Verweigerung des Handschlags als Hinderungsgrund für die Einbürgerung


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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

L ist libanesischer Staatsangehöriger und mit der deutschen Muslimin M verheiratet. Er beantragte die Einbürgerung in den deutschen Staatsverband. Bei Aushändigung der Einbürgerungsurkunde verweigert er der Sachbearbeiterin das Händeschütteln.

Einordnung des Falls

Verweigerung des Handschlags als Hinderungsgrund für die Einbürgerung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 15 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Einbürgerungsbewerber muss seinen Antrag auf Einbürgerung auf eine bestimmte Anspruchsgrundlage stützen.

Nein!

Nein. Das deutsche Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) enthält unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen für die einheitliche Rechtsfolge "Einbürgerung" (§ 10 StAG (Anspruchseinbürgerung), § 9 StAG (Solleinbürgerung) und § 8 StAG (Ermessenseinbürgerung)). Das Begehren des Einbürgerungsbewerbers ist auf die Rechtsfolge "Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit" gerichtet und nicht auf die Einbürgerung nach einer bestimmten Rechtsgrundlage. Liegen die Anspruchsvoraussetzungen nach § 10 StAG nicht vor, sind regelmäßig die Voraussetzungen der §§ 8, 9 StAG zu prüfen (RdNr. 28).

2. Tatbestandsmerkmal von § 10 Abs. 1 S. 1 StAG ist die "Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse". Dabei handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff.

Genau, so ist das!

Richtig. Die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe unterliegt der vollen gerichtlichen Prüfung (RdNr. 41). Vorliegend lässt sich aus dem GG kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Einbürgerung ableiten. Der verfassungsrechtliche Rahmen bei der Auslegung bestimmt sich daher nach allgemeinen rechtsstaatlichen Maßgaben (insbesondere Bestimmtheitsgrundsatz) und den Anforderungen des Gleichbehandlungsgebots (Art. 3 GG).

3. L stellte seinen Antrag im Jahr 2012. Das Tatbestandsmerkmal der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse (§ 10 Abs. 1 S. 1 StAG) wurde 2019 eingefügt. Das StAG ist in der aktuellen Fassung zu prüfen.

Ja, in der Tat!

Maßgebend für die Beurteilung des Einbürgerungsbegehrens ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Im Rahmen der Verpflichtungsklage darf die Behörde zum Erlass eines Verwaltungsaktes nur verpflichtet werden, wenn sie dazu nach der geltenden Rechtslage befugt ist (RdNr. 32f.).

4. Die neue Rechtslage - hier das Tatbestandsmerkmal der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse - ist auch dann zugrunde zu legen, wenn sie nachteilig für den Kläger ist.

Ja!

Richtig. Etwas anderes gilt nur bei abweichenden Übergangsregelungen (RdNr. 32f.) oder wenn ein verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz besteht, der zu einem Abstellen auf die günstigere Rechtslage im Zeitpunkt der Antragsstellung verpflichtet. Vorliegend besteht keine Übergangsregelung. Auch ein verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz besteht nicht, weil der Einbürgerungsanspruch bei Ehegatten von Deutschen (anders als der Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels) nicht aus Art. 6 Abs. 1 GG abgeleitet werden kann (RdNr. 36).

5. Der unbestimmte Rechtsbegriff "Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse" ist hinreichend bestimmt.

Genau, so ist das!

Dieser Begriff existiert bereits in anderen Gesetzen (z.B. § 9 Abs. 1 Nr. 2 StAG a.F.) und der Inhalt lässt sich anhand der Entstehungsgeschichte der Norm bestimmen. VGH: "Davon ausgehend fordert die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse jenseits der stets vorauszusetzenden Bereitschaft zur Beachtung von Gesetz und Recht auch eine tätige Einordnung in die elementaren Grundsätze des gesellschaftlich-kulturellen Gemeinschaftslebens, die als unverzichtbare außerrechtliche Voraussetzungen eines gedeihlichen Zusammenlebens zu werten sind" (RdNr. 49).

6. An einer Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse fehlt es gemäß § 10 Abs. 1 S. 1 StAG "insbesondere" bei einer Mehrehe. Auch aus anderen Gründen kann eine Einordnung ausgeschlossen sein.

