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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Ein neues Gesetz ermächtigt die Gemeinde G, einzelnen Hauseigentümern die Farbe der Außenfassade vorzugeben. G verfügt schriftlich gegenüber E, dass er auf seine Fassade den bayerischen Löwen malen muss. Aus dem Bescheid geht G als erlassende Behörde nicht hervor.

Einordnung des Falls

Rücknahme eines nichtigen belastenden Verwaltungsakts?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Verfügung, wonach E auf sein Haus den bayerischen Löwen malen muss, ist ein belastender Verwaltungsakt. Eine Rücknahme würde sich deswegen nach § 49 Abs. 1 VwVfG richten.

Nein, das ist nicht der Fall!

Nein! Der Widerruf (§ 49 VwVfG) hat rechtmäßige Verwaltungsakte zum Gegenstand. Für rechtswidrige Verwaltungsakte ist die Rücknahme gemäß § 48 VwVfG das richtige Instrument. Die Rücknahme von belastenden Verwaltungsakten richtet sich nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG. Ein Verwaltungsakt ist belastend, wenn die Regelung nachteilig für den Adressaten ist. Der Verwaltungsakt verpflichtet E dazu, eine bestimmte Handlung vorzunehmen. Er ist damit zumindest in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) betroffen. Dazu kommt, dass das Haus in seinem Eigentum und die Verpflichtung, es anzumalen, sein Eigentumsrecht (Art. 14 Abs. 1 GG) betrifft.

2. Ob auch nichtige Verwaltungsakte zurückgenommen werden können, ist strittig.

Ja, in der Tat!

§ 48 VwVfG bezieht sich wörtlich zunächst nur auf rechtswidrige Verwaltungsakt. Gegen die direkte Anwendung der Vorschrift auf nichtige Verwaltungsakte spricht § 43 Abs. 2 VwVfG, wonach die Rücknahme auf wirksame Verwaltungsakte bezogen wird. Ein nichtiger Verwaltungsakt ist aber unwirksam (§ 43 Abs. 3 VwVfG). Nach einer – auch teilweise in der Rspr. vertrenenen Ansicht – kommt aber eine analoge Anwendung des § 48 VwVfG auf nichtige Verwaltungsakte in Betracht. Einige Stimmen in der Literatur lehnen eine solche Analogie ab und verweisen auf die Möglichkeit der Behörde, die Nichtigkeit nach § 44 Abs. 5 VwVfG festzustellen. Dieselbe Frage stellt sich auch im Rahmen von § 49 VwVfG sowie in Bezug auf erledigte Verwaltungsakte (die ebenfalls unwirksam sind, § 43 Abs. 2 VwVfG).

3. § 44 Abs. 2 VwVfG regelt sog. absolute Nichtigkeitsgründe. Ist der durch G erlassene Verwaltungsakt hiernach sogar nichtig?

Ja!

Nichtige Verwaltungsakte sind – im Gegensatz zu rechtswidrigen Verwaltungsakten – unwirksam (§ 43 Abs. 3 VwVfG). Ob ein Verwaltungsakt nichtig ist, muss in folgender Reihenfolge geprüft werden: (1) Absolute Nichtigkeitsgründe (§ 44 Abs. 2 VwVfG), (2) Ausnahmetatbestand zu § 44 Abs. 1 VwVfG (§ 44 Abs. 3 VwVfG), (3) Generalklausel (§ 44 Abs. 1 VwVfG). Liegen absolute Nichtigkeitsgründe vor, kommt es auf das Vorliegen der Voraussetzungen aus § 44 Abs. 1 VwVfG nicht an. Die Aufzählung der absoluten Nichtigkeitsgründe in § 44 Abs. 2 VwVfG ist abschließend. Ein Verwaltungsakt ist nichtig, wenn er schriftlich oder elektronisch erlassen worden ist und die erlassende Behörde nicht erkennen lässt (§ 44 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG). Die Verfügung gegenüber E lässt G als ausstellende Behörde nicht erkennen.

4. Als Argument für die analoge Anwendung des § 48 VwVfG wird teilweise die Verfahrensökonomie angeführt.

Genau, so ist das!

Ob § 48 VwVfG – zumindest analog – auf nichtige Verwaltungsakte angewendet werde kann, ist strittig. Die Befürworter einer solchen Anwendung führen unter anderem die Verfahrensökonomie an: Es könne aufwendiger sein, festzustellen, ob ein Verwaltungsakt nichtig ist, als seine Rechtswidrigkeit zu ermitteln. Die Rücknahme könne daher für die Behörde ein „einfacherer“ und „sicherer“ Weg sein und sei im Rahmen des Verfahrensermessens nach § 10 VwVfG vorzuziehen. Dies biete sich vor allem in Zweifelsfällen an, in denen Erstattungsansprüche nach § 48 Abs. 3 oder § 49 Abs. 5 VwVfG nicht in Betracht kommen (siehe hierzu z.B. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 22.A. 2021, § 44 RdNr. 70). Nach dieser Ansicht kann G den nichtigen Verwaltungsakt nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG analog zurücknehmen.

