1. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG wird bestraft, wer Betäubungsmittel unerlaubt abgibt.
Ja, in der Tat!
(I) Objektiver Tatbestand
(1) BtMG i.S.d. § 1 Abs. 1 BtMG i.V.m. Anlage I-III
Gegenstand aller BtMG-Straftatbestände sind Betäubungsmittel. Für die Frage, welche Stoffe und Zubereitungen unter Betäubungsmittel fallen, verweist § 1 Abs. 1 BtMG auf die in den Anlagen I-III aufgeführten Substanzen.
(2) Tathandlung (hier: abgeben)
Abgeben ist die Übertragung der eigenen tatsächlichen Verfügungsgewalt an dem Betäubungsmittel ohne rechtsgeschäftliche Grundlage und ohne Gegenleistung an einen anderen mit der Wirkung, dass dieser frei darüber verfügen kann.
(3) unerlaubt (= ohne Erlaubnis § 3 BtMG)
(II) Subjektiver Tatbestand
(III) Rechtswidrigkeit
(IV) Schuld
(V) Kein Rücktritt
Straftatbestände sind nicht nur im StGB normiert, sondern auch in anderen Gesetzen (sog. Nebenstrafrecht).
Das BtMG gehört nicht zum Pflichtfachstoff im ersten Examen, hat jedoch in der Praxis hohe Relevanz. Daher ist es unwahrscheinlich, dass du BtMG-Delikte prüfen musst. Denkbar ist jedoch eine Abwandlung des Originalfalles, in der die Tabletten z.B. Hehlerware darstellen (JuS, 2024, 1184).
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2. A wusste, dass die Abgabe von Subutex-Tabletten erlaubnispflichtig ist. Hat A den objektiven und subjektiven Tatbestand des § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG erfüllt, indem sie dem B die zwei Subutex-Tabletten gab?
Ja!
Nach § 1 Abs. 1 BtMG sind Betäubungsmittel die in den Anlagen I bis III aufgeführten Stoffe und Zubereitungen. Abgeben ist die Übertragung der eigenen tatsächlichen Verfügungsgewalt an dem Betäubungsmittel ohne rechtsgeschäftliche Grundlage und ohne Gegenleistung an einen anderen mit der Wirkung, dass dieser frei darüber verfügen kann.
Subutex enthält Buprenorphin und ist damit nach § 1 Abs. 1 BtMG i.V.m. Anl. III des BtMG ein Betäubungsmittel. A hat dem B die zwei Subutex-Tabletten unentgeltlich gegeben, wodurch B die tatsächliche Verfügungsgewalt über diese erlangt hat und frei über sie verfügen konnte. A hatte dazu keine Erlaubnis i.S.d. § 3 BtMG. Sie hat den objektiven Tatbestand erfüllt. Sie wusste, dass eine derartige Erlaubnis zur Abgabe von Subutex erforderlich ist und hat B trotzdem die Tabletten gegeben. Sie handelte mithin vorsätzlich.
Subutex wird im Rahmen der Substitution als Ersatzstoff für Heroin verwendet.
3. Ein Entzug ist oft schmerzhaft und beeinträchtigt das körperliche Wohlbefinden (§ 223 StGB). A gab B die Tabletten, um künftige Entzugsschmerzen zu vermeiden. Könnte As Handeln möglicherweise gerechtfertigt sein?
Genau, so ist das!
Entwickel ein Gefühl dafür, welche Anhaltspunkte im Sachverhalt Dich darauf stoßen sollen, dass Du etwas zur Rechtfertigung oder Entschuldigung ausführen musst. Das ist z.B. dann der Fall, wenn der Täter mit seinem Verhalten von der Rechtsordnung geschützte Rechtsgüter verteidigt, wie hier, wo A handelt, um B vor körperlichen Schmerzen zu bewahren.
