Kontrollfall

21. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

R betreibt ein Restaurant mit einem Biergarten. Die Gemeinde verpflichtet R, pro Sitzplatz im Freien eine „Lärmabgabe“ zu zahlen. Neben Rs Restaurant befindet sich Bäcker B, der drei Stehtische im Freien hat. B muss keine „Lärmabgabe“ zahlen. R findet das unfair.

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Einordnung des Falls

Kontrollfall

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verpflichtet den Staat, Menschen gleichzubehandeln, die miteinander in wesentlicher Hinsicht vergleichbar sind.

Ja, in der Tat!

Art. 3 Abs. 1 GG verlangt zwar keine strikte Rechtsgleichheit aller Menschen. Er verlangt aber, dass Menschen nicht ohne guten Grund unterschiedlich behandelt werden. Ausgangspunkt der Frage nach einer zulässigen oder unzulässigen Ungleichbehandlung ist, ob die von staatlichen Maßnahmen betroffenen Menschen miteinander vergleichbar sind. Dafür bildet man sog. Vergleichsgruppen und prüft, ob sich diese einem gemeinsamen Bezugspunkt (sog. tertium comparationis) zuordnen lassen. Ist dies der Fall, sind die Vergleichsgruppen wesentlich gleich. Werden die Vergleichsgruppen nicht gleich behandelt, liegt eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem vor. Der Gleichheitssatz ist damit elementare Voraussetzung für Gerechtigkeit und eine „gerechte“ Rechtsordnung.
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2. Sind Rs Restaurant mit Biergarten und Sitzplätzen im Freien auf der einen Seite und Bs Bäckerei mit Stehplätzen im Freien auf der anderen Seite in wesentlicher Hinsicht miteinander vergleichbar?

Nein!

Als Ausgangspunkt der Prüfung von Art. 3 Abs. 1 GG müssen die Situationen, die von den streitgegenständlichen staatlichen Maßnahmen betroffen sind, miteinander vergleichbar sein. Dafür werden sog. Vergleichsgruppen gebildet und geprüft, ob sich diese einem gemeinsamen Bezugspunkt (sog. tertium comparationis) zuordnen lassen. Sowohl Rs Restaurant und Bs Bäcker ließen sich dem Bezugspunkt „Betrieb“ zuordnen. Aber dies ist ein viel zu weit gefasster Bezugspunkt, der keine Vergleichbarkeit ermöglicht. Die gemeinsame Zuordnung zum Bezugspunkt „Gastronomie“ misslingt, weil der Bäcker nicht dazu passt. Ein - etwas sperriger - Bezugspunkt „Laden mit Verzehrmöglichkeit im Freien“ erfasst zwar R und B, verzerrt aber die offenkundigen Unterschiede zwischen R und B: Bei R sitzen viele Leute über längere Zeit im Freien, bei B stehen wenige Leute mit kurzer Verweildauer im Freien. Ein gemeinsamer Bezugspunkt für R und B besteht hier nicht. Sie sind hier verfassungsrechtlich nicht in wesentlicher Hinsicht gleich. Die Herausforderung der Anwendung von Art. 3 Abs. 1 GG liegt darin, saubere Vergleichsgruppen zu bilden.

3. Muss eine Ungleichbehandlung von Situationen, die in wesentlicher Hinsicht ungleich sind, verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein?

Nein, das ist nicht der Fall!

Art. 3 Abs. 1 GG untersagt die Ungleichbehandlung von Menschen, Personengruppen oder Situationen, die in wesentlicher Hinsicht vergleichbar (= wesentlich gleich) sind. Eine Ungleichbehandlung liegt vor, wenn der einen Vergleichsgruppe ein staatlicher Vor- oder Nachteil zuteilwird, der anderen aber nicht. Liegt schon keine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung vor, greift Art. 3 Abs. 1 GG nicht ein. Eine solche Ungleichbehandlung bedarf folglich auch keiner verfassungsrechtlichen Rechtfertigung Da Rs Restaurant und Bs Bäckerei hier verfassungsrechtlich in wesentlicher Hinsicht ungleich sind, bedarf die R zuteil werdende Ungleichbehandlung gegenüber B - R muss eine „Lärmabgabe“ zahlen, B nicht - keiner verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Solltest Du in Deiner Klausur bereits keine Vergleichbarkeit der Vergleichsgruppen haben, kommt es also auf die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung nicht an. Trotzdem solltest Du die Klausur auch dann „zu Ende“ prüfen - im Hilfsgutachten. In der ganz überwiegenden Anzahl von Klausuren zu Art. 3 Abs. 1 GG wird eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung vorliegen, damit Du zwanglos deren Rechtfertigung prüfen kannst.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

TO

Toralf

3.3.2022, 11:39:49

Geniale Zeichnung! :D

Marilena

Marilena

4.3.2022, 14:57:43

Vielen Dank für das Lob Toralf, das gebe ich gerne an unseren Illustrator weiter. Beste Grüße Marilena für das Jurafuchs-Team

Foxxy

Foxxy

29.7.2024, 13:10:44

Hallo, vielen Dank für dein Lob! Deine positive Rückmeldung motiviert uns, weiterhin unser Bestes zu geben. Beste Grüße, Foxxy, für das Jurafuchs-Team

