Grundfall

21. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Räuber R erschießt den verwitweten Familienvater V bei einem Banküberfall. Die 18-jährige Tochter T des V ist darüber dauerhaft zutiefst traurig.

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Einordnung des Falls

Grundfall

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. V hatte dem Grunde nach einen Schadensersatzanspruch gegen R (§ 823 Abs. 1 BGB).

Ja!

Der haftungsbegründende Tatbestand von § 823 Abs. 1 BGB setzt voraus: (1) eine Rechtsgutsverletzung beim Anspruchssteller, (2) die durch ein Verhalten des Anspruchsgegners, (3) kausal, (4) rechtswidrig und (5) schuldhaft verursacht wurde, wodurch (6) ein kausaler Schaden entstanden ist. R hat vorsätzlich und widerrechtlich das Rechtsgut Leben des V verletzt (haftungsbegründender Tatbestand). Jedoch kommt V aufgrund seines Todes mangels Rechtsfähigkeit nicht mehr als Anspruchsteller in Frage. T hätte als Erbin zwar diesen Anspruch geerbt (§ 1922 Abs. 1 BGB). Da V aber sogleich verstorben ist, fehlt es an einem ersetzbaren Schaden.
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2. Da T seelisches Leid erleidet, kann sie einen eigenen Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB gegenüber R geltend machen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Zur Vermeidung der Uferlosigkeit von Schadenersatzansprüchen gilt im deutschen Privatrecht der Grundsatz, dass nur der Schaden des unmittelbar Beeinträchtigten ersatzfähig ist, nicht aber Schäden Dritter (Unmittelbarkeitsgrundsatz). Eine eigene unmittelbare Beeinträchtigung der T käme nur unter den Voraussetzungen des Schockschadens in Betracht, wenn also das Leid der T Krankheitswert hätte. Allgemeine Trauer genügt dafür jedoch nicht, sodass T keinen Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB gegen V hat.Die frühere Rspr. forderte bei sog. Schockschäden zusätzlich, dass die gesundheitliche Störung über das hinausginge, was infolge der schweren Verletzung naher Angehöriger in der Regel zu erwarten sei. Der BGH hat dieses einschränkende Kriterium 2022 aufgegeben. Es sei unbillig, bei infolge schwerer Straftaten zulasten Dritter entstandener psychischer Störungen eine Gesundheitsschädigung abzulehnen, weil bei vergleichbaren Straftaten regelmäßig psychische Störungen aufträten.

3. Der Hinterbliebene eines Getöteten kann ausnahmsweise einen eigenen Schadensersatzanspruch infolge der Tötung haben.

Ja, in der Tat!

§ 844 Abs. 3 S. 1 BGB gewährt jedem Hinterbliebenen, der zum Getöteten im Zeitpunkt der Verletzung in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, einen Anspruch auf Entschädigung für das von ihm erlittene seelische Leid. Eine eigene unmittelbare Rechtsgutsverletzung ist hierfür nicht erforderlich, insofern genügt eine "mittelbare" Schädigung. § 844 Abs. 3 S. 1 BGB setzt voraus (1) einen hypothetischen Deliktsanspruch, (2) den dadurch kausal herbeigeführten Tod eines anderen, (3) ein besonderes persönliches Näheverhältnis im Zeitpunkt der Verletzung und (4) seelisches Leid.

4. Ein hypothetischer Deliktsanspruch liegt vor, weil der Getötete V einen Schadensersatzanspruch gegen R hätte (§ 823 Abs. 1 BGB).

Ja!

§ 844 Abs. 3 S. 1 BGB setzt voraus, dass der Schädiger gegenüber dem Primärgeschädigten – dem Getöteten – einen haftungsbegründenden Tatbestand der §§ 823 ff. BGB erfüllt. Dabei müssen sämtliche haftungsbegründenden Voraussetzungen der infrage kommenden Norm vorliegen. Lediglich ein eigener Schaden muss beim Primärgeschädigten nicht vorliegen. R haftet gegenüber V dem Grunde nach aus § 823 Abs. 1 BGB.

5. Durch die unerlaubte Handlung des R ist V verstorben.

Genau, so ist das!

Der Primärgeschädigte muss durch die Erfüllung des hypothetischen Deliktsanspruchs zurechenbar gestorben sein. Hier ist der Deliktsanspruch bereits hinsichtlich der Tötung verwirklicht. § 844 Abs. 3 S. 1 BGB kann auch dann vorliegen, wenn der Schädiger etwa § 823 Abs. 1 BGB nur im Hinblick auf eine Körperverletzung erfüllt, diese aber zurechenbar zu dem Tod des Primärgeschädigten führt.

6. T stand zum Zeitpunkt der Verletzung in einem Näheverhältnis zu V.

Ja, in der Tat!

Einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld haben nur Hinterbliebene, die zum Zeitpunkt der Verletzung zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis standen (§ 844 Abs. 3 S. 1 BGB). Dafür kommt es nicht auf verwandtschaftliche Beziehungen, sondern auf die Intensität der gelebten sozialen Beziehung an. Ein besonderes persönliches Näheverhältnis wird widerlegbar vermutet, wenn der Hinterbliebene der Ehegatte, der Lebenspartner, ein Elternteil oder ein Kind des Getöteten war (§ 844 Abs. 3 S. 2 BGB). Als Tochter des V stand diese jedenfalls nach der unwiderlegten Vermutung in einem Näheverhältnis zu V.

7. T hat seelisches Leid erlitten.

Ja!

Der Hinterbliebenen muss durch die Tötung (Kausalität) seelische Leid erleiden (§ 844 Abs. 3 S. 1 BGB). Eine nur geringe Beeinträchtigung, etwa durch Gefühle der Trauer, Angst oder Einsamkeit, reicht aus. In der Regel indiziert das bestehende Näheverhältnis zwischen Hinterbliebenem und Getötetem das seelische Leid. Das bestehende Näheverhältnis zwischen T und V indiziert das seelische Leid der T.

8. Als Rechtsfolge kann T Schmerzensgeld (§ 253 Abs. 2 BGB) von R verlangen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Anspruch aus § 844 Abs. 3 S. 1 BGB ist nicht auf Schmerzensgeld, sondern auf eine angemessene Entschädigung für das seelische Leid gerichtet. Er soll also nicht eine eigene Gesundheitsbeeinträchtigung im Wege des Schadensersatzes ausgleichen (vgl. § 253 Abs. 2 BGB). Vielmehr dient das Hinterbliebenengeld dem symbolischen Ausgleich seelischer Nachteile, die durch den Verlust einer geliebten Person eintreten. Ausgangspunkt für die Anspruchshöhe ist eine durchschnittliche Entschädigungssumme von €10.000.
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