Ein Verhalten, das die Tatbestandsmerkmale eines Deliktes erfüllt, ist unrechtmäßig. Das Unrecht kann jedoch entfallen, wenn das Verhalten durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt ist. Es gibt geschriebene (z.B. §§ 32, 34 StGB) und ungeschriebene Rechtfertigungsgründe (z.B. Einwilligung, rechtfertigende Pflichtenkollision). So lässt die Rechtsordnung in bestimmten Fällen die Rechtswidrigkeit von strafrechtlich relevanten Verhalten entfallen, wenn dieses dem Schutz vor Beeinträchtigungen anderer strafrechtlich geschützter Rechtsgüter dient.
A wollte durch die Übergabe der Tabletten erreichen, dass B keine oder weniger Schmerzen hat. Die körperliche Unversehrtheit ist ein von der Rechtsordnung anerkanntes Rechtsgut. As Straftat zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit könnte etwa nach § 32 StGB oder nach § 34 StGB gerechtfertigt sein.
4. Im Rahmen deiner Prüfung solltest Du immer mit der Prüfung des Rechtfertigungsgrundes anfangen, der eindeutig vorliegt.
Nein, das trifft nicht zu!
Du solltest zu Beginn stets § 32 StGB prüfen, da die Notwehr einen gewissen Vorrang hat und § 34 StGB eine Art Auffangcharakter zukommt. Außerdem musst Du im Rahmen der Rechtfertigungsgründe überlegen, ob möglicherweise ein speziellerer Rechtfertigungsgrund in Betracht kommt (wenn der Täter z.B. zur Abwehr einer Gefahr eine Sache zerstört, sind die §§ 904, 228 BGB vorrangig zu § 34 StGB zu prüfen).
Voraussetzung für das Entfallen der Rechtswidrigkeit nach § 32 StGB ist:
(I) Notwehrlage
(1) Angriff
(2) Gegenwärtigkeit
(3) Rechtswidrigkeit
(II) Notwehrhandlung
(1) Erforderlichkeit
(2) Gebotenheit
(III) Subjektives Rechtfertigungselement („Verteidigungswille“)
5. Hier liegt keine aktive Handlung der JVA-Ärzte vor. Sie haben es allenfalls unterlassen, B Substitutionsmittel zu geben. Könnte der Wortlaut des § 32 StGB („Angriff“) dafür sprechen, dass ein Angriff durch Unterlassen nicht möglich ist?
Ja!
Eine Notwehrlage setzt zunächst voraus, dass ein Angriff vorliegt (§ 32 StGB). Ein Angriff ist jedes menschliche Verhalten, das ein rechtlich geschütztes Individualinteresse bedroht oder verletzt.
Nach einer Mindermeinung kann ein Angriff i.S.d. § 32 StGB nicht in einem Unterlassen bestehen. Dem Unterlassen fehle der aktiv-finale Charakter eines Angriffs. Dagegen spricht jedoch der Zweck des § 32 StGB: Die Rechtsordnung gibt mit § 32 StGB demjenigen das Recht, sich vor Gefahren zu schützen, vor denen ihn auch die Rechtsordnung schützt. Das Gesetz kennt jedoch eine Strafbarkeit wegen Unterlassen und statuiert damit unter gewissen Umständen eine Rechtspflicht zum Handeln. Daher kann nach h.M. auch ein Unterlassen ein Angriff i.S.d. § 32 StGB darstellen.
Innerhalb der h.M. ist str., ob den Unterlassenden eine Pflicht aus § 323c StGB oder nach § 13 StGB treffen muss. Die Mehrheit vertritt, dass bereits die Nichterfüllung der Pflicht aus § 323c StGB genügt.
6. Als A dem B die Tabletten gab, hatte B tatsächlich keine starken Entzugserscheinungen. Traf die JVA-Mitarbeiter eine Pflicht zum Handeln aus § 13 StGB oder aus § 323c StGB, so dass ein Angriff durch Unterlassen vorliegt?
Nein, das ist nicht der Fall!
Voraussetzung für § 13 StGB ist zunächst das Eintreten des tatbestandlichen Erfolges eines Straftatbestandes (hier: § 223 StGB). Bei § 323c StGB muss eine Tatsituation i.S.d. § 323c vorliegen.
