Definitionen scheinen mir ziemlich schwammig und teils widersprüchlich. Eine klare Subsumption ist so kaum möglich.

BLU

blu

12.6.2024, 19:40:52

Auch wenn er weiß, wo er den Schal verloren hat, besteht kein Gewahrsam mehr, wenn die Sache in einem öffentlichen Bereich liegt. Universität Bahnhof etc. eben OBWOHL er genau weiß dass er den Schal dort verloren hat


Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und mit 15.000+ Nutzer austauschen.
Kläre Deine Fragen zu dieser und 15.000+ anderen Aufgaben mit den 15.000+ Nutzern der Jurafuchs-Community
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen