Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Entscheidungen von 2020
Neutralität von Amtsträgern (Seehofer vs. AfD)
Neutralität von Amtsträgern (Seehofer vs. AfD)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die A-Partei kritisiert, dass Bundespräsident F öffentlich ein Konzert gegen Rechts unterstützt. In einem Interview über die allgemeine politische Lage bezeichnet Innenminister S die A-Partei als „hochgefährlich“ und „staatszersetzend“. Das Interview wird auf der Internetseite des BMI veröffentlicht.
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Einordnung des Falls
Neutralität von Amtsträgern (Seehofer vs. AfD)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 14 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Die A-Partei will sich gegen die Äußerung des S wehren. Statthafter Rechtsbehelf vor dem BVerfG ist das Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG).
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. Die A-Partei ist als politische Partei im Organstreit parteifähig (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG).
Genau, so ist das!
3. S ist als Bundesinnenminister nicht parteifähig; die A-Partei muss sich stattdessen gegen die Bundesregierung als oberstes Verfassungsorgan wenden.
Nein, das trifft nicht zu!
4. Die A-Partei hat das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb (Art. 21 Abs. 1 GG).
Ja!
5. Das Recht auf Chancengleichheit der Parteien beinhaltet als Kehrseite, dass sich Staatsorgane parteipolitisch neutral verhalten müssen (Neutralitätsgebot).
Genau, so ist das!
6. Das Gebot parteipolitischer Neutralität von Staatsorganen gilt nur in Wahlkampfzeiten.
Nein, das trifft nicht zu!
7. S ist nur an das Neutralitätsgebot gebunden, wenn er sich in amtlicher Funktion als Bundesminister geäußert hat.
Ja!
8. Ob die Äußerung eines Mitglieds der Bundesregierung in amtlicher Funktion stattgefunden hat, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen.
Genau, so ist das!
9. S hat die Äußerungen im Interview in amtlicher Funktion als Bundesminister getätigt.
Nein, das trifft nicht zu!
10. Allerdings weist die Veröffentlichung des Interviews auf der Internetseite des BMI einen Amtsbezug auf und stellt somit einen Eingriff in Art. 21 Abs. 1 GG dar.
Ja!
11. S steht als Bundesminister eine generelle politische Äußerungsbefugnis zu (Art. 65 GG).
Genau, so ist das!
12. Die Befugnis des S zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit ist grundsätzlich geeignet, den Eingriff in Art. 21 Abs. 1 GG zu rechtfertigen.
Ja, in der Tat!
13. Die Veröffentlichung des Interviews auf der Internetseite des BMI verstößt gegen das Sachlichkeitsgebot.
Ja!
14. Der Antrag der A-Partei ist begründet. Durch die Veröffentlichung des Interviews hat S die A-Partei in ihrem Recht auf Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG) verletzt.
Genau, so ist das!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
xxx
2.10.2021, 10:00:45
Wo liegt der genaue Unterschied zwischen Sachlichkeitsgebot und Neutralitätsgebpt?
Lukas_Mengestu
4.10.2021, 11:52:40
Hallo xxx, der zentrale Unterschied besteht im Hinblick auf die geschützte Gruppe. Das Neutralitätsgebot dient dem Schutz der politischen Parteien auf Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG). Folglich können sich nur politische Parteien auf dieses berufen. Spricht nun also ein Staatsorgan in amtlicher Eigenschaft eine Empfehlung für eine bestimmte Partei aus, so könnten sich die übrigen auf das Neutralitätsgebot berufen. Gruppierungen, die keine Partei darstellen, werden dagegen nicht durch das Neutralitätsgebot geschützt. Das Sachlichkeitsgebot ist dagegen deutlich weiter gefasst und resultiert aus dem Demokratieprinzip. Es gebietet, dass sich staatliche Organe auf den sachlichen Austausch von Argumenten beschränken und nicht gezielt andere Meinungen ausgrenzen oder diskreditieren. Anders als bei privaten Akteuren können sich Staatsorgane in dieser Funktion auch nicht auf die Meinungsfreiheit berufen. Hintergrund ist, dass der Meinungsaustausch im Volk nicht gezielt durch staatliche Akteure gelenkt werden soll. Staatliche Äußerungen sollen insoweit auf einen rationalen und sachlichen Austausch gerichtet sein. Ich hoffe, so wird es noch einmal verständlicher :) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
jomolino
12.4.2022, 15:49:26
Würde in diesem Fall auch das
APRder Partei wegen der herabsetzenden Wirkung der Äußerung in der Öffentlichkeit anzusprechen sein?
Lukas_Mengestu
20.4.2022, 19:27:59
Hallo nomamo, das könnte man zwar andenken. Im Rahmen des Organstreitverfahren kann sich eine Partei tatsächlich allerdings nicht auf Grundrechte berufen, sondern allein auf ihre Rechte auf (gleichberechtigte) Teilhabe am Verfassungsleben berufen. Ansonsten müsste sie Verfassungsbeschwerde erheben. Der Schwerpunkt in diesen Konstellationen liegt indes regelmäßig auf dem Gleichheitsverstoß, weswegen primär dieser zu prüfen ist. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Philipp Paasch
15.10.2022, 23:47:33
Ich kann nicht ganz nachvollziehen, wieso S sich nicht in amtlicher Funktion geäußert haben soll. Dass das Interview ohne Staatssymbole usw. durchgeführt wurde, lässt sich weder dem Sachverhalt noch der Zeichnung entnehmen. Auch insbesondere der Ausdruck "staatszersetzend" weißt einen klaren Ressortbezug auf. Welcher Minister sollte sich sonst um den Zusammenhalt der Staates bemühen, wenn nicht der Innenminister.
Lukas_Mengestu
28.10.2022, 18:22:28
Hallo Philipp, vielen Dank für Deinen Hinweis. WIr haben den Sachverhalt noch etwas angepasst, um deutlicher zu machen, dass es hier gerade nicht um ein Interview geht, welches sich spezifisch mit den Ressortzuständigkeiten von Seehofer in seiner Zeit als Innenminister befasste. Schau Dir bei Interesse auch die RdNr. 81-87 der Entscheidung an. Dort setzt sich das BVerfG noch einmal dezidiert mit den einzelnen Indizien auseinander, die hier für die Abgrenzung relevant waren, warum hier lediglich eine Teilnahme am poliitschen Meinungskampf vorlag. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Philipp Paasch
5.11.2022, 11:31:34
Danke Lukas, haben wir schon gemacht. 😊
Panthenola
4.11.2022, 08:06:07
Es handelt sich hierbei im Übrigen auch um einen Examenstreffer in Berlin in der Kampagne I/20. Hätte den Fall damals ohne euch sicherlich nicht auf dem Schirm gehabt und halbwegs ok lösen können.
Lukas_Mengestu
4.11.2022, 09:12:18
Vielen Dank für den Hinweis, Panthenola! Das freut uns sehr, wenn wir Dir an dieser Stelle helfen konnten :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team