§ 223 Abs. 1 StGB setzt eine Körperverletzung voraus.
Im Rahmen von § 323c StGB müsste eine der aufgeführten Tatsituationen vorliegen. Als Unglücksfall i.S.d. § 323c gilt ein plötzlich auftretendes Ereignis, das eine erhebliche Gefahr für ein Individualrechtsgut begründet. Gemeine Gefahr besteht in einer Situation, in der ein erheblicher Personen- oder Sachschaden für eine unbestimmte bzw. unbestimmbare Anzahl von Personen droht. Die gemeine Not wird als eine die Allgemeinheit betreffende Notlage umschrieben.
B litt nicht an starken körperlichen Schmerzen. Der Erfolg des § 223 StGB ist nicht eingetreten. Die JVA-Mitarbeiter traf damit keine Pflicht aus § 13 StGB, da überhaupt keine Rechtsgutsverletzung eingetreten ist. Es liegt auch keine Tatsituation i.S.d. § 323c StGB vor. Es bestand keine Handlungspflicht nach § 323c. Ein Angriff durch Unterlassen liegt nicht vor. Damit fehlt es an einer Notwehrlage i.S.d. § 32 StGB.
7. As Handeln war nicht nach § 32 StGB gerechtfertigt. Prüfst Du als nächstes, ob eine Rechtfertigung nach § 34 StGB in Betracht kommt?
Ja, in der Tat!
Die Voraussetzungen der Notstandslage in § 34 StGB sind weiter als die der Notwehrlage. Während § 32 StGB nur Individualgüter schützt, umfasst § 34 StGB auch (notstandsfähige) Rechtsgüter der Allgemeinheit. Daneben verlangt § 34 StGB nur eine gegenwärtige Gefahr.
§ 34 StGB setzt voraus:
(I) Notstandslage
(1) notstandsfähiges Rechtsgut
(2) Gefahr
(3) Gegenwärtigkeit der Gefahr
(II) Notstandshandlung
(1) Erforderlichkeit („nicht anders abwendbar“)
(2) Interessenabwägung (auch VHM)
(3) Angemessenheit des Mittels
(III) Subjektives Rechtfertigungselement: Verteidigungswille bzw. Kenntnis der Notstandslage und Handeln aufgrund des Bestehens dieser Notstandslage
8. B hatte weder zum Tatzeitpunkt noch beim Entdecken der Tat so starke Entzugserscheinungen, dass das JVA-Personal ihm Subutex hätte gegeben müssen. Liegt eine Notstandslage i.S.d. § 34 StGB vor?
Nein!
Eine Gefahr im Sinne von § 34 StGB ist ein Zustand, in dem aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit eines schädigenden Ereignisses besteht. Sie ist gegenwärtig, wenn bei natürlicher Weiterentwicklung der Dinge der Eintritt eines Schadens sicher oder doch höchstwahrscheinlich ist, falls nicht alsbald Abwehrmaßnahmen getroffen werden (RdNr. 13).
Die körperliche Unversehrtheit ist ein notstandsfähiges Rechtsgut. Allerdings waren Bs Entzugserscheinungen zu keinem Zeitpunkt so erheblich, dass es erforderlich war, ihm Subutex zu geben. Es bestand keine Gefahr, dass Bs körperliches Leiden die Schwelle des § 223 StGB bei natürlicher Weiterentwicklung überschreiten würde (RdNr. 14,15). Es lag keine Notstandslage vor.
9. Nach dem bayrische Strafvollzugsgesetz haben Gefangenen einen (gerichtlich überprüfbaren) Anspruch auf ärztliche Heilbehandlung. Spricht dies dafür, dass As Handlung zur Abwendung von Bs Schmerzen erforderlich gewesen waren (§ 34 StGB)?
Nein, das ist nicht der Fall!
