Öffentliches Recht

Staatsorganisations-Recht

Wahlen und Wahlrechtsgrundsätze

Veröffentlichung erster Wahlprognosen bei noch laufender Wahl (BerlVerfGH, 16.11.2022)

Veröffentlichung erster Wahlprognosen bei noch laufender Wahl (BerlVerfGH, 16.11.2022)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

In Berlin wird das Landesparlament, das Abgeordnetenhaus, gewählt. Die Wahllokale sind teilweise völlig unterbesetzt. Als um 18 Uhr die ersten Prognosen zu den Wahlergebnissen veröffentlicht werden, wird in einigen Lokalen noch gewählt.

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Einordnung des Falls

Veröffentlichung erster Wahlprognosen bei noch laufender Wahl (BerlVerfGH, 16.11.2022)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG gelten direkt auch für Wahlen zu Landesparlamenten.

Nein!

Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG gilt nur für Wahlen der Abgeordneten des Bundestags. Das Grundgesetz sieht jedoch in Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG vor, dass auch die Wahlen der Landesparlamente (in den Flächenstaaten „Landtag“ genannt) den Anforderungen der Wahlrechtsgrundsätze entsprechen. Die Wahlrechtsgrundsätze finden sich deswegen entsprechend des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG in den Landesverfassungen (vgl. z.B. Art. 8 Abs. 1 Nds. Verf.). Teilweise findet sich dort auch nur der Begriff der Wahl, welcher einfachgesetzlich konkretisiert wird (vgl. z.B. Art. 2 S. 2 VvB i.V.m. § 7 Abs. 1 BlnLWG). Die Geltung der Wahlrechtsgrundsätze in Berlin ergibt sich aus Art. 2 VvB, Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG, § 7 BlnLWG. Alles, was Du zu den Wahlrechtsgrundsätzen aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG weißt, kannst Du wegen der Vorgabe aus Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG grundsätzlich auf die Prüfung der entsprechenden landesrechtlichen Regeln übertragen.
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2. Die Veröffentlichung der Wahlprognosen bei noch laufender Wahl könnte gegen die Freiheit der Wahl verstoßen (Art. 2 VvB, Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG, § 7 BlnLWG).

Genau, so ist das!

Das Recht auf Freiheit der Wahl folgt aus dem Begriff der „Wahl“ in Art. 2 S. 2 VvB und findet seine einfachgesetzliche Konkretisierung in § 7 Abs. 1 BlnLWG. Alle Wählenden sollen ihr Wahlrecht ohne Zwang oder sonstige unzulässige Beeinflussung von außen ausüben können. Sie sollen ihr Urteil in einem freien, offenen Prozess der Meinungsbildung gewinnen können. Sowohl staatlicher als auch privater Wahlbeeinflussung sind verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt. Die Entschließungsfreiheit derjenigen, die um 18 Uhr noch nicht gewählt hatten, könnte dadurch beeinträchtigt worden sein, dass zu diesem Zeitpunkt bereits erste Wahlprognosen veröffentlicht wurden.

3. Eine Beeinträchtigung der Wahlentscheidung liegt bereits in solchen Maßnahmen, die objektiv tauglich sind, die Wählenden zu beeinflussen.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Freiheit der Wahl wird nach Rspr. des BVerfG durch solche Maßnahmen beeinträchtigt, die (1)objektiv tauglich und (2) konkret wirksam sind, die Wählenden zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen, und die (3) geeignet sind, ihre Entscheidungsfreiheit trotz bestehenden Wahlgeheimnisses ernstlich zu beeinträchtigen. Die Freiheit der Wahl ist jedenfalls dann verletzt, wenn private Dritte mit Mitteln des Zwangs oder Drucks die Wahlentscheidung beeinflusst haben oder wenn in ähnlich schwerwiegender Art und Weise auf die Wählerwillensbildung eingewirkt worden ist, ohne dass eine hinreichende Möglichkeit der Abwehr bestanden hätte (siehe z.B. BVerfGE 103, 111).

