Öffentliches Recht

Staatsorganisations-Recht

Die Bundesregierung

Ressortprinzip vs. Richtlinienkompetenz (Art. 65 GG)

Ressortprinzip vs. Richtlinienkompetenz (Art. 65 GG)

9. Juni 2025

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Bundesminister des Innern D erteilt eine Weisung, wonach die Bundespolizei B Asylsuchenden an der deutschen Grenze unter bestimmten Voraussetzungen zurückweisen soll. Kanzler K möchte Vorgaben machen, wie B dies konkret organisieren soll. D will sich von K nicht „reinreden“ lassen.

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Einordnung des Falls

Ressortprinzip vs. Richtlinienkompetenz (Art. 65 GG)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die politische Führung (Regierung) übernimmt der Bundeskanzler ganz allein.

Nein, das trifft nicht zu!

Die politische Führung übt die Bundesregierung als Teil der Exekutive aus. Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und aus den Bundesministerien (Art. 62 GG). Die wichtigsten Kompetenzen des Bundeskanzlers sind die Richtlinienkompetenz (Art. 65 S. 1 GG), die Organisationsgewalt (vgl. Art. 64 Abs. 1 GG, §§ 18 f. GO-BReg) sowie die Geschäftsleitungsbefugnis (Art. 65 S. 4 GG). Die Bundesministerien werden durch die Bundesministerinnen und Bundesminister geleitet. Diese leiten die Bundesministerien nach Art. 65 S. 2 GG innerhalb der durch den Bundeskanzler gesetzten Richtlinien „selbstständig und unter eigener Verantwortung“ (sog. Ressortprinzip).
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2. D ist nach Art. 65 S. 2 GG grundsätzlich weisungsbefugt gegenüber Behörden, die dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat unterstehen. Ist dies für die Bundespolizei der Fall (siehe § 1 Abs. 1 S. 2 BPolG)?

Ja!

Nach dem Ressortprinzip leitet ein Bundesminister seinen Geschäftsbereich innerhalb der vom Bundeskanzler gegebenen Richtlinien „selbstständig und unter eigener Verantwortung“ (Art. 65 S. 2 GG). Mit „Geschäftsbereich“ (oder Ressort) ist das Bundesministerium gemeint, dessen Zuständigkeiten der Bundeskanzler durch Organisationserlass festlegt. Die „selbstständige“ Leitung des Geschäftsbereichs führt der Bundesminister durch eigene Weisungen aus.Die Bundespolizei ist nach § 2 Abs. 1 S. 2 BPolG organisatorisch ein Teil der Bundesverwaltung und untersteht direkt dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI). D ist damit gegenüber B weisungsbefugt. Das BMI übt hier nicht bloß die Fach- und/oder Rechtsaufsicht über eine eigenständige, nachgeordnete Behörde aus, sondern führt die Dienst- und Fachaufsicht mit direkter Weisungsbefugnis gegenüber der Bundespolizei.

3. Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers umfasst politische Grundlinien, Leitlinien und allgemeine Ziele. Darf D Weisungen erteilen, die mit diesen Richtlinien unvereinbar sind?

Nein, das ist nicht der Fall!

Einziger Adressat der Kanzlerrichtlinien sind die Bundesminister. Die Weisungen der Bundesminister nach Art. 65 S. 2 GG müssen im Einklang mit den durch den Bundeskanzler nach Art. 65 S. 1 GG festgelegten Richtlinien stehen. Grundlegende politische Entscheidungen gehören (formell) in den Kompetenzbereich des Kanzlers. In der Vergangenheit wurden daher die „Westintegration“, die „Ostpolitik“, die „deutsche Vereinigung“, der „Ausbau der Europäischen Union“ und die „Migrationsfrage“ zum Gegenstand von Richtlinien gemacht. Es stellt sich hierbei die Frage, ob Richtlinien notwendig einen allgemeinen Inhalt haben müssen oder ob der Bundeskanzler auch konkrete Weisungen erteilen kann. D dürfte keine Weisungen erteilen, die nicht im Einklang mit einer Richtlinie des K stehen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob K im Rahmen seiner Befugnisse aus Art. 65 S. 1 GG konkrete Weisungen erteilen kann. Hier gibt es keine festen Grenzen. Das liegt daran, dass die Richtlinie eines Kanzlers primär politischer Natur ist und damit die Durchsetzung der Richtlinienkompetenz weniger eine rechtliche als eine Machtfrage ist.

4. Wenn K nur ganz allgemeine Richtlinien bestimmen dürfte, dürfte er D keine konkreten Vorgaben zur Organisation der Grenzkontrollen durch B machen.

Ja, in der Tat!

Man kann diskutieren, wie weit die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers aus Art. 65 S. 1 GG reicht. Konkret: Müssen Richtlinien notwendig einen allgemeinen Inhalt haben oder kann der Bundeskanzler auch konkrete Weisungen erteilen? Angesicht der politischen Folgen, die einzelne Entscheidungen der Ministerinnen und Minister mit sich ziehen können, wäre es widersinnig, wenn der Bundeskanzler (insbesondere in Krisensituationen) auf „allgemeine“ Vorgaben beschränkt wäre. Daher ist es heute anerkannt, dass „Richtlinien der Politik“ auch Entscheidungen in hochpolitischen Einzelfällen sein können, die für den Bestand der Regierung von Bedeutung sind. Diese setzen die Minister jedoch eigenverantwortlich um, der Bundeskanzler hat kein unmittelbares Zugriffsrecht auf die einzelnen Beamtinnen und Beamten in den Ministerien (vgl. § 1 Abs. 1 S. 2 GO-BReg). K kann im Rahmen seiner Richtlinienkompetenz (Art