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Entscheidungen von 2021

Baurechtliche Vereinbarkeit des Haltens von Hühnern in einem Wohngebiet? (OVG Münster, Beschl. v. 21.06.2021 - 2 B 501/21)

Baurechtliche Vereinbarkeit des Haltens von Hühnern in einem Wohngebiet? (OVG Münster, Beschl. v. 21.06.2021 - 2 B 501/21)

23. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A möchte auf seinem Grundstück im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans Hühner halten. Er beantragt eine Baugenehmigung für die Errichtung eines Unterstandes für neun Freilandhühner und einen Hahn. Die zuständige Bauordnungsbehörde erteilt die Genehmigung.

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Einordnung des Falls

Baurechtliche Vereinbarkeit des Haltens von Hühnern in einem Wohngebiet? (OVG Münster, Beschl. v. 21.06.2021 - 2 B 501/21)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Nachbar N tobt und möchte die Baugenehmigung gerichtlich angreifen. Ist für Ns Begehren die Erhebung allein einer Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) zweckmäßig?

Nein!

Der statthafte Rechtsbehelf richtet sich nach dem Begehren des Klägers (vgl. § 88 VwGO). Dabei ist die Anfechtungsklage statthaft, wenn der Kläger die gerichtliche Aufhebung eines ihn belastenden Verwaltungsakts begehrt (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO). Bei der Baugenehmigung handelt es sich um einen Verwaltungsakt (i.S.v. § 35 S. 1 VwVfG) mit Doppelwirkung, der A begünstigt und N belastet. Daher ist an sich die Anfechtungsklage statthaft. Im Fall der Nachbarklage besteht aber die Besonderheit, dass dieser gemäß § 212a Abs. 1 BauGB – entgegen § 80 Abs. 1 VwGO – keine aufschiebende Wirkung zukommt. Somit ist N allein mit Erhebung der Anfechtungsklage nicht geholfen. Denn dann könnte A trotzdem mit seinem Bauvorhaben beginnen und dadurch vollendete Zustände schaffen, die auch im Falle des Erfolgs von Ns Anfechtungsklage nicht mehr so einfach zu beseitigen wären. Deswegen muss N hier im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes vorgehen. Neben der Anfechtungsklage muss N einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§§ 80a Abs. 1 Nr. 2, 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO) erheben. Konstellationen der Drittanfechtung kombiniert mit vorläufigem Rechtsschutz nach §§ 80a, 80 Abs. 5 VwGO sind bei den Prüfungsämtern sehr beliebt, weil sie eine gesteigerte tatsächliche und prozessuale Komplexität in die Klausur bringen. Keine Sorge: Das kannst Du bewältigen!
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2. Der Antrag nach §§ 80a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, 80 Abs. 5 VwGO ist begründet, wenn das Suspensivinteresse des N das öffentlichen Interesse bzw. das Interesse des A an der sofortigen Vollziehung überwiegt.

Genau, so ist das!

Maßstab der gebotenen Interessenabwägung sind grundsätzlich die Erfolgsaussichten der Hauptsache. Während an der Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts kein überwiegendes öffentliches Interesse besteht, überwiegt das gesetzlich angeordnete (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1-3a VwGO) öffentliche Interesse an der Vollziehung, wenn der Verwaltungsakt nach summarischer Prüfung rechtmäßig ist. Im Rahmen der Erfolgsaussichten der Hauptsache ist somit hier zu prüfen, ob die Baugenehmigung gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungs- oder Bauordnungsrechts verstößt und N dadurch in seinen Rechten verletzt, denn nur diese werden im Rahmen der Nachbarklage geprüft. Achtung: In den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1-3a VwGO bedarf es – anders als in Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO – keines besonderen Vollzugsinteresses. Das Vollzugsinteresse folgt hier daraus, dass der Gesetzgeber in diesen Fällen keine aufschiebende Wirkung vorgesehen hat. Beachte: Der Bauherr – hier A – , dessen Baugenehmigung der Nachbar angreift – hier N – , ist gemäß § 65 Abs. 2 VwGO – aus rechtsstaatlichen Gründen auch im Verfahren des Eilrechtsschutzes – notwendig beizuladen.

3. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist begründet, wenn die Baugenehmigung nach summarischer Prüfung rechtswidrig ist und N in seinen Rechten verletzt. Kommt als verletztes nachbarschützendes Recht hier der Gebietserhaltungsgrundsatz in Betracht?

Ja, in der Tat!

Drittschützend bzw. nachbarschützend sind solche Normen, die nicht nur dem Interesse der Allgemeinheit, sondern auch dem Schutz individueller Interessen bestimmter Dritter dienen (Schutznormtheorie). Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung dienen in der Regel auch dem Schutz des Nachbarn innerhalb des Plangebiets. Der Gebietsnachbar hat somit das Recht, sich gegen jede artfremde Bebauung innerhalb des von ihm bewohnten Baugebiets zu wehren, unabhängig davon, ob sie ihn tatsächlich beeinträchtigt. Dieser Gebietserhaltungsanspruch findet seine Grundlage im „planungsrechtlichen Austauschverhältnis“ und dem Gedanken der „Schicksalsgemeinschaft“. Der Gebietserhaltungsanspruch stellt somit ein nachbarschützendes Recht dar, auf das sich N berufen kann und an dem die Baugenehmigung des A zu messen ist.

4. Die Grundstücke von A und N befinden sich in einem durch den Bebauungsplan festgesetzten reinen Wohngebiet. Ist dort die Kleintierhaltung generell unzulässig?

Nein!

Durch die Festsetzung der in § 1 Abs. 2 BauNVO genannten Baugebiete in einem Bebauungsplan, werden die diesbezüglichen Vorschriften der §§ 2 ff. BauNVO Bestandteil des Bebauungsplans (§ 1 Abs. 3 S. 2 BauNVO), sodass sich die Zulässigkeit eines Vorhabens insbesondere nach der BauNVO richtet. Zulässig sind dort zunächst die in § 3 Abs. 2 BauNVO genannten Vorhaben. Ausnahmsweise zulässig sind die in § 3 Abs. 3 genannten Vorhaben. Ebenfalls zulässig sind untergeordnete Nebenanlagen i.S.d. § 14 BauNVO. Gemäß § 14 Abs. 1 S. 1 BauNVO sind in einem reinen Wohngebiet (§ 3 BauNVO) auch untergeordnete Nebenanlagen und Einrichtungen zulässig, die dem Nutzungszweck der in dem Baugebiet gelegenen Grundstücke oder des Baugebiets selbst dienen und die seiner Eigenart nicht widersprechen. Dazu gehören auch solche für die Kleintierhaltung (§ 14 Abs. 1 S. 2 BauNVO) (RdNr. 13ff.). § 14 Abs. 1 S. 2 BauNVO ermöglicht als Annex zum Wohnen eine Kleintierhaltung aber nur dann, wenn sie in dem betreffenden Baugebiet üblich und ungefährlich ist und typischerweise einer im Rahmen der Wohnnutzung liegenden Freizeitbetätigung dient (RdNr. 14).

5. Ob die Hühnerhaltung mit der Eigenart des betroffenen Wohngebiets – und folglich mit dem Gebietscharakter – vereinbar ist i.S.v. § 14 Abs. 1 S. 2 BauNVO, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls.

Genau, so ist das!

Dabei sind die jeweilige örtliche Situation wie Lage und Größe der Grundstücke im Baugebiet oder die Bebauungsdichte sowie Art, Zahl und Größe der Grundstücke zu berücksichtigen (RdNr. 18).

6. Die Grundstücke von A und N sind groß und von Feldern umgeben. Sie befinden sich in einer Randlage zum Außenbereich. Widerspricht die Haltung von Hühnern in einer solchen Umgebung der Eigenart des Gebiets?

Nein, das trifft nicht zu!

