+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Ein neues Gesetz ermächtigt die Gemeinde G, einzelnen Hauseigentümern die Farbe der Außenfassade vorzugeben. G verfügt schriftlich gegenüber E, dass er auf seine Fassade den bayerischen Löwen malen muss. Aus dem Bescheid geht G als erlassende Behörde nicht hervor.

Einordnung des Falls

Rücknahme eines nichtigen belastenden Verwaltungsakts?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Verfügung, wonach E auf sein Haus den bayerischen Löwen malen muss, ist ein belastender Verwaltungsakt. Eine Rücknahme würde sich deswegen nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG richten.

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Genau, so ist das!

Ein Verwaltungsakt ist belastend, wenn die Regelung nachteilig für den Adressaten ist. Ein belastender Verwaltungsakt kann, "auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden" (§ 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG). Der Verwaltungsakt verpflichtet E dazu, eine bestimmte Handlung vorzunehmen. Er ist damit zumindest in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) betroffen. Dazu kommt, dass das Haus in seinem Eigentum und die Verpflichtung, es anzumalen, sein Eigentumsrecht (Art. 14 Abs. 1 GG) betrifft.

2. Nichtige Verwaltungsakte können auch zurückgenommen werden.

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Nein, das trifft nicht zu!

Mit einer Rücknahme wird die Wirksamkeit des Verwaltungsakts beendet. Rechtswidrig erlassene Verwaltungsakte sind zunächst wirksam (vgl. § 43 Abs. 2 VwVfG) und können von der Behörde zurückgenommen werden (§ 48 VwVfG). Hiervon zu unterscheiden sind nichtige Verwaltungsakte. Ein nichtiger Verwaltungsakt (§ 44 VwVfG) ist unwirksam (§ 43 Abs. 3 VwVfG). Er entfaltet von Anfang an (ex tunc) keinerlei Rechtswirkung. Eine Rücknahme kommt deswegen nicht in Betracht. Die Behörde kann die Nichtigkeit aber jederzeit gem. § 44 Abs. 5 VwVfG feststellen. Das gilt genauso beim Widerruf (§ 49 VwVfG).

3. § 44 Abs. 2 VwVfG regelt sog. absolute Nichtigkeitsgründe. G's Verwaltungsakt ist nichtig, weil er G als erlassende Behörde nicht erkennen lässt.

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Ja!

Ob ein Verwaltungsakt nichtig ist, muss in folgender Reihenfolge geprüft werden: (1) Absolute Nichtigkeitsgründe (§ 44 Abs. 2 VwVfG), (2) Ausnahmetatbestand zu § 44 Abs. 1 VwVfG (§ 44 Abs. 3 VwVfG), (3) Generalklausel (§ 44 Abs. 1 VwVfG). Liegen absolute Nichtigkeitsgründe vor, kommt es auf das Vorliegen der Voraussetzungen aus § 44 Abs. 1 VwVfG nicht an. Die Aufzählung der absoluten Nichtigkeitsgründe in § 44 Abs. 2 VwVfG ist abschließend. Ein Verwaltungsakt ist nichtig, wenn er schriftlich oder elektronisch erlassen worden ist und die erlassende Behörde nicht erkennen lässt (§ 44 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG). Die Verfügung gegenüber E lässt G als ausstellende Behörde nicht erkennen.

4. G kann den nichtigen belastenden Verwaltungsakt nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG zurücknehmen.

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Nein, das ist nicht der Fall!

Die Behörde kann nur Verwaltungsakte aufheben - also ihre Wirksamkeit beenden -, wenn diese zunächst wirksam sind. Ist der Verwaltungsakt nicht nur rechtswidrig, sondern nichtig (§ 44 VwVfG), ist dieser unwirksam (§ 43 Abs. 3 VwVfG). Er entfaltet von Anfang an (ex tunc) keinerlei Rechtswirkung. Eine Rücknahme kommt deswegen nicht in Betracht. Die Behörde kann die Nichtigkeit aber jederzeit gem. § 44 Abs. 5 VwVfG feststellen. G kann den Verwaltungsakt gegenüber E nicht zurücknehmen, aber die Nichtigkeit feststellen.

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Simon

Simon

23.12.2022, 22:41:56

Angenommen, E stellt bei der Behörde einen Antrag auf Rücknahme des VA nach § 48 I 1 VwVfG: Kann man diesen dann analog § 140 BGB in einen Antrag iSv § 44 V Hs. 2 VwVfG umdeuten?

AB

Abi

23.2.2023, 18:39:33

Gute Frage…aus meiner Sicht ja. Vor allem im gerichtlichen Verfahren legt das Verwaltungsgericht meist bürgerfreundlich aus. Die Nichtigkeit ist von der Rechtsfolge am Weitreichenden. E müsste aber ein berechtigtste Interesse an der Feststellung der Nichtigkeit haben (zB Kosteninteresse)

Dogu

Dogu

12.8.2023, 18:43:54

Die Aussage, unwirksame VA könne die Verwaltung nicht zurücknehmen oder widerrufen stimmt so nicht mit der Rspr. überein. BVerwG, Urt. v. 17.11.2016 – 6 C 36/15 Rn. 12: "Andererseits ist jedoch überwiegend anerkannt, dass auch ein nichtiger Verwaltungsakt in zumindest analoger Anwendung des § 48 VwVfG zurückgenommen werden kann, um den mit ihm verbundenen Rechtsschein zu beseitigen (vgl. VGH Mannheim, EZAR NF 93 Nr. 3, S. 3 f. = ZAR 2007, 105 = BeckRS 2007, 21207; Ramsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 49 Rn. 10; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 43 Rn. 198, § 48 Rn. 57; Ziekow, VwVfG, 3. Aufl. 2013, § 48 Rn. 7; J. Müller in Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, 2. Aufl. 2016, § 48 Rn. 8; aA: Suerbaum in Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 1. Aufl. 2014, § 48 Rn. 40; Kastner in Fehling/Kastner/Störmer, HK-VerwR, 4. Aufl. 2016, § 48 VwVfG Rn. 23)."

Dogu

Dogu

13.8.2023, 10:37:30

Das gebietet auch die Rechtsklarheit für den Inhaltsadressaten des VA. So ist er definitiv aus der Welt, wenn die Behörde dies ebenfalls wünscht, auch wenn der VA ggfs. "nur" rechtswidrig war.

NI

Nilson2503

2.10.2023, 20:27:46

Ich glaube das ist auch mit dem Kommentar in der Aufgabe gemeint, dass die Behörde die Nichtigkeit feststellen kann. Es soll wahrscheinlich nur verdeutlichen, dass der nichtige VA nicht zurückgenommen oder widerrufen werden kann, weil von ihm keine Rechtswirkungen ausgehen, die zurückgenommen oder widerrufen werden könnten.

Dogu

Dogu

2.10.2023, 21:06:19

Aber das Urteil sagt doch gerade das aus: er kann zurückgenommen werden.

Rick-energie🦦

Rick-energie🦦

16.11.2023, 17:23:44

Habs auch in der Uni so gelernt. Gleiches Argument warum nichtige VAs auch angefochten werden können.


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