Wie aufgezeigt, kannst Du bereits das Bestehen einer Notstandslage i.S.v. § 34 StGB ablehnen. In Grenzfällen kannst Du weitere Gründe aufzeigen, weswegen eine Norm nicht erfüllt ist. Auch das BayObLG hat - obwohl es bereits eine Notstandslage ablehnte - die Erforderlichkeit thematisiert (RdNr. 17).
Die Notstandshandlung muss geeignet sein, der Gefahr zu begegnen, und sich bei mehreren geeigneten Handlungsmöglichkeiten als das in Bezug auf das Eingriffsgut relativ mildeste Mittel erweisen.
Die Übergabe der Tabletten war geeignet, Bs Entzugserscheinungen zu beseitigen. Allerdings hätte B seinen Heilbehandlungsanspruch gerichtlich überprüfen lassen können. B hat damit obrigkeitliche Hilfe, die hier das mildere Mittel darstellt, nicht in Anspruch genommen. As Übergabe der Tabletten war nicht erforderlich.
Der Hinweis des BayObLG, wonach B seinen Anspruch auf Heilbehandlung auch gerichtlich hätte durchsetzen können, ist wegen der Länge gerichtlicher Verfahren problematisch (JuS 2024, 1184). Aber auch dann würde der Notstand spätestens i.R.d. Angemessenheit nach § 34 S. 2 StGB scheitern: Das staatlich geordnete Verfahren, nachdem B Substitutionsmittel bekommen könnte, hat Vorrang.
10. A dachte aber, dass B bald an Entzugsschmerzen leiden würde. Könnte As Handlung deswegen straflos bleiben, weil sie sich Umstände vorgestellt hat, die - bei ihrem tatsächlich Vorliegen - ihre Handlung gerechtfertigt hätten?
Ja, in der Tat!
As Verhalten könnte durch eine Erlaubnistatbestandsirrtum gedeckt sein. Beim Erlaubnistatbestandsirrtum stellt sich der Täter irrig Umstände vor, die, wenn sie wirklich vorlägen, einen rechtlich anerkannten Rechtfertigungsgrund erfüllen.
A ging davon aus, dass B wegen des Entzugs unter starken Schmerzen leiden würde. Ihr Handeln könnte infolge eines Erlaubnistatbestandsirrtums straflos bleiben. Je nach vertretener Ansicht wäre der Erlaubnistatbestand an einer anderen Stelle im Prüfungsschema zu thematisieren. Deshalb empfiehlt sich – entgegen der üblichen „Dreischrittsprüfung“ (Tatbestand, Rechtfertigung, Schuld) ein gesonderter Prüfungspunkt „Erlaubnistatbestandsirrtum“ nach der Prüfung der Rechtfertigung.
11. Musst Du in der Klausur, sobald ein Erlaubnistatbestand in Betracht kommt, immer zuerst die rechtliche Behandlung des Problems diskutieren?
Nein!
In der Fallbearbeitung solltest du – bevor Du zum umstrittenen Problem der Rechtsfolgen kommst – immer noch mal überlegen:
(1) Ist die Tat wirklich durch keinen denkbaren Rechtfertigungsgrund gedeckt?
(2) Liegt überhaupt ein Erlaubnistatbestandsirrtum vor?
(1) Wichtig ist, dass du keinen Rechtfertigungsgrund übersiehst (denk z.B. nicht nur an §§ 32, 34 StGB, sondern z.B. auch an § 904 BGB oder § 127 Abs. 1 StPO).
(2) Ein Erlaubnistatbestandsirrtum liegt nur vor, wenn der Täter bei Zugrundelegung seines irrtümlich vorgestellten Geschehensablaufs hypothetisch gerechtfertigt wäre. Dafür musst du alle Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes (unter Zugrundelegung des vom Täter vorgestellten Geschehensablaufs) prüfen. Nur wenn diese vorliegen, wäre die Tat hypothetisch gerechtfertigt. Nur dann liegt ein Erlaubnistatbestandsirrtum vor. Wenn das nicht der Fall ist, wäre es falsch, die Rechtsfolgen des Erlaubnistatbestandsirrtums zu diskutieren.
