Strafrecht
BT 3: Straftaten gegen Freiheit u.a.
Freiheitsberaubung, § 239 StGB
Einsperren: Kein nur unerheblicher Zeitraum, für die Dauer des Gebetes eines "Vaterunser"
Einsperren: Kein nur unerheblicher Zeitraum, für die Dauer des Gebetes eines "Vaterunser"
25. Januar 2025
7 Kommentare
4,8 ★ (2.328 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Der von seinen Schülern genervte Lehrer L sperrt diese zu Erziehungszwecken für 15 Sekunden im Klassenraum ein.
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Einordnung des Falls
Einsperren: Kein nur unerheblicher Zeitraum, für die Dauer des Gebetes eines "Vaterunser"
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 1 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. L hat die Schüler "eingesperrt" (§ 239 Abs. 1 Var. 1 StGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Jose
27.7.2021, 13:06:55
Würde man dann nicht trotzdem sagen, der Lehrer hat die Schüler eingesperrt, aber es war nicht erheblich?
Tigerwitsch
27.7.2021, 16:11:36
M. E. ist die „Erheblichkeit“ im
Tatbestandsmerkmal„
Einsperren“ bereits immanent. Insofern liegt im vorliegenden Fall kein
Einsperreni. S. d. §
239Abs. 1 StGB vor.  Tat Handlung ist ein Eingriff in die persönliche Bewegungsfreiheit, durch den ein Mensch des Gebrauchs der persönlichen Freiheit beraubt wird. Es muss ihm also die Möglichkeit genommen werden, sich nach seinem Willen fortzubewegen, insbesondere einen Raum zu verlassen. Auf die Dauer kommt es im Rahmen des §
239Abs. 1 StGB nicht an. Es reicht daher grundsätzlich aus, wenn die Bewegungsfreiheit nur kurzfristig entzogen wird. Vgl. BGH, U. v. 15.05.1975 - AZ.: 4 StR 147/75; ferner Fischer, StGB, 66. Auflage 2019, §
239Rn. 6. Allerdings reicht "eine bloß augenblickliche Hinderung des Freiheitsgebrauchs" oder ein "minimaler Zeitraum zwischen Beginn und Beendigung" nicht aus. Vgl. ähnlich BGH, B. v. 03.12.2002 - AZ.: 4 StR 432/02; U. v. 25.03.2010 - AZ.: 4 StR 594/09. Nicht ausreichend sind jedenfalls ganz kurzfristige Beschränkungen. Nach Ansicht des BGH gehören dazu etwa - das Festhalten des Gegners im Rahmen einer körperlichen Auseinandersetzung BGH, B. v. 03.12.2002 - AZ.: 4 StR 432/02. - kurzzeitiges Verbringen in ein Badezimmer BGH, U. v. 21.01.2003 - AZ.: 4 StR 414/02. - kurzzeitiges Hindern am Verlassen des
Fahrzeugs, bei dem die Zeugin fliehen konnte. BGH, U. v. 25.03.2010 - AZ.: 4 StR 594/09.
ri
15.8.2021, 01:03:12
Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Der verzweifelte Lehrer keuchend und schweißgebadet gegen die von außen verschlossene Klassentür gelehnt, wildes Kindergeschrei und Gezanke von innen hörend und betend: „Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Bitte erlöse mich von den Bälgern!“
Sambajamba10
19.11.2023, 18:33:02
Hiermit verweise ich gerne auf die Glosse Schramm JZ 2022, 614. Danach hat sich herausgestellt, dass in der viel zitierten Entscheidung des Reichsgerichts (RGSt 7, 259) genau das Gegenteil zum Ausdruck kommt. Das Tatgericht führte aus, dass eine Freiheitsberaubung ausscheide, weil das
Einsperrendie Dauer eines Vater Unsers nicht überschritten habe. Dem entgegnete das Reichsgericht, dass dies rechtsirrig sei, da nach es dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht auf die Dauer des
Einsperrens ankommen könne. Sofern sich auf dieses Urteil bezogen wird, handelt es sich demnach um einen phänomenalen Rechtsmythos, der sich wohl aber so durchgesetzt hat.
Cosmonaut
22.1.2024, 16:08:45
sehr cool, vielen Dank für die Aufklärung. Für alle, die die entsprechende Stelle ohne Uni-Zugang nachlesen wollen: „…Das Tatgericht hatte ein
Einsperrenverneint, weil die Einsperrung „nur etwa ein ‚Vaterunser lang‘ gedauert“ habe und ein so kurzer Zeitraum nicht genüge, um die Annahme eines
Einsperrens zu rechtfertigen. Das Reichsgericht hielt diese Auslegung aber für rechtsirrig: Bei der Variante des
Einsperrens sei auch bei nur kurzzeitigem Erfolg die Vollendung anzunehmen. Die Freiheitsberaubung sei nicht erst dann vollendet – das Gericht spricht von einer „perfekten“ Freiheitsberaubung –, wenn das
Einsperrendie Dauer eines „Vaterunsers“ überschreite, sondern bereits zuvor, nämlich mit dem Akt des
Einsperrens als solchen: „Mit derjenigen Thätigkeit, welche diesen Erfolg herbeiführt, erscheint daher das Delikt aus §
239StGB vollendet, und es kann weder darauf ankommen, wie lange der Zustand der Unfreiheit,“ des Eingesperrtseins, gedauert hat, noch ob der Eingesperrte sich der dadurch herbeigeführten Freiheitsbeschränkung überhaupt bewußt geworden ist“ (RGSt 7, 259, 260)….“
Peter
19.9.2024, 09:49:05
Das erscheint nur konsequent, wenn man sich mal überlegt, dass man das Vaterunser durchaus sehr verschieden schnell beten kann.. Die Frage wäre dann zum einen: Wer bestimmt dann die hier relevante Dauer und nach welchen Kriterien? Gibt es dafür einen evidenzbasierten Ansatz oder ist das nur ein bloßer "Erfahrungssatz" unklarer Genese. Zum anderen erscheint es zumindest aus heutiger Sicht einer pluralistischen Gesellschaft zumindest fragwürdig, warum ausgerechnet das christliche Vaterunser im Rahmen der Auslegung eines strafrechtlichen
Tatbestandes heranzuziehen sein sollte.. Im Ergebnis kann es mE also (auch schon aufgrund des Wortlautes) auf die Dauer der Freiheitsberaubung nicht maßgeblich ankommen.
as.mzkw
23.9.2024, 19:07:18
Würde mann denn hier eine Strafbarkeit nach §
240 StGBbejahen? Dort bedarf es ja nicht einer gewissen Erheblichkeit um dann erst von dem Vorliegen von Gewalt ausgehen zu können. Auch ein
Nötigungserfolgläge hier ja vor.