4. § 29 BlnLWG regelt, dass Ergebnisse nach Schließung aller Wahllokale veröffentlicht werden dürfen. Die Norm dient der Freiheit der Wahl.

Ja!

Alle Wählenden sollen ihr Wahlrecht ohne Zwang oder sonstige unzulässige Beeinflussung von außen ausüben können (Art. 2 VvB, Art. 28 Abs. 1 S. 2, § 7 BlnLWG). Das Berliner Landeswahlrecht schützt diesen verfassungsrechtlichen Grundsatz unter anderem mit § 29 BlnLWG und den §§ 45 Abs. 2 S. 1, 46 BlnLWO. Nach dem für die Wahl nach 18 Uhr relevanten § 29 BlnLWG dürfen Ergebnisse von Wahlbefragungen, die am Wahltag vorgenommen werden, frühestens nach Schließung aller Wahllokale bekanntgegeben werden. § 29 BlnLWG ist der bundesrechtlichen Regelung des § 32 Abs. 2 BWahlG nachempfunden. § 32 Abs. 2 BWahlG soll nach Willen des Gesetzgebers gerade bezwecken, Wahlbeeinflussung durch die Verbreitung von Nachwahlbefragungsergebnissen durch Presseorgane oder sonstige Dritte am Wahltag zu verhindern (BT-Drs. 8/2306, 3).

5. Es wurden nur Wahlprognosen, keine Wahlergebnisse „zu früh“ veröffentlicht. Ist die Freiheit der Wahl deswegen automatisch gewährleistet?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Freiheit der Wahl wird nach Rspr. des BVerfG durch solche Maßnahmen beeinträchtigt, die (1) objektiv tauglich und (2) konkret wirksam sind, die Wählenden zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen, und die (3) geeignet sind, ihre Entscheidungsfreiheit trotz bestehenden Wahlgeheimnisses ernstlich zu beeinträchtigen. Ob bereits bei der Veröffentlichung von ersten Prognosen zu den Wahlergebnissen eine Beeinträchtigung der Freiheit der Wahl vorliegt, muss nach den Umständen des Einzelfalls bewertet werden. Im konkreten Fall der Berliner Wahl, war die Veröffentlichung der Prognosen nach Ansicht des VerfGH Bln bereits geeignet, die Wählenden in ihrer Entscheidungsfreiheit ernstlich zu beeinträchtigen. So war für die Wählenden z.B. ein klares „Kopf-an-Kopf-Rennen“ zwischen zwei Spitzenkandidaten erkennbar. Eine Klausur müsste natürlich die entsprechenden Sachverhaltsinformationen enthalten, um den Einzelfall bewerten zu können.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

TO

TomBombadil

1.5.2024, 15:59:15

Hallo zusammen, zunächst möchte ich mich ganz herzlich für die neuen Aufgaben bedanken. :) Bei dieser Aufgabe stehe ich indes noch ein bisschen auf dem Schlauch, was die Voraussetzungen (2) und (3) voneinander unterscheidet: Bedeutet die konkrete Wirksamkeit nicht automatisch einen tatsächlichen Einfluss auf die Entscheidungsfreiheit? Vielleicht wäre es möglich, mir dies zu erklären oder noch genauer darzustellen. :)

VALA

Vanilla Latte

18.5.2024, 04:15:00

Hinsichtlich NRW: Nehme ich die Wahlrechtsgrundsätze für 1) Landtagswahlen aus 28 GG iVm 31 LVerf NRW 2) Kommunalwahlen aus 28 GG iVm 78 LVerfG NRW? Und gibt es eine entsprechende Norm wegen des Verbots der Bekanntgabe der Ergebnisse vor Wahlschluss für NRW? Mir ist da nur 25 III LWahlG NRW aufgefallen.


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