OVG: Zwar weißt ein reines Wohngebiet im Sinne von § 3 BauNVO grundsätzlich eine hohe Störempfindlichkeit auf. Die Randlage der beiden Grundstücke zum Außenbereich beeinflusst jedoch die konkrete Eigenart des betroffenen Gebiets und damit die Frage der Zulässigkeit der dortigen Kleintierhaltung nach § 14 Abs. 1 S. 2 BauNVO. Angesichts Größe Lage und Zuschnitts der in Rede stehenden Grundstücke widerspricht die Freilandhaltung von Hühnern im konkreten Fall nicht der Eigenart des Gebiets (RdNr. 24). Zudem erachtet das OVG die konkreten Haltungsbedingungen für relevant: So ermöglicht die zur Verfügung stehende Fläche einen großzügigen Auslauf für jedes einzelne Huhn, so dass es bei sachgerechter Haltung vermieden werden kann, dass Kot und sonstige Verschmutzungen sich etwa auf engen Flächen geruchsintensiv und als Lockpunkte für Ungeziefer anhäufen (RdNr. 28). Die Entscheidung zeigt, wie wichtig es gerade in baurechtlichen Fällen ist, mit den Besonderheiten des Sachverhalts zu arbeiten und so zu sachgerechten, gut begründeten Ergebnissen zu kommen. In Deiner Klausur würdest Du deshalb viele Sachverhaltsdetails finden.

7. Die Hühner und insbesondere der Hahn machen Geräusche und können auch unangenehme Gerüche verbreiten. Steht dies der Gebietsverträglichkeit im konkreten Fall entgegen?

Nein!

OVG: Durch die zahlenmäßige Beschränkung der Genehmigung auf neun Hühner und einen Hahn seien keine im Wohngebiet unzumutbaren Geräuschbelastungen zu befürchten. Auch halten sich die Geruchsbeeinträchtigungen aufgrund der Größe des Grundstücks und angesichts artgerechter Haltung der Hühner in für den Nachbar zumutbaren Grenzen (RdNr. 29 f.). Damit verstößt die Haltung der Hühner in dem reinen Wohngebiet im konkreten Fall nicht gegen den Gebietserhaltungsanspruch. Auch eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme lehnt das OVG ab.

8. Hat Ns Antrag Aussicht auf Erfolg?

Nein, das ist nicht der Fall!

Ns Antrag nach §§ 80a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, 80 Abs. 5 VwGO ist begründet, wenn Ns Suspensivinteresse das öffentlichen Interesse bzw. das Interesse des A an der sofortigen Vollziehung überwiegt. Dies ist dann der Fall, wenn As Baugenehmigung nach summarische Prüfung wegen Verletzung nachbarschützender Normen rechtswidrig. Denn an der Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts besteht kein überwiegendes öffentliches Interesse. Die Baugenehmigung verstößt nicht gegen (nachbarschützendes) Bauplanungs- oder Bauordnungsrecht und ist damit – nach summarischer Prüfung – rechtmäßig. Damit überwiegt As Interesse an ihrer sofortigen Vollziehung. Ns Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist unbegründet und hat keine Aussicht auf Erfolg. Beachte, dass in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung gesetzlich gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1-3a VwGO angeordnet ist (vorliegend § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a BauGB), keine weitere Interessenabwägung erforderlich ist, wenn der Verwaltungsakt sich bei summarischer Prüfung als rechtmäßig erweist.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

GI

GingerCharme

25.2.2024, 13:21:45

Ich dachte erst, wow, mutig Hühner im Wohngebiet halten zu wollen. Als dann das Wohngebiet konkret umschrieben wurde, dachte ich wow, mutig, dafür bis vor das OVG zu gehen ...

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

26.2.2024, 11:24:21

Hahahaha ja @[GingerCharme](118525), so entscheidend können die Details des Einzelfalls sein :) Deshalb haben wir den Fall auch so aufbereitet, dass er Euch die juristischen Argumente an die Hand liefert, warum in diesem Fall die Gebietsverträglichkeit der Hühnerhaltung gegeben ist. Damit könnt ihr zugleich einen Fall lösen, der an entscheidender Stelle rechtlich anders gelagert ist. Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team


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