Ja, in der Tat!

Nach § 10 Abs. 1 S. 1 StAG setzt die Einbürgerung eines Ausländers u.a. voraus, dass "seine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse gewährleistet, insbesondere er nicht gleichzeitig mit mehreren Ehegatten verheiratet ist". Aus der Verwendung des Wortes "insbesondere" folgt, dass die Einordnung auch aus anderen Gründen ausscheiden kann. Das Beispiel der Mehrehe hat nur eine klarstellende Funktion. Die Gesetzesformulierung macht somit deutlich, dass bei dem Tatbestandsmerkmal "Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse" an Verhaltensweisen angeknüpft werden soll, die das Zusammenleben in Deutschland prägen (RdNr 50f.).

7. Das Mehreheverbot ist strafrechtlich verankert (§ 172 StGB). Weicht die Lebensweise von der deutschen Praxis ab, ist sie aber straffrei, so liegt eine Einordnung in deutsche Lebensverhältnisse vor.

Nein!

Die Einordnung kann auch verneint werden, wenn die Lebenspraxis straffrei bzw. nicht rechtlich verankert ist. Dies folgt aus der eigenständigen Bedeutung der Voraussetzung der strafrechtlichen Unbescholtenheit (§ 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 StAG). Beispielsweise gehört zur grundlegenden Werteordnung in Deutschland die Gleichberechtigung der Geschlechter (Art. 3 Abs. 3 GG). Spricht ein Einbürgerungsbewerber in patriarchalischen Familienstrukturen Frauen ein Recht auf Eigenständigkeit ab, so steht das einer Einordnung entgegen (RdNr. 51).

8. Das Händeschütteln ist aufgrund seiner gesellschaftlichen und rechtlichen Bedeutung Teil der deutschen Lebensverhältnisse.

Genau, so ist das!

Das Händeschütteln ist in Deutschland gängiges Begrüßungs- und Verabschiedungsritual. Es erfolgt unabhängig von sozialem Status, Geschlecht oder anderer personeller Merkmale und geht auf eine jahrhundertlange Praxis zurück (RdNr. 53). Zudem hat es Eingang in das Rechtsleben gefunden. Beispielsweise dient es als Bekräftigung von Verträgen aller Art oder findet sich auch in Gesetzen (z.B. § 7 Abs. 3 Satz 3 BNotO, § 1789 BGB a.F.) wieder (RdNr. 56, 58).

9. Als Ausdruck einer pluralistischen Gesellschaft sind in Deutschland bei förmlichen Anlässen auch andere Praktiken zur Begrüßung und Verabschiedung anzutreffen.

Nein, das trifft nicht zu!

Nein. Zwar gibt es verschiedene Begrüßungs- und Verabschiedungsformen in Deutschland (z.B. Hand aufs Herz, Verbeugung, Wangenkuss, "High Five"). VGH: "Bei besonderen privaten, öffentlichen oder gar hoheitlichen Anlässen, die durch Förmlichkeiten geprägt werden, ist es aber gerade der Handschlag, der in diesem Kontext regelmäßig praktiziert wird." Zum Beispiel bei der Gratulation zu besonderen Leistungen oder bei der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde, die im Rahmen einer Einbürgerungsfeier erfolgt, wird üblicherweise mit Handschlag gratuliert (RdNr. 55). Angesichts der Corona-Pandemie ist statt des Handschlags mit Blick auf die damit einhergehende Infektionsgefahr aktuell auch etwa ein Nicken üblich.

10. Verweigert ein Einbürgerungsbewerber den Handschlag gegenüber der Sachbearbeiterin, ist seine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse nicht gewährleistet.

Ja!

Der Handschlag in Deutschland erfolgt unabhängig davon, welche Geschlechter sich gegenüberstehen. VGH: "Ein Einbürgerungsbewerber, der infolge einer fundamentalistischen Kultur- und Wertevorstellung das Händeschütteln mit jeglicher Frau deshalb ablehnt, weil sie ein anderes Geschlecht hat und damit per se als eine dem Mann drohende Gefahr sexueller Versuchung bzw. unmoralischen Handelns gilt, gewährleistet nicht seine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse" (RdNr. 59). Inzwischen akzeptieren auch Muslime in Deutschland oder sogar in Ländern des Nahen Ostens auf der politischen Bühne überwiegend den zwischengeschlechtlichen Handschlag (RdNr. 62).

11. Lehnt L den Handschlag mit jeder Frau ab, so reduziert er die Frau alleine auf ihr Geschlecht. Dies widerspricht der Werteordnung des GG.

Genau, so ist das!

VGH: Mit der Verweigerung des Handschlags gegenüber einer Amtsträgerin negiere L, dass der Zugang zu öffentlichen Ämtern und deren Ausübung unabhängig vom Geschlecht ist (vgl. Art. 3 Abs. 1 und 2, 33, 38 GG). Er reduziere die Amtsträgerin bei der Ausübung ihres Amtes auf ihr Geschlecht und stellt damit auch die Akzeptanz ihrer Entscheidung infrage. Darüber hinaus erkennt der VGH im Verhalten des L - auch unter Berücksichtigung seines Sachvortrags - eine Reduzierung der Sachbearbeiterin auf ihre Sexualität. Dies widerspricht der in Art. 1 und 3 GG zum Ausdruck kommenden Werteordnung, die die Achtung der bzw. des Einzelnen als Person unabhängig von ihrem bzw. seinem Geschlecht umfasst (RdNr. 79).

12. Dem L muss es bei der Verweigerung des Handschlages gerade darauf ankommen, eine Frau herabzuwürdigen.

Nein, das trifft nicht zu!

VGH: Es genüge, dass Ls Verhalten geeignet ist, die genannten Wirkungen herbeizuführen. Selbst wenn er seinen Respekt vor Frauen auf andere Weise in Gesten und Worten zum Ausdruck bringt, um sie nicht herabzuwürdigen, führe das zu keiner anderen Bewertung. Ebenso komme es nicht darauf an, ob sich die Frauen tatsächlich herabgewürdigt oder diskriminiert gefühlt haben (RdNr. 80).

13. Sofern die Verweigerung des Handschlags gegenüber dem anderen Geschlecht religiös motiviert ist, stellt die Verneinung der Einbürgerungsvoraussetzungen einen Eingriff in die Glaubensfreiheit dar.

Nein!

VGH: Die Verneinung der Einbürgerungsvoraussetzungen stelle keinen Eingriff in das Recht des Einbürgerungsbewerbers dar, seinen Glauben entsprechend seinem religiösen Selbstverständnis auszuüben (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 9 EMRK). Vorenthalten werde nur die Einbürgerung als Begünstigung. Zudem diene die Glaubensfreiheit nicht dazu, die Werteordnung des GG zu überschreiten oder einen Anspruch auf Einbürgerung zu gewähren (RdNr. 82). Einen Eingriff in die Glaubensfreiheit könnte man hier - anders als der VGH - durchaus annehmen. Dieser wäre aber jedenfalls gerechtfertigt.

14. Eine andere Bewertung des Falls ist vorzunehmen, wenn L auch Männern nicht mehr die Hand gibt.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der VGH stuft dieses Verhalten des L als taktisches Vorgehen ein, um eingebürgert zu werden. Seine innere Haltung, dass Frauen und Männer nicht gleichgestellt sind, werde durch dieses Vorgehen nicht beeinflusst (RdNr. 83).

15. Die fehlende Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse kann durch eine "Übererfüllung" anderer Integrationsvoraussetzungen kompensiert werden.

Nein, das trifft nicht zu!

VGH: § 10 StAG ist "darauf ausgelegt, dass alle im Gesetz aufgeführten Voraussetzungen jeweils erfüllt werden müssen; eine Art Saldierung oder Ausnahmen lässt das Gesetz nicht zu" (RdNr. 86). Kriterien, die auf eine gelungene Integration hindeuten (wie die Beherrschung der deutschen Sprache, beruflicher Erfolg oder hohe Einkünfte), führen nicht dazu, dass die Verweigerung des Handschlags als einbürgerungsrechtlich irrelevant eingestuft wird (RdNr. 86). Somit kann L keine Einbürgerung nach § 10 StAG beanspruchen.

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