5. Gegen eine analoge Anwendung von § 48 VwVfG neben der Feststellung der Nichtigkeit nach § 44 Abs. 5 VwVfG wird teilweise auf die unterschiedlichen Rechtsfolgen der Normen verwiesen.

Ja, in der Tat!

Ob § 48 VwVfG – zumindest analog – auf nichtige Verwaltungsakte angewendet werde kann, ist strittig. Nach der Gegenauffassung kommt eine Analogie des § 48 VwVfG neben § 44 Abs. 5 VwVfG nicht in Betracht. Hierfür wird darauf verwiesen, dass es sich bei § 44 Abs. 5 VwVfG um eine gebundene Entscheidung, wohingegen im Rahmen von § 48 VwVfG Ermessenserwägungen, insbesondere Aspekte des Vertrauensschutz berücksichtigt werden müssen. Außerdem sieht § 48 Abs. 3 VwVfG Geldersatz vor, was im Rahmen von § 44 Abs. 5 VwVfG ebenfalls nicht der Fall ist. Diese Unterschiede könnten nicht einfach mit dem Verweis auf einen „einfacheren“ Verwaltungsprozess überwunden werden. Es gelte allein § 44 Abs. 5 VwVfG als speziellere Regelung (siehe hierzu z.B. Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 RdNr. 7). Nach dieser Ansicht kann G den Verwaltungsakt nicht zurücknehmen, sondern nur die Nichtigkeit gemäß § 44 Abs. 5 VwVfG feststellen.

6. Weil es sich hier um einen „Zweifelsfall“ handelt, sollte G den Verwaltungsakt lieber nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG analog zurücknehmen.

Nein!

Ob § 48 VwVfG – zumindest analog – auf nichtige Verwaltungsakte angewendet werde kann, ist strittig. Vor allem in „Zweifelsfällen“, also wenn nicht einfach festgestellt werden kann, ob ein Verwaltungsakt „nur“ rechtswidrig oder nichtig ist, bietet sich die Rücknahme als „sichere Lösung“ an. Die Gegenauffassung verweist darauf, dass die Behörde es nicht offen lassen dürfe, ob der Verwaltungsakt nichtig ist oder nicht. Vielmehr müsse sie die Nichtigkeit nach § 44 Abs. 5 VwVfG feststellen. Weil der Verwaltungsakt die ausstellende Behörde nicht erkennen lässt, liegt der absolute Nichtigkeitsgrund des § 44 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG vor. Die Nichtigkeit ist damit für G offensichtlich. Es besteht daher keine Notwendigkeit, § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG analog anzuwenden. Vielmehr sollte G gemäß § 44 Abs. 5 VwVfG die Nichtigkeit des Verwaltungsakts feststellen. Es kommt vor allem darauf an, dass Du die verschiedenen Ansichten kennst. Wie Du Dich im Ergebnis entscheidest, ist Nebensache.

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Simon

Simon

23.12.2022, 22:41:56

Angenommen, E stellt bei der Behörde einen Antrag auf Rücknahme des VA nach § 48 I 1 VwVfG: Kann man diesen dann analog § 140 BGB in einen Antrag iSv § 44 V Hs. 2 VwVfG umdeuten?

ABI

Abi

23.2.2023, 18:39:33

Gute Frage…aus meiner Sicht ja. Vor allem im gerichtlichen Verfahren legt das Verwaltungsgericht meist bürgerfreundlich aus. Die Nichtigkeit ist von der Rechtsfolge am Weitreichenden. E müsste aber ein berechtigtste Interesse an der Feststellung der Nichtigkeit haben (zB Kosteninteresse)

julia_purpose

julia_purpose

6.3.2024, 15:30:19

Kleiner Ergänzungsvorschlag: Eine Behörde kann die Nichtigkeit des Verwaltungsaktes jederzeit gem. § 44 Abs. 5 VwVfG feststellen, wie ihr bereits in dieser Aufgabe ausführt. Als Ergänzung könnte noch hinzugefügt werden, dass der Adressat des Verwaltungsaktes auch von sich aus die Rechtsschutzmöglichkeit der Nichtigkeitsfeststellungsklage, § 43 Abs. 1 Var. 3 VwGO hat.

Kathi

Kathi

19.6.2024, 15:50:21

Hi, hab ich das hier im Fall richtig verstanden, dass sich die Rechtswidrigkeit aus dem vorgegebenen Löwen ergibt, da nur Farben vorgegeben werden dürfen? Ich hätte sonst einen rechtmäßigen, belastenden VA angenommen, der aber nichtig ist wegen des § 44 II Nr. 1 VwVfG.


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