12. Wegen Bs Aussagen dachte A, B würde bald an Schmerzen leiden, wenn sie ihm kein Subutex geben würde. Läge unter Zugrundelegung dieser Vorstellung eine Nothilfelage i.S.d. § 32 StGB vor?
Nein, das ist nicht der Fall!
Ein Angriff ist jede durch menschliches Verhalten drohende Verletzung rechtlich geschützter Individualgüter oder -interessen. Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn er unmittelbar bevorsteht, begonnen hat oder noch andauert.
Denkbar wäre ein Angriff durch Unterlassen, wenn die JVA-Beamte nach As Vorstellung eine Pflicht aus § 323c StGB oder § 13 StGB träfe. Eine Garantenstellung der JVA-Beamte aus § 13 StGB könnte sich nur aus ihrer Stellung als Amtsträger ergeben und hier den Schutz der Gesundheit der Gefangenen umfassen.
An dieser Stelle kann dahinstehen, ob die JVA-Beamte die Pflicht traf, B Subutex-Tabletten zu geben, da nach As Vorstellung Bs Schmerzen nicht unmittelbar bevorstanden. Damit lag nach As Vorstellung kein gegenwärtiger Angriff i.S.d. § 32 StGB vor.
13. Könnte nach As Vorstellung, wonach B wegen des Entzugs demnächst unter starken Schmerzen leiden würde, wenn er nicht bald Subutex-Tabletten bekäme, dagegen eine Notstandslage i.S.d. § 34 StGB vorliegen?
Ja, in der Tat!
Eine Notstandslage setzt eine gegenwärtige nicht anders abwendbare Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut voraus. Eine gegenwärtige Gefahr ist gegeben, wenn ein Zustand vorliegt, der bei einer natürlichen Weiterentwicklung den baldigen Eintritt eines Schadens oder der Intensivierung eines Schadens für das Rechtsgut ernsthaft befürchten lässt, wenn nicht alsbald Abwehrmaßnahmen getroffen werden.
§ 34 StGB ist weiter als § 32 StGB, in dem § 34 StGB eine gegenwärtige Gefahr voraussetzt und gerade keinen gegenwärtigen Angriff.
Bs körperliche Unversehrtheit ist ein notstandsfähiges Rechtsgut. Nach As Vorstellung würde B bald an starken Schmerzen leiden, wenn sie keine Abwehrmaßnahmen treffen würde. Eine gegenwärtige Gefahr lag nach As Vorstellung vor.
Im Original bemängelte das BayObLG widersprüchliche Feststellungen des LGs bezüglich des tatsächlichen Geschehens auf. Es sei nicht klar, ob A B die Tabletten gab, um seine Suchtschmerzen zu lindern oder um ihn vor Schwierigkeiten bei anderweitiger Beschaffung (z.B. Schlägereien) zu schützen (RdNr. 22). Wir haben den Fall zur Bearbeitung so angepasst, dass ein eindeutiger Sachverhalt vorliegt.
Nach dem BayObLG war die Beweiswürdigung des LG lückenhaft, da die Kammer keine widerspruchsfreien Feststellungen bezüglich der Frage getroffen hat, ob A auf die Angaben ihres Bruders vertraut hat, aus denen sich eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr ergab. 14. Weil B ihr sagte, dass eh niemand Suchtkranken glauben würde, dachte A, es sei aussichtslos, dass B über den Rechtsweg Subutex bekommen könnte. Konnte nach As Vorstellung die Gefahr nicht anders abgewendet werden?
Ja!
Zur Erinnerung: Wir prüfen i.R.e. ETBI, ob nach der Vorstellung von A ein Rechtfertigungsgrund nach § 34 StGB gegeben ist.
Für die Notstandshandlung darf die Gefahr nicht anders abwendbar sein. Das Verteidigungsmittel muss demnach überhaupt zur Verteidigung geeignet sein und zugleich das relativ mildeste Mittel darstellen. Die Gefahr ist insbesondere dann anders abwendbar, wenn rechtzeitige staatliche Hilfe möglich ist.
Das Abgeben der Subutex-Tabletten war nach As Vorstellung geeignet, Bs zukünftige Schmerzen zu mindern. A dachte auch, dass es unmöglich wäre, dass B über den vorgesehenen Rechtsweg Subutex-Tabletten bekommt. Nach ihrer Vorstellung war es zu Bs Schmerzlinderung erforderlich, ihm die zwei Subutex-Tabletten zu geben.
15. Ergibt sich aus dem ausdrücklichen Wortlaut von § 34 StGB, dass A hier gewissenhaft hätte prüfen müssen, ob tatsächlich eine Notstandslage gegeben war?
Nein, das ist nicht der Fall!
Du hast bisher festgestellt, dass nach As Vorstellung eine Notstandslage vorlag. Grundsätzlich liegt damit auch die Voraussetzung eines ETBI vor. An dieser Stelle wird nun eine weitere Besonderheit dieses Falles relevant.
Nach st. Rspr. des BGH kommt ein Erlaubnistatbestandsirrtum und damit ein Entfall des Vorsatzes wegen der irrigen Annahme eines Notstandsrechts nur in Betracht, wenn der Täter die Sachlage pflichtgemäß geprüft hat (RdNr. 23).
A hätte andere Möglichkeiten zur Gefahrenabwehr prüfen müssen. Dies hat A nicht getan. Daher handelte sie auch hypothetisch nicht gerechtfertigt. Das BayObLG zitiert hier zwei ältere BGH-Entscheidungen (vgl. etwa Urteil vom 16.09.1986, 5 StR 51/86, zitiert nach juris, dort Rdn. 4 (für alle Arten des Notstands) und Urteil vom 21.05.1992, 4 StR 140/92, zitiert nach juris, dort RdNr. 8 (für § 35 StGB); siehe auch LKStGB/Vogel-Bülte aaO § 16 RdNr. 113). Die Rspr. kann man durchaus kritisch sehen, da der Wortlaut des § 34 StGB eine derartige Prüfung nicht voraussetzt. Die Entscheidung des BayObLG ist eher „vom Ergebnis her“ gedacht: Hätte das BayObLG einen Erlaubnistatbestandsirrtum bejaht, würde es die Abgabe von BtMG in JVAs rechtfertigen.
Du musst nicht jede BGH-Rechtsprechung kennen. Man kann sich aber durchaus fragen, ob strafbares Verhalten gerechtfertigt sein soll, wenn ohne jede Prüfung anderer Abwendungsmöglichkeiten direkt eine Straftat zum Schutz des gefährdeten Rechtsgutes begangen wird.
16. Da A hypothetisch nicht gerechtfertigt handelte, liegt kein Erlaubnistatbestandsirrtum vor. Erübrigt sich daher eine Diskussion der Theorien zum rechtlichen Umgang mit dem Erlaubnistatbestandsirrtum?
Ja, in der Tat!
Eine Diskussion der Theorien zum Umgang mit dem Erlaubnistatbestand ist nur erforderlich, wenn tatsächlich ein Erlaubnistatbestandsirrtum vorliegt (also nur, wenn der Täter bei Zugrundelegung seines irrtümlich vorgestellten Geschehensablaufs hypothetisch gerechtfertigt wäre). Sonst erübrigt sich eine Diskussion und kann sogar zu Punkteabzug führen. Der Prüfer denkt dann, Du gibst nur auswendig gelerntes Wissen wieder, ohne das Problem verstanden zu haben.
Mehr zum Erlaubnistatbestandsirrtum findest Du in unserem systematischen Kurs. 17. A irrte neben der tatsächlichen Situation auch über die Grenzen dessen, was erlaubt war, um Bs Schmerzen zu lindern. Könnte darin ein Verbotsirrtum nach § 17 StGB liegen?
Ja!
Ein sog. Doppelirrtum liegt vor, wenn der Täter sich über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes und gleichzeitig über dessen Grenzen irrt. Er wird wie ein Verbotsirrtum nach § 17 StGB behandelt, da der Täter sich auch hier über die Grenzen dessen, was rechtlich erlaubt ist, irrt. Er führt nur zur Straffreiheit, wenn der Irrtum unvermeidbar war und somit die Schuld des Täters ausnahmsweise nach § 17 S. 1 StGB entfällt.
Den Irrtum und die Vermeidbarkeit nach § 17 S. 1 StGB prüfst du daher in der Schuld.
A irrte sich nicht nur über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes, indem sie fälschlicherweise annahm, B würde bald unter starken Schmerzen leiden. Zudem irrte sie auch über dessen Grenzen, weil sie dachte, es sei in Ordnung, dem B die Subutex-Tabletten zu geben.
18. Nach § 17 S. 1 StGB handelt der Täter nur ohne Schuld, wenn er den Irrtum, bei Begehung der Tat kein Unrecht zu tun, nicht vermeiden konnte. War As Irrtum vermeidbar?
Genau, so ist das!
Ein Verbotsirrtum ist vermeidbar, wenn der Täter bei gehöriger Gewissensanspannung unter der Berücksichtigung des Verkehrskreises, aus dem er stammt, sein Unrecht hätte erkennen können oder er die Möglichkeit zur Einholung von Rechtsrat gehabt hätte.
Ein Irrtum nach § 17 StGB ist etwa dann unvermeidbar, wenn der Täter sich bei einer kompetenten fachkundigen Stelle (z.B. einem Rechtsanwalt oder einer Behörde) Auskunft einholt, diese jedoch falsch ist.
A hat sich weder selbstständig informiert, ob sie berechtigt war, B selbst die Subutex-Tabletten zu geben, noch hat sie irgendwo Rat eingeholt. Es ist nicht erkenntlich, dass A diese Gewissensanspannung nicht zuzumuten gewesen wäre. A hat damit nicht alle ihre geistigen Erkenntniskräfte eingesetzt, um den Irrtum zu vermeiden. Ihr Irrtum war vermeidbar.
Eine Entschuldigung nach § 35 StGB scheitert ebenfalls: Da eine Notstandslage i.S.d. § 35 StGB nicht gegeben ist, kommt allenfalls ein Irrtum über das Eingreifen von Entschuldigungsgründen (Entschuldigungstatbestandsirrtum) in Betracht (§ 35 Abs. 2 StGB). Auch hier war As Irrtum jedoch vermeidbar so dass § 35 Abs. 2 S. 1 StGB nicht greift.
19. Hat sich A nach alledem im Ergebnis nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG strafbar gemacht, indem sie B die zwei Subutex-Tabletten gab?
Ja, in der Tat!
A hat B die Subutex-Tabletten gegeben und damit objektiv und subjektiv die Tatbestandsvoraussetzungen des § 29 BtMG verwirklicht. Sie handelte weder gerechtfertigt noch schuldlos. Damit hat sie sich nach § 29 BtMG strafbar gemacht.
Zusammenfassung:
Ein Rechtfertigungsgrund lag nicht vor: Nach As Vorstellung bestand keine Notwehrlage (§ 32 StGB), da kein gegenwärtiger Angriff vorlag. Auch § 34 StGB ist nicht einschlägig, weil A keine milderen Mittel geprüft hatte (§ 34 S. 2 StGB).
Ein Erlaubnistatbestandsirrtum nimmt das Gericht im Ergebnis nicht zu Gunsten von A an, da sie hätte erkennen können, dass es mildere Alternativen zur Tablettenabgabe gab, insbesondere den Rechtsweg.
Ein Verbotsirrtum war vermeidbar, weil A sich nicht ausreichend erkundigt hatte.
In der Originalentscheidung waren die Feststellungen des LG bezüglich des tatsächlichen Geschehensablauf widersprüchlich und lückenhaft. Daher verwies das BayObLG die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des LGs zurück (RdNr. 24, 27). Es bleibt interessant, was das LG nach der Zurückverweisung aus diesem Fall machen wird.