Zivilrecht

Bereicherungsrecht

Die Leistungskondiktion

Kondiktionsausschluss nach § 814: Anstandspflicht

Kondiktionsausschluss nach § 814: Anstandspflicht

22. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

G ist in einem Restaurant essen. Er denkt, er sei gesetzlich zu einer Zahlung eines Trinkgelds an die Kellnerin in Höhe von ca. 10 % verpflichtet. Er bezahlt daher insgesamt €20 bei der K, bei einer Rechnung von €18. K darf mit Erlaubnis Ihres Chefs Trinkgelder stets für sich behalten.

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Einordnung des Falls

Kondiktionsausschluss nach § 814: Anstandspflicht

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. G war zur Zahlung des Trinkgelds gesetzlich verpflichtet.

Nein!

G muss lediglich die Speisen und Getränke bezahlen, über die er einen Kaufvertrag geschlossen hat. Er musste demnach nur €18 bezahlen. Es gibt keine gesetzliche Verpflichtung, darüber hinaus ein Trinkgeld zu bezahlen.
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2. K hat „etwas erlangt“ (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB).

Genau, so ist das!

„Etwas“ im Sinne von § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB ist jede vorteilhafte Rechtsposition. Der Vorteil muss tatsächlich in das Vermögen des Schuldners übergegangen sein. Man kann vier Kategorien unterscheiden: (1) Rechte (z.B. Eigentum), (2) vorteilhafte Rechtsstellungen (z.B. Besitz), (3) Befreiung von Verbindlichkeiten, (4) erlangte Nutzungen an fremden Sachen oder Rechten.K hat Eigentum und Besitz an dem Trinkgeld erlangt, das G ihr übergeben und übereignet hat. Es wurde auch ihr und nicht dem Restaurant übereignet, da K das Trinkgeld behalten darf und G das Trinkgeld an sie zahlen wollte.

3. K hat das Eigentum am Geld „durch Leistung“ des G (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB) erlangt.

Ja, in der Tat!

Leistung ist jede bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens. Die Zweckbestimmung der Leistung ist eine geschäftsähnliche Handlung. Das Vorliegen einer Leistung ist aus der objektiven Empfängersicht (§§ 133, 157 BGB) zu beurteilen.G wollte mit der Übereignung eine vermeintliche gesetzliche Verbindlichkeit begleichen (solvendi causa). Er hat zu diesem Zweck bewusst und zielgerichtet das Vermögen der K gemehrt.

4. G hat die Leistung an K "ohne rechtlichen Grund" (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB) erbracht.

Ja!

Es gibt keine einheitliche Definition der Rechtsgrundlosigkeit, die für alle Leistungskondiktionen gelten würde. Es sind zu unterscheiden: (1) anfängliches Fehlen einer Verbindlichkeit (condictio indebiti), (2) Rechtsgrund bestand, ist aber nachträglich entfallen (condictio ob causam finitam), (3) Leistung verfolgt einen Zweck, der über Befreiung von einer Verbindlichkeit hinausgeht (condictio ob rem) und (4) Gesetzes- oder Sittenverstoß des Leistungsempfängers (condictio ob turpem vel iniustam causam). Zu 1: Bei der condictio indebiti fehlt der Rechtsgrund, wenn der mit der bewussten Vermögensmehrung verfolgte Zweck verfehlt worden ist.Hier fehlte es von Anfang an am Rechtsgrund, sodass eine condictio indebiti in Betracht kommt.

5. Der Anspruch auf Rückforderung des G ist ausgeschlossen, da es sich bei der Leistung um eine Anstandspflicht handelt (§ 814 Alt. 2 BGB).

Genau, so ist das!

Nach § 814 Alt. 2 BGB kann das zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete nicht zurückgefordert werden, wenn die Leistung einer sittlichen Pflicht (sog. Anstandspflicht) entsprach. Der Ausschlusstatbestand des § 814 Alt. 2 BGB ist nur anwendbar auf die condictio indebiti. Ob eine Anstandspflicht vorliegt, wird rein objektiv nach den herrschenden Moralvorstellungen bestimmt. Dabei kann auf ähnliche Grundsätze, wie bei § 138 Abs. 1 zurückgegriffen werden.Es ist eine lange geprägte, in der allgemeinen Öffentlichkeit weitverbreitete Ansicht, dass im Regelfall bei einem Restaurantbesuch ein Trinkgeld zu gewähren ist. Es handelt sich nach den herrschenden Moralvorstellungen um eine Anstandspflicht. Die Rückforderung ist ausgeschlossen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

ErdbärIn

ErdbärIn

30.10.2020, 20:32:44

Ich bin ein bisschen verwundert über die Trinkgeldhöhe und darüber, dass das noch unter die Anstandspflicht nach §

814

Alt. 2 BGB fällt. Wahrscheinlich waren eigentlich 2 statt 20 Euro gemeint?

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

30.10.2020, 21:45:11

Hallo ErdbärIn, danke für den Kommentar, es war ein bisschen einfach zu überlesen, aber G bezahlt insgesamt 20€ bei einer Rechnung von 18€. Also 2€ Trinkgeld, haben das Wort "insgesamt" im Sachverhalt ergänzt, damit es klarer wird.

ErdbärIn

ErdbärIn

30.10.2020, 22:32:18

Ach alles klar, so war es gemeint. Vielen Dank!

w.laura.l

w.laura.l

20.1.2021, 16:10:47

Müssten hier dann nicht 1,80€ Trinkgeld anfallen, wenn man von 10% ausgeht? Das Trinkgeld errechnet sich ja anhand der Rechnung - nicht anhand der Rechnung inkl. Trinkgeld. Andernfalls könnte man auch die Rechnung auf 20€ setzen und den Gesamtbetrag auf 22€. Dann hätte man 10% Trinkgeld. Wäre super, wenn man die Rechnung mal prüfen könne

ri

ri

21.7.2021, 05:29:42

Im SV steht „ca“

antoniasophie

antoniasophie

8.4.2022, 23:35:30

Juristen sind keine Mathematiker!

Tigerwitsch

Tigerwitsch

11.3.2021, 22:37:24

Wie wäre es eigentlich, wenn G ein sehr hohes Trinkgeld gibt, weil er denkt, er sei dazu verpflichtet? (mal ganz hypothetisch: G denkt, es seien 40% Trinkgeld „Pflicht“) Würde dann trotzdem §

814

Alt. 2 BGB greifen? Mit anderen Worten: Aus Kommentaren habe ich entnommen, dass es auf die objektive Sicht ankommt (und nicht subjektiv). Kommt es also darauf an, was ein „objektiv angemessenes“ Trinkgeld wäre - oder ob es „objektiv“ angemessen ist, einmal gegebenes Trinkgeld nicht zurückzufordern?

Tigerwitsch

Tigerwitsch

11.3.2021, 22:46:13

(Meine Überlegung: Wenn schon Unterhaltsleistungen an Verwandte, denen gegenüber keine gesetzliche Unterhaltspflicht besteht, nicht zurückgefordert werden dürfen, muss dies erst recht für Trinkgelder gelten. Vgl. Palandt/Sprau, 78. Auflage 2019, §

814

Rn. 9 (dort ist jedoch - deshalb meine Frage - von der Gewährung „üblicher“ Trinkgelder die Rede).

HAGE

hagenhubl

6.5.2024, 12:31:41

Wieso bist du der Ansicht, dass jemand der Trinkgeld bekommt schutzwürdiger ist als jemand der Verwandtenunterhalt bekommt? Der Verwandte gehört immerhin zur Familie, während zum Beispiel ein Kellner in der Regel eine wildfremde Person ist.

DO

Doli

5.9.2022, 13:53:29

Bzgl der Leistung: wenn die Zweckbestimmung nach dem obj.

Empfängerhorizont

auszulegen ist, liegt doch viel mehr eine

donandi causa

statt einer solvendi causa vor, weil es nicht darauf ankommt was G sich dabei dachte, wenn das für den Empfänger nicht erkennbar war (G dachte er erfüllt eine Verbindlichkeit, ein Empfänger würde denken er vollzieht eine Schenkung), oder nicht?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

5.9.2022, 17:34:41

Hallo Doli, das Vorliegen einer Leistung als solcher ist aus dem

objektiver Empfängerhorizont

zu beurteilen. Dies ist insbesondere für Dreipersonenverhältnisse relevant. Die Zweckbestimmung ist aus Sicht des Leistenden zu beurteilen, denn nur so kann ermittelt werden, ob der mit der Leistung verfolgte Zweck auch tatsächlich vorliegt oder fehlt. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

Spyce

Spyce

17.11.2022, 15:36:46

Könnte als rechtlicher Grund nicht ein normaler Schenkungsvertrag angenommen werden?

Handlungswille

und Erklärungswille sind gegeben (bzw selbst wenn nicht, es gibt ja das potentielle Erklärungsbewusstsein). Nur der

Geschäftswille

fehlt. Zudem ist auch der obj. Tatbestand einer WE einschlägig, man kann ja grundsätzlich davon ausgehen, dass bei der Zahlung von Trinkgeld eine auf Schließung eines Schenkungsvertrages gerichtete Willenserklärung vorliegt. Damit es also am rechtlichen Grund fehlt, müsste G noch anfechten oder nicht?

MaxCarl

MaxCarl

17.5.2023, 19:54:09

Daran habe ich tatsächlich auch gedacht, wäre mal spannend, darauf eine Antwort zu erhalten

Nora Mommsen

Nora Mommsen

23.5.2023, 17:48:43

Hallo ihr beiden, ein Schenkungsvertrag setzt voraus das eine Partei eine Leistung erbringen muss, ohne dafür irgendeine Art der Gegenleistung zu erhalten. Wenn wie vorliegend, G sich vorstellt gesetzlich zu Trinkgeld verpflichtet zu sein, wenn er einen Service erhalten hat liegt dies gerade nicht vor. Daher ist ein Schenkungsvertrag in dieser Konstellation eher abzulehnen. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

HAGE

hagenhubl

6.5.2024, 12:23:03

Wieso ist Trinkgeld keine Schenkung? Der Gast bezahlt doch für den Service die Rechnung und die Kellnerin bekommt Lohn für ihre Arbeit.

VALA

Vanilla Latte

21.7.2024, 00:19:02

Es kann sich beim Trinkgeld um eine Schenkung handeln. Hier gab es aber keine Vereinbarung, sondern derjenige ist davon ausgegangen, dass er bereits zur Leistung verpflichtet war. Denke ich...

CR7

CR7

4.1.2024, 12:59:07

Mal ne unjuristische Frage: Gebt ihr Trinkgeld? Wenn ja, wie viel im Durchschnitt? :D

Paulah

Paulah

5.1.2024, 22:48:10

Ja, mache ich, aber nur beim Essen im Lokal. Ich runde meistens irgendwie von 1,80 auf 2 Euro oder von 13,60 auf 15 Euro. Etwas merkwürdig finde ich allerdings die neue Sitte, die ich schon mehrfach beobachtet habe: Da wird Trinkgeld gegeben, wenn man das Essen selbst im Dönerladen oder der Pizzabude holt. Da würde es mir im Traum nicht einfallen, Trinkgeld zu geben - ich leiste den Service ja selbst. :-)

Steinfan

Steinfan

3.4.2024, 18:07:16

Für eine ikonische Argumentation zum Thema Trinkgeld verweise ich nur auf die Anfangssequenz in „Reservoir Dogs“ von Tarantino.

Martin

Martin

2.8.2024, 17:47:29

Hallo zusammen, Warum liegt beim Trinkgeld nicht regelmäßig eine

Handschenkung

vor? Indem er den 20€ gibt und sagt: „stimmt so“ liegt ein Angebot und in dem Bedanken eine Annahme. Dann wäre mit Rechtsgrund geleistet. Ich weiß der SV macht hier dazu keine Angaben. Aber generell liegen doch in 99% dieser Alltagsfälle zwei übereinstimmende Willenserklärungen dahingehen vor, dass die Bedienung unentgeltlich den Rest behalten soll. LG Martin

QUAR

Quarklo

13.8.2024, 17:37:56

In der Regel wird das so sein. Hier wurde aber aus didaktischen Gründen ein Sachverhalt konstruiert, in welchem der Leistende von einer Verpflichtung ausgeht, um auf den §

814

zu sprechen zu kommen.

TI

Timurso

17.10.2024, 20:05:29

@[Quarklo](252534) Dass der Leistende von einer Verpflichtung ausgeht, dürfte aber nichts daran ändern, dass seine

Übereignung

von 20 € bei Auslegung nach dem

objektiven Empfängerhorizont

als Angebot auf eine Schenkung in Höhe der 2 € auszulegen wäre. Oder anderer Vertragstyp, spielt hier ja keine Rolle. Dass der Leistende sich über seine

Leistungspflicht

irrt, ist als

fehlendes Erklärungsbewusstsein

nur dann für die Qualifikation als Willenserklärung beachtlich, wenn er es nicht hätte erkennen können. Ich würde jedoch durchaus behaupten, dass er hätte wissen und erkennen können, dass eine solche Pflicht nicht besteht. Somit ist ein Vertrag zustande gekommen und ein Rechtsgrund besteht. Er könnte höchstens anfechten. Ich sehe durchaus ein, dass der Fall aus didaktischen Gründen so versucht wurde zu konstruieren, aber da lässt sich bestimmt ein besserer finden, wo man sich nicht verbiegen muss, um auch zu

§ 814 BGB

zu kommen.

HARD

hardymary

17.10.2024, 14:04:50

Wieso hat die Kellnerin Besitz (ok) und Eigentum an dem Geld erhalten? Das wird ja wohl eher der Restaurant-Inhaber bekommen haben.

TI

Timurso

17.10.2024, 20:00:42

Vorsicht, es geht hier um das Trinkgeld. Das geht direkt an die Kellnerin, nicht an den Restaurant-Inhaber.


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