[...Wird geladen]

Diesen Fall lösen [...Wird geladen] der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

...Wird geladen
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die Ehepartner A und T streiten sich. Aus nicht aufklärbaren Gründen kippt A nachts über ein 0,84 m hohes Balkongeländer und hängt über der 12 m tiefer liegenden Straße. Sie kann sich festhalten, aber nicht hochziehen und ruft mehrfach laut um Hilfe. T bleibt lachend vor dem Fernseher sitzen.

Einordnung des Falls

Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage 1

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Wer einen Menschen in einer hilflosen Lage im Stich lässt, obwohl er ihn in seiner Obhut hat oder ihm sonst beizustehen verpflichtet ist, und ihn dadurch der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt, verwirklicht den objektiven Straftatbestand der Aussetzung (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB).

Ja, in der Tat!

§ 221 Abs. 1 StGB ist ein konkretes Gefährdungsdelikt in Form eines zusammengesetzten Delikts: Es besteht aus einem Handlungs- und einem Gefährdungsteil. Der Handlungsteil unterscheidet zwei Tatvarianten: § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist ein Sonderdelikt, welches nur von einem Garanten (§ 13 Abs. 1 StGB) begangen werden kann und das Im-Stich-lassen in einer hilflosen Lage unter Strafe stellt. Da der Tatbestand selbst als Tathandlung ein Unterlassen beschreibt, handelt es sich nach h.M. um ein echtes Unterlassungsdelikt. Der Gefährdungsteil ist für beide Tatvarianten identisch: Voraussetzung ist der Eintritt einer konkreten Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung. Die Gefahr muss durch die Tathandlung eingetreten sein, also kausal und zurechenbar auf der Handlung beruhen.

2. T hatte gegenüber der A eine Garantenstellung (§ 13 Abs. 1 StGB).

Ja!

Die Formulierung "in seiner Obhut hat oder ihm sonst beizustehen verpflichtet ist" in § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nimmt Bezug auf die Rechtspflichten im Sinne des § 13 Abs. 1 StGB. Erforderlich ist eine Garantenstellung. T und A waren miteinander verheiratet. Eine Ehe, die auf Lebenszeit geschlossen wird (§ 1353 Abs. 1 S. 1 BGB) und die Ehegatten "einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet" (§ 1353 Abs. 1 S. 2 BGB), lässt eine solche gegenseitige Garantenstellung entstehen.

3. A befand sich in einer "hilflosen Lage".

Genau, so ist das!

Eine hilflose Lage ist eine Situation, in der das Opfer außerstande ist, sich aus eigener Kraft oder mit Hilfe schutzbereiter und schutzfähiger anderer Personen vor drohenden abstrakten Lebens- oder schweren Gesundheitsgefahren zu schützen. Ein wichtiger Unterschied zwischen den beiden Tatvarianten des § 221 Abs. 1 StGB besteht darin, dass der Täter die hilflose Lage in den Konstellationen des § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB aktiv herbeiführt, während er sie in denjenigen der § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB vorfindet. A hat sich in einer hilflosen Lage befunden, als sie außen am Balkongeländer hing. Diese Situation hat der T auch nicht aktiv herbeigeführt, sondern vorgefunden.

4. T hat die A "im Stich gelassen" in der hilflosen Lage.

Ja, in der Tat!

Unter dem Im-Stich-lassen versteht man jedes Nichthelfen trotz Helfenkönnens und Helfenmüssens. T hilft der A nicht, sondern setzt sich vor den Fernseher. T wäre es möglich gewesen, zu helfen und zudem war er auch aus seiner Garantenstellung heraus verpflichtet, zu helfen.

5. T hat A "durch" das Im-Stich-lassen in einer hilflosen Lage der "Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung ausgesetzt" (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB).

Ja!

Die Vollendung des Delikts setzt eine zurechenbare Verursachung eines konkreten Gefahrerfolges für das Opfer voraus. Dies liegt vor, wenn der Täter eine Verschlechterung der gegenwärtigen physischen Situation in dem Sinne herbeiführt, dass es nur noch vom Zufall abhängt, ob das Opfer den Tod oder eine schwere Gesundheitsschädigung erleidet. Aus der hilflosen Lage der A entwickelt sich eine solche konkrete Gefährdung, denn A kann sich nicht selbst wieder am Balkongeländer hochziehen und kann jederzeit abstürzen. T hat demnach die A durch die Tathandlung der konkreten Gefahr des Todes ausgesetzt.

Jurafuchs kostenlos testen


elli_neu

elli_neu

24.1.2022, 11:15:09

Ist das " Im Stich lassen" einr Handlung oder ist das dann eine Aussetzung durch Unterlassen, wenn T die Lage erkennt, aber nichts tut?

VIC

Victor

24.1.2022, 12:49:12

Die Aussetzung ist ein echtes Unterlassungsdelikt. Die Tathandlungen sind stets Unterlassungen.

Samin

Samin

30.1.2022, 19:29:45

Wäre das dann nicht unterlassene Hilfeleistung wenn man Helfen kann/muss?

VIC

Victor

30.1.2022, 21:15:40

Das kommt grundsätzlich auch in Betracht. Ändert aber nichts an der rechtlichen Einschätzung als Aussetzung. Dann käme es jedoch auf die Konkurrenzen an.

DAS

Das_war_Kenny

13.6.2022, 14:51:13

Wie ist das, wenn der Mann die Rufe nicht gehört hätte?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

14.6.2022, 20:19:54

Hallo Das_war_Kenny, dann fehlt es bereits an dem entsprechenden Vorsatz für die

Tatbestandsverwirklichung

. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

GEI

Geithombre

6.1.2024, 23:28:51

Worin genau liegt hier jetzt der Unterschied zum vorigen Fall, bei dem der potentielle Täter sein Opfer durch das Werfen über Bord wegen der Augenblicksgefahr nicht durch die Aussetzung in die Gefahr des Todes bringt? Ich würde meinen, dass bei fehlender Kraft für ein "Hochziehen" der Absturz nur eine Frage von Momenten ist. Da ist doch die Gefahr des Todes ebenso unmittelbar immanent wie beim Nichtschwimmer in tiefem Wasser?

Cosmonaut

Cosmonaut

21.1.2024, 17:40:13

Hi @[Geithombre](138034), Das hast Du falsch in Erinnerung: Beim Bodensee-Fall brachte der T das O genauso in eine akute Todesgefahr, so gesehen sind beide Fälle ähnlich „todesnah“ für das unglückliche Opfer! Er setzte das O allerdings nicht aus, sondern v e r s e t z t e das O aktiv in diese Lage. Der § 221 I Nr. 1 erfordert jedoch eine Z w e i s t u f i g k e i t des Versetzens in eine hilflose Lage (1.) und sodann der Entwicklung einer konkreten Gefahrenlage a u s dieser vom T zurechenbar herbeigeführten hilflosen Lage (2.)! In diesem „mangelnder Latissimus kann tödlich sein“-Fall fand der T das O, seine Ehegattin, bereits in einer hilflosen Lage vor! Er hatte (nach den erwiesenen Tatsachen) aber rein gar nichts mit der Herbeiführung dieser Lage zu tun, das hat sie irgendwie selbst geschafft. Der Unwert seines Verhaltens lag daher in dem Beibehalten der hilflosen Lage durch Nichtstun; da gilt dann das echte Unterlassensdelikt des Abs. 1 Nr. 2. Gruß

GEI

Geithombre

21.1.2024, 20:04:17

Erstmal danke @[Cosmonaut](188718), dass du mit einsteigst ;) Evtl. habe ich mich missverständlich ausgedrückt, klar war der Bodensee-Fall ein Fall von Abs. 1 Nr. 1, während wir hier einen Fall von Nr. 2 haben. Was mir nicht einleuchtet: Laut Leipziger Kommentar ist bei beiden Nummern eine Zweistufigkeit zu prüfen, wir bräuchten also hier ebenso eine Gefahr gerade d u r c h die Tatmodalität, hier eben das "im Stich lassen" statt der "versetzen". Und da frage ich mich, warum die Augenblicksgefahr bei einem Nichtschwimmer anders gelagert sein solle als bei jemandem, der 12m über dem Boden an einem Geländer hängt und nicht die Kraft hat, sich selbst hochzuziehen (und daher mMn in weniger als 1 Minute abstürzen wird). In beiden Fällen ist der Tod eine Sache von Sekunden bzw. wenigen Minuten.

TUBAT

TubaTheo

9.6.2024, 00:48:30

Wie du schon richtig gesagt hast, ist das Opfer im vorherigen Fall Nichtschwimmer und wird nach dem Stoß ins Wasser SOFORT in die Gefahr des Todes versetzt. In diesem Fall allerdings kann sich das Opfer am Geländer halten, ist also noch nicht SOFORT in der Gefahr des Todes. Erst ab dem Moment, wo ihre Kräfte zu schwinden beginnen, würde meiner Meinung nach die konkrete Gefahr eintreten. Klar handelt es sich hierbei womöglich nur um eine halbe Minute, aber trotzdem besteht eben erst eine hilflose Lage, aus der dann die Gefahr resultiert. Beim Nichtschwimmer tritt beides auch wirklich gleichzeitig ein. Ich stimme dir aber in sofern zu, dass diese wenigen Sekunden nicht den Unterschied ausmachen sollten, weshalb eine andere Meinung sicherlich vertretbar ist. Trotzdem besteht eben, wenn man es ganz genau subsumiert, anfangs für eine kurze Zeit eine hilflose Lage ohne Gefahr. Ich hoffe, ich konnte weiterhelfen :)


© Jurafuchs 2024