Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Entscheidungen von 2020
Verweigerung des Handschlags als Hinderungsgrund für die Einbürgerung
Verweigerung des Handschlags als Hinderungsgrund für die Einbürgerung
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
L ist libanesischer Staatsangehöriger und mit der deutschen Muslimin M verheiratet. Er beantragte die Einbürgerung in den deutschen Staatsverband. Bei Aushändigung der Einbürgerungsurkunde verweigert er der Sachbearbeiterin das Händeschütteln.
Diesen Fall lösen 71,1 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Verweigerung des Handschlags als Hinderungsgrund für die Einbürgerung
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 15 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Der Einbürgerungsbewerber muss seinen Antrag auf Einbürgerung auf eine bestimmte Anspruchsgrundlage stützen.
Nein!
Jurastudium und Referendariat.
2. Tatbestandsmerkmal von § 10 Abs. 1 S. 1 StAG ist die "Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse". Dabei handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff.
Genau, so ist das!
3. L stellte seinen Antrag im Jahr 2012. Das Tatbestandsmerkmal der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse (§ 10 Abs. 1 S. 1 StAG) wurde 2019 eingefügt. Das StAG ist in der aktuellen Fassung zu prüfen.
Ja, in der Tat!
4. Die neue Rechtslage - hier das Tatbestandsmerkmal der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse - ist auch dann zugrunde zu legen, wenn sie nachteilig für den Kläger ist.
Ja!
5. Der unbestimmte Rechtsbegriff "Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse" ist hinreichend bestimmt.
Genau, so ist das!
6. An einer Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse fehlt es gemäß § 10 Abs. 1 S. 1 StAG "insbesondere" bei einer Mehrehe. Auch aus anderen Gründen kann eine Einordnung ausgeschlossen sein.
Ja, in der Tat!
7. Das Mehreheverbot ist strafrechtlich verankert (§ 172 StGB). Weicht die Lebensweise von der deutschen Praxis ab, ist sie aber straffrei, so liegt eine Einordnung in deutsche Lebensverhältnisse vor.
Nein!
8. Das Händeschütteln ist aufgrund seiner gesellschaftlichen und rechtlichen Bedeutung Teil der deutschen Lebensverhältnisse.
Genau, so ist das!
9. Als Ausdruck einer pluralistischen Gesellschaft sind in Deutschland bei förmlichen Anlässen auch andere Praktiken zur Begrüßung und Verabschiedung anzutreffen.
Nein, das trifft nicht zu!
10. Verweigert ein Einbürgerungsbewerber den Handschlag gegenüber der Sachbearbeiterin, ist seine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse nicht gewährleistet.
Ja!
11. Lehnt L den Handschlag mit jeder Frau ab, so reduziert er die Frau alleine auf ihr Geschlecht. Dies widerspricht der Werteordnung des GG.
Genau, so ist das!
12. Dem L muss es bei der Verweigerung des Handschlages gerade darauf ankommen, eine Frau herabzuwürdigen.
Nein, das trifft nicht zu!
13. Sofern die Verweigerung des Handschlags gegenüber dem anderen Geschlecht religiös motiviert ist, stellt die Verneinung der Einbürgerungsvoraussetzungen einen Eingriff in die Glaubensfreiheit dar.
Nein!
14. Eine andere Bewertung des Falls ist vorzunehmen, wenn L auch Männern nicht mehr die Hand gibt.
Nein, das ist nicht der Fall!
15. Die fehlende Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse kann durch eine "Übererfüllung" anderer Integrationsvoraussetzungen kompensiert werden.
Nein, das trifft nicht zu!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Isabell
18.7.2021, 21:47:57
Dass ist interessant, dass hier der Eingriff in Artikel 4 GG verneint wird, anstatt ihn als gerechtfertigt anzusehen. Führt der VGH BaWü das näher aus?
Wendelin Neubert
23.7.2021, 12:17:00
Hallo Isa Bell, danke für Deine Nachfrage. Nein, der VGH geht darauf nicht vertieft ein, sondern beschränkt sich auf die Rechtsauffassung, es könne kein Eingriff vorliegen, weil nur die Einbürgerung als Begünstigung vorenthalten werde (RdNr 82). Unseres Erachtens könnte man hier durchaus einen Eingriff annehmen (haben wir jetzt in der Aufgabe ergänzt). Der VGH fügt dann noch den folgenden - von uns auch paraphrasierten - Satz an (RdNr. 82): “Im Übrigen ist die Glaubensfreiheit auch nicht dazu bestimmt, die Grenzen, die die allgemeine Werteordnung des Grundgesetzes errichtet, zu überschreiten oder Ausländern einen sonst nicht bestehenden Anspruch auf Einbürgerung zu gewähren.” Auch wenn dieser Satz in seiner Allgemeinheit doch dürftig erscheint, deutet er zumindest darauf hin, dass der VGH hier selbst im Fall eines Eingriffs in die Glaubensfreiheit davon ausgeht, dass dieser gerechtfertigt wäre. Davon würden wir auch ausgehen. Hoffe das hilft! Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team
Jana-Kristin
17.3.2022, 09:45:02
interessant wäre, ob die Entscheidung in/nach der Pandemie so noch getroffen werden würde. Die Behauptung "Ich schüttelte weder Frauen und Mânner die Hände" wäre dann wohl alles andere als eine "bloße Schutzbehauptung". Übrigens sehr cool die neue Funktion, eine private Notiz hinzuzufügen.
Doli
29.6.2023, 10:13:34
Und ob, selbst vor der Pandemie, bei einer Verweigerung des Handschlags gegenüber allen, ohne davon auszugehen dass dies lediglich eine Schutzbehauptung sei (und damit keine Diskriminierung gegenüber einem Geschlecht vorliegt), eine Einordnung in die deutschen Verhältnisse nicht gegeben ist, da ja auch der Handschlag an sich Teil dieser ist
Doli
29.6.2023, 10:15:20
Gegebenenfalls könnte man das trennen - ein mal der Handschlag an sich, ein mal die herabwürdigende Haltung ggü Frauen
Philipp Paasch
21.9.2022, 23:15:29
Bei der Lektüre der Entscheidung bemerkt man, dass das Gericht nicht nur auf den verweigerten Handschlag abstellt. Nichts desto trotz scheint dies eine recht engstirnige Entscheidung zu sein. Die Angst vor Überfremdung und der kultureller Landnahme durch radikalen Islamismus muss hier unser L abbekommen, der im Übrigen ein erfolgreicher Oberarzt ist.
Philipp Paasch
21.9.2022, 23:15:55
*kulturellen
Nora Mommsen
22.9.2022, 11:54:58
Hallo Philipp Paasch, in der Tat ist die Entscheidung vielschichtiger als vorliegend dargestellt. Das wird bedingt durch das Format der Fragen. Bei der Frage der Erfüllung der Anforderungen zur Einbürgerung ist eine umfassende Betrachtung vorzunehmen. Insbesondere können aber einzelne Aspekte nicht durch andere besonders gelungene, wie die berufliche Integration aufgewogen werden. Ob dies zielführend ist, bleibt streitbar. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
simon175
1.2.2023, 22:37:35
Der Handschlag ist ab dem 01.01.2023 nicht mehr im BGB zu finden, § 1789 S.2 BGB kann nicht mehr als Argument genutzt werden (höchtens als a.F.).
Lukas_Mengestu
17.2.2023, 10:45:25
Lieben Dank, simon175! Wir haben nun präzisiert, dass es um § 1789 s. 2 BGB a.F. geht und zusätzlich noch § 7 Abs. 3 Satz 3 BNotO ergänzt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Alv Tny Km
15.2.2023, 10:50:49
Nora Mommsen
16.2.2023, 11:11:51
Hallo Alv Tny Km, danke für deine Frage. In diesem Fall lag keine M
ehrehe vor, allerdings ist es die einzige Einschränkung für das Tatbestandsmerkmal "Einfügung in die Lebensverhältnisse in Deutschland", die sich dem Gesetz entnehmen lässt. Andere Einschränkungen sollten also dazu ins Verhältnis gesetzt werden. Es ist daher nicht außen vor zu lassen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team