Strafrecht
BT 1: Totschlag, Mord, Körperverletzung u.a.
Aussetzung, § 221 StGB
Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage 1
Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage 1
31. Mai 2025
16 Kommentare
4,7 ★ (16.180 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die Ehepartner A und T streiten sich. Aus nicht aufklärbaren Gründen kippt A nachts über ein 0,84 m hohes Balkongeländer und hängt über der 12 m tiefer liegenden Straße. Sie kann sich festhalten, aber nicht hochziehen und ruft mehrfach laut um Hilfe. T bleibt lachend vor dem Fernseher sitzen.
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Einordnung des Falls
Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage 1
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Wer einen Menschen in einer hilflosen Lage im Stich lässt, obwohl er ihn in seiner Obhut hat oder ihm sonst beizustehen verpflichtet ist, und ihn dadurch der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt, verwirklicht den objektiven Straftatbestand der Aussetzung (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB).
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. T hatte gegenüber der A eine Garantenstellung (§ 13 Abs. 1 StGB).
Ja!
3. A befand sich in einer "hilflosen Lage".
Genau, so ist das!
4. T hat die A "im Stich gelassen" in der hilflosen Lage.
Ja, in der Tat!
5. T hat A "durch" das Im-Stich-lassen in einer hilflosen Lage der "Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung ausgesetzt" (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB).
Ja!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

elli_neu
24.1.2022, 11:15:09
Ist das " Im Stich lassen" einr Handlung oder ist das dann eine Aussetzung durch Unterlassen, wenn T die Lage erkennt, aber nichts tut?
Victor
24.1.2022, 12:49:12
Die Aussetzung ist ein echtes Unterlassungsdelikt. Die Tathandlungen sind stets Unterlassungen.

Samin
30.1.2022, 19:29:45
Victor
30.1.2022, 21:15:40
Das kommt grundsätzlich auch in Betracht. Ändert aber nichts an der rechtlichen Einschätzung als Aussetzung. Dann käme es jedoch auf die Konkurrenzen an.
Das_war_Kenny
13.6.2022, 14:51:13
Wie ist das, wenn der Mann die Rufe nicht gehört hätte?

Lukas_Mengestu
14.6.2022, 20:19:54
Hallo Das_war_Kenny, dann fehlt es bereits an dem entsprechenden Vorsatz für die Tatbestandsverwirklichung. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Geithombre
6.1.2024, 23:28:51
Worin genau liegt hier jetzt der Unterschied zum vorigen Fall, bei dem der potentielle Täter sein Opfer durch das Werfen über Bord wegen der Augenblicksgefahr nicht durch die Aussetzung in die Gefahr des Todes bringt? Ich würde meinen, dass bei fehlender Kraft für ein "Hochziehen" der Absturz nur eine Frage von Momenten ist. Da ist doch die Gefahr des Todes ebenso unmittelbar immanent wie beim Nichtschwimmer in tiefem Wasser?

Cosmonaut
21.1.2024, 17:40:13
Hi @[Geithombre](138034), Das hast Du falsch in Erinnerung: Beim Bodensee-Fall brachte der T das O genauso in eine akute Todesgefahr, so gesehen sind beide Fälle ähnlich „todesnah“ für das unglückliche Opfer! Er setzte das O allerdings nicht aus, sondern v e r s e t z t e das O aktiv in diese Lage. Der § 221 I Nr. 1 erfordert jedoch eine Z w e i s t u f i g k e i t des Versetzens in eine hilflose Lage (1.) und sodann der Entwicklung einer konkreten
Gefahrenlagea u s dieser vom T zurechenbar herbeigeführten hilflosen Lage (2.)! In diesem „mangelnder Latissimus kann tödlich sein“-Fall fand der T das O, seine Ehegattin, bereits in einer hilflosen Lage vor! Er hatte (nach den erwiesenen
Tatsachen) aber rein gar nichts mit der Herbeiführung dieser Lage zu tun, das hat sie irgendwie selbst geschafft. Der Unwert seines Verhaltens lag daher in dem Beibehalten der hilflosen Lage durch Nichtstun; da gilt dann das echte Unterlassensdelikt des Abs. 1 Nr. 2. Gruß
Geithombre
21.1.2024, 20:04:17
Erstmal danke @[Cosmonaut](188718), dass du mit einsteigst ;) Evtl. habe ich mich missverständlich ausgedrückt, klar war der Bodensee-Fall ein Fall von Abs. 1 Nr. 1, während wir hier einen Fall von Nr. 2 haben.
Was mir nicht einleuchtet: Laut Leipziger Kommentar ist bei beiden Nummern eine Zweistufigkeit zu prüfen, wir bräuchten also hier ebenso eine Gefahr gerade d u r c h die Tatmodalität, hier eben das "im Stich lassen" statt der "versetzen". Und da frage ich mich, warum die Augenblicksgefahr bei einem Nichtschwimmer anders gelagert sein solle als bei jemandem, der 12m über dem Boden an einem Geländer hängt und nicht die Kraft hat, sich selbst hochzuziehen (und daher mMn in weniger als 1 Minute abstürzen wird). In beiden Fällen ist der Tod eine Sache von Sekunden bzw. wenigen Minuten.
TubaTheo
9.6.2024, 00:48:30
Wie du schon richtig gesagt hast, ist das Opfer im vorherigen Fall Nichtschwimmer und wird nach dem Stoß ins Wasser SOFORT in die Gefahr des Todes versetzt. In diesem Fall allerdings kann sich das Opfer am Geländer halten, ist also noch nicht SOFORT in der Gefahr des Todes. Erst ab dem Moment, wo ihre Kräfte zu schwinden beginnen, würde meiner Meinung nach die konkrete Gefahr eintreten. Klar handelt es sich hierbei womöglich nur um eine halbe Minute, aber trotzdem besteht eben erst eine hilflose Lage, aus der dann die Gefahr resultiert. Beim Nichtschwimmer tritt beides auch wirklich gleichzeitig ein. Ich stimme dir aber in sofern zu, dass diese wenigen Sekunden nicht den Unterschied ausmachen sollten, weshalb eine andere Meinung sicherlich vertretbar ist. Trotzdem besteht eben, wenn man es ganz genau subsumiert, anfangs für eine kurze Zeit eine hilflose Lage ohne Gefahr. Ich hoffe, ich konnte weiterhelfen :)
Amelie7
25.11.2024, 18:41:02
@[Geithombre](138034) ich sehe das genau wie du und verstehe nicht, wo hier der Unterschied in der Zweiaktigkeit liegen soll. In dem Schwimmer-Fall wurde ebenfalls kommentiert, dass selbst bei Schwimmfähigkeit eine Zweiaktigkeit nicht gegeben wäre, da auch dann trotz längerer "Überlebensdauer" ab dem Zeitpunkt vom Zufall abhängt, ob die Person sich retten kann oder nicht

Tim Gottschalk
22.1.2025, 20:43:43
Hallo @[Geithombre](138034), vielen Dank für deine sehr gute und wichtige Nachfrage. Wie du richtig dargestellt hast, ist nach den einschlägigen Kommentaren eine Zweistufigkeit des Aussetzungstatbestands sowohl im Rahmen von Abs. 1 Nr. 1 als auch Nr. 2
erforderlich. Meines Erachtens ist der entscheidende Unterschied aber folgender: Im Bodensee-Fall führt der Täter unmittelbar eine konkrete Gefahr herbei, es besteht zu keinem Augenblick eine lediglich hilflose Lage ohne konkrete Gefahr. Das ist damit zu begründen, dass bei einem Nichtschwimmer im Wasser vom ersten Moment an die Gefahr besteht, dass er jederzeit untergehen und ertrinken kann. In diesem Fall hier befindet die A sich dagegen zunächst lediglich in einer hilflosen Lage, ohne dass dadurch bereits die konkrete Gefahr eintritt. Beim Hängen am Geländer handelt es sich anders als beim Nichtschwimmer im Wasser nicht um ein dynamisches Geschehen, wo sich jeden Moment die Gefahr des Todes verwirklichen kann. Vielmehr verläuft die
Gefahrenlagefür die am Geländer hängende A eher linear: Zu Beginn kann sie sich noch festhalten und es ist vorerst nicht damit zu rechnen, dass sie plötzlich hinunterfällt. Erst wenn ihre Kräfte nachlassen, kommt es zu einem Zustand, in dem sich die Gefahr jederzeit verwirklichen kann und es nur noch vom Zufall abhängt, ob sie hinunterfällt oder nicht. Insofern stimme ich den Ausführungen von @[TubaTheo](201157) zu. Aus diesem Grund handelt es sich nicht um eine Augenblicksgefahr, sondern die konkrete Gefahr entwickelt sich erst aus dem Fortschreiten der hilflosen Lage. Daher ist der objektive Tatbestand erfüllt. Und ja, das sind im Endeffekt Sekunden und juristische Feinheiten, die über die Strafbarkeit entscheiden. Das ist im Strafrecht aber auch nicht unbedingt ungewöhnlich. Vertiefend möchte ich anmerken, dass die Einzelheiten in der Literatur stark umstritten sind und es wenig höchstrichterliche Rechtsprechung zu dem Thema gibt. Im NK-StGB/Saliger StGB § 221 Rn. 2 wird es in meinen Augen treffend zusammengefasst: „Die gesetzestechnisch missglückte Vorschrift stellt die Strafrechtswissenschaft vor erhebliche, kaum konsistent zu bewältigende Interpretationsprobleme.“ Insofern kann ich dich beruhigen: Für Klausuren werden sich derartige Abgrenzungen, jedenfalls wenn sie tiefer in die Materie einsteigen, meiner Meinung nach regelmäßig nicht anbieten. Stattdessen wird ein oberflächliches Verständnis für eine erfolgreiche Bearbeitung ausreichen sowie eine gute Argumentation Punkte einbringen. Zudem tritt § 211 StGB regelmäßig auf Konkurrenzebene hinter verwirklichte oder versuchte Tötungs- oder Körperverletzungsdelikte zurück. Ich hoffe, dass meine Antwort zum Verständnis beitragen konnte. Viele Grüße, Tim Gottschalk - für das Jurafuchs-Team @[Wendelin Neubert](409)

Tim Gottschalk
22.1.2025, 20:48:49
Hallo @[Amelie7](262107), ich halte den von dir erwähnten Kommentar für inhaltlich falsch. Bei einer Person, die schwimmen kann, tritt keine konkrete Gefahr des Todes ein, nur weil sie ins Wasser gestoßen wird. Eine konkrete Gefahr erfordert, dass der Tod jederzeit plötzlich eintreten kann. Das ist nicht der Fall, wenn abzusehen ist, dass die Person noch für längere Zeit schwimmen kann, ohne dass sie plötzlich ertrinkt. Ich würde bei Schwimmfähigkeit daher die Zweistufigkeit bejahen, wenn es dann später tatsächlich zu einer konkreten Gefahr kommt. Zur Erläuterung des Unterschieds der beiden Fälle siehe meinen Kommentar darüber. Viele Grüße, Tim Gottschalk - für das Jurafuchs-Team

Nils
24.3.2025, 16:38:42
Überzeugt mich nicht. Auch ein Nichtschwimmer schlägt intuitiv mit Armen und Beinen und wird nicht sofort wie ein Stein untergehen (anders bei Kleinkindern). Insofern liegt m.M.n eine absolut vergleichbare Situation vor.