QUIG

QuiGonTim

25.3.2022, 00:45:18

Ab welcher Schwelle kann denn von einer wesentlichen Gleichheit gesprochen werden? Vorliegend habt ihr die Gleichheit im Bezugspunkt „Betrieb“ bejaht.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

25.3.2022, 19:43:32

Hallo QuiGonTIm, super Frage. Aufgrund der Unschärfe dieses Begriffes ist dies leider immer eine Einzelfallentscheidung. Eine abstrakte Bestimmung lässt sich hier nur schwer treffen. Grundsätzlich wird die Voraussetzung der Wesentlichkeit sehr großzügig angewendet, sodass im Zweifel eher von einer Vergleichbarkeit der Sachverhalte ausgegangen wird (vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, 16.A. 2020, Art. 3 RdNr. 11). Teilweise wird sogar dafür plädiert, die Vergleichbarkeit gar nicht mehr als Kriterium für die Eröffnung des Schutzbereiches zu verwenden, da ein Vergleich letztlich immer möglich sei (vgl. hier zB im Hinblick auf "Betrieb" oder "Äpfel und Birnen", die ja beides Obst sind...). Vielmehr solle diese Frage immer nur auf Ebene der Rechtfertigung relevant sein. Denn je verschiedener die Sachverhalte, desto leichter liesen sich unterschiedliche Behandlungen rechtfertigen (so Kischel, in: BeckOK-GG, 50.Ed. 15.02.2022, Art. 3 RdNr. 18). Solang es sich in der Klausur also keine deutlichen Unterschiede zeigen, kannst Du im Zweifel auch die Vergleichbarkeit bejahen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

CANDM

CanDMRCV

20.4.2022, 00:47:52

Die hier vertretene Lösung bereitet mir leider Bauchschmerzen: Die Vergleichbarkeit zu verneinen hat zur Folge, die Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen zu müssen. Das hat das BVerfG in der Vergangenheit getan, um unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen. Am eindrücklichsten dürfte BVerfGE 6, 389 für diese Praxis sein. Dies vereitelt einen effektiven Grundrechtsschutz. Weiterhin verstößt es auch gegen die Regeln der Logik: Ob etwas vergleichbar ist oder nicht, kann nur das Ergebnis eines vorhergegangenen Vergleichs sein.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

22.4.2022, 13:04:59

Hallo CanDMRCV, in der Tat ließe sich hier auch sehr gut ein anderes Ergebnis vertreten. Teilweise wird in der Literatur auch dafür plädiert generell das Erfordernis der Vergleichbarkeit abzuschaffen und alles im Rahmen der Rechtfertigung zu prüfen (s. paralleler Thread). Denn mit ein wenig Kreativität lässt sich letztlich immer ein gemeinsamer Oberbegriff finden. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Simon

Simon

9.7.2022, 22:37:11

Das "richtige" Prüfungsschema beim allg. Gleichheitssatz ist in der Literatur ziemlich umstritten. Hinzu kommt, dass auch das BVerfG hier nicht immer einheitlich prüft. Tatsächlich kann eine wesentliche Vergleichbarkeit immer nur im Bezug auf ein bestimmtes Unterscheidungskriterium festgestellt werden, sodass -wie CanDMRCV anmerkt- die wesentliche Vergleichbarkeit in gewisser Weise das Ergebnis der Prüfung ist. Dennoch finde ich, dass man das weit verbreitete Schema (Vergleichsgruppen, tertium comparationis, wesentliche Vergleichbarkeit, Rechtfertigung) -auch wegen der besseren Strukturierung der Prüfung- nicht völlig aufgeben sollte. Insoweit könnte man einen Mittelweg gehen. (1) Feststellen der Vergleichsgruppen: Hier Gastwirtschaft mit Außensitzplätzen und sonstiger Betrieb, der Speisen und Getränke anbietet, mit Stehplätzen im Freien. (2) Bezugspunkt der Ungleichbehandlung: Entrichtung einer Lärmabgabe bzw. eben keine Entrichtung. (3) Wesentliche Vergleichbarkeit der Gruppen im Hinblick auf Sinn und Zweck des Bezugspunktes: Telos der Lärmabgabe ist es, einen Ausgleich zu schaffen für den erhöhten Lärmpegel unter dem die Allgemeinheit leidet. Insofern wird man hier in der Tat keine wesentliche Vergleichbarkeit annehmen können, da von den wenigen Stehplätzen vor der Bäckerei so gut wie kein Lärmpegel ausgeht. Anders wohl, wenn die Bäckerei zumindest auch einige Sitzplätze hat, denn dann könnte man (je nach Sitzplatzanzahl) von einem gewissen Lärmpegel ausgehen, der wenigstens eine wesentliche Vergleichbarkeit herstellt. (4) Rechtfertigung: Hier wäre dann zu prüfen, ob (in meiner Abwandlung) die beiden Sachverhalte im Hinblick auf Sinn und Zweck der Lärmabgabe so verschieden sind, dass es gerechtfertigt erscheint, von der Bäckerei überhaupt keine Abgabe zu erheben, oder ob man zwecks Verhältnismäßigkeit eine verringerte Abgabe erheben müsste.


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