Strafrecht
BT 1: Totschlag, Mord, Körperverletzung u.a.
Aussetzung, § 221 StGB
Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage 1
Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage 1
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die Ehepartner A und T streiten sich. Aus nicht aufklärbaren Gründen kippt A nachts über ein 0,84 m hohes Balkongeländer und hängt über der 12 m tiefer liegenden Straße. Sie kann sich festhalten, aber nicht hochziehen und ruft mehrfach laut um Hilfe. T bleibt lachend vor dem Fernseher sitzen.
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Einordnung des Falls
Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage 1
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Wer einen Menschen in einer hilflosen Lage im Stich lässt, obwohl er ihn in seiner Obhut hat oder ihm sonst beizustehen verpflichtet ist, und ihn dadurch der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt, verwirklicht den objektiven Straftatbestand der Aussetzung (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB).
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. T hatte gegenüber der A eine Garantenstellung (§ 13 Abs. 1 StGB).
Ja!
3. A befand sich in einer "hilflosen Lage".
Genau, so ist das!
4. T hat die A "im Stich gelassen" in der hilflosen Lage.
Ja, in der Tat!
5. T hat A "durch" das Im-Stich-lassen in einer hilflosen Lage der "Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung ausgesetzt" (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB).
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
elli_neu
24.1.2022, 11:15:09
Ist das " Im Stich lassen" einr Handlung oder ist das dann eine Aussetzung durch Unterlassen, wenn T die Lage erkennt, aber nichts tut?
Victor
24.1.2022, 12:49:12
Die Aussetzung ist ein echtes Unterlassungsdelikt. Die Tathandlungen sind stets Unterlassungen.
Samin
30.1.2022, 19:29:45
Wäre das dann nicht unterlassene Hilfeleistung wenn man Helfen kann/muss?
Victor
30.1.2022, 21:15:40
Das kommt grundsätzlich auch in Betracht. Ändert aber nichts an der rechtlichen Einschätzung als Aussetzung. Dann käme es jedoch auf die Konkurrenzen an.
Das_war_Kenny
13.6.2022, 14:51:13
Wie ist das, wenn der Mann die Rufe nicht gehört hätte?
Lukas_Mengestu
14.6.2022, 20:19:54
Hallo Das_war_Kenny, dann fehlt es bereits an dem entsprechenden Vorsatz für die Tatbestandsverwirklichung. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Geithombre
6.1.2024, 23:28:51
Worin genau liegt hier jetzt der Unterschied zum vorigen Fall, bei dem der potentielle Täter sein Opfer durch das Werfen über Bord wegen der Augenblicksgefahr nicht durch die Aussetzung in die Gefahr des Todes bringt? Ich würde meinen, dass bei fehlender Kraft für ein "Hochziehen" der Absturz nur eine Frage von Momenten ist. Da ist doch die Gefahr des Todes ebenso unmittelbar immanent wie beim Nichtschwimmer in tiefem Wasser?
Cosmonaut
21.1.2024, 17:40:13
Hi @[Geithombre](138034), Das hast Du falsch in Erinnerung: Beim Bodensee-Fall brachte der T das O genauso in eine akute Todesgefahr, so gesehen sind beide Fälle ähnlich „todesnah“ für das unglückliche Opfer! Er setzte das O allerdings nicht aus, sondern v e r s e t z t e das O aktiv in diese Lage. Der § 221 I Nr. 1 erfordert jedoch eine Z w e i s t u f i g k e i t des Versetzens in eine hilflose Lage (1.) und sodann der Entwicklung einer konkreten Gefahrenlage a u s dieser vom T zurechenbar herbeigeführten hilflosen Lage (2.)! In diesem „mangelnder Latissimus kann tödlich sein“-Fall fand der T das O, seine Ehegattin, bereits in einer hilflosen Lage vor! Er hatte (nach den erwiesenen Tatsachen) aber rein gar nichts mit der Herbeiführung dieser Lage zu tun, das hat sie irgendwie selbst geschafft. Der Unwert seines Verhaltens lag daher in dem Beibehalten der hilflosen Lage durch Nichtstun; da gilt dann das echte Unterlassensdelikt des Abs. 1 Nr. 2. Gruß
Geithombre
21.1.2024, 20:04:17
Erstmal danke @[Cosmonaut](188718), dass du mit einsteigst ;) Evtl. habe ich mich missverständlich ausgedrückt, klar war der Bodensee-Fall ein Fall von Abs. 1 Nr. 1, während wir hier einen Fall von Nr. 2 haben. Was mir nicht einleuchtet: Laut Leipziger Kommentar ist bei beiden Nummern eine Zweistufigkeit zu prüfen, wir bräuchten also hier ebenso eine Gefahr gerade d u r c h die Tatmodalität, hier eben das "im Stich lassen" statt der "versetzen". Und da frage ich mich, warum die Augenblicksgefahr bei einem Nichtschwimmer anders gelagert sein solle als bei jemandem, der 12m über dem Boden an einem Geländer hängt und nicht die Kraft hat, sich selbst hochzuziehen (und daher mMn in weniger als 1 Minute abstürzen wird). In beiden Fällen ist der Tod eine Sache von Sekunden bzw. wenigen Minuten.
TubaTheo
9.6.2024, 00:48:30
Wie du schon richtig gesagt hast, ist das Opfer im vorherigen Fall Nichtschwimmer und wird nach dem Stoß ins Wasser SOFORT in die Gefahr des Todes versetzt. In diesem Fall allerdings kann sich das Opfer am Geländer halten, ist also noch nicht SOFORT in der Gefahr des Todes. Erst ab dem Moment, wo ihre Kräfte zu schwinden beginnen, würde meiner Meinung nach die konkrete Gefahr eintreten. Klar handelt es sich hierbei womöglich nur um eine halbe Minute, aber trotzdem besteht eben erst eine hilflose Lage, aus der dann die Gefahr resultiert. Beim Nichtschwimmer tritt beides auch wirklich gleichzeitig ein. Ich stimme dir aber in sofern zu, dass diese wenigen Sekunden nicht den Unterschied ausmachen sollten, weshalb eine andere Meinung sicherlich vertretbar ist. Trotzdem besteht eben, wenn man es ganz genau subsumiert, anfangs für eine kurze Zeit eine hilflose Lage ohne Gefahr. Ich hoffe, ich konnte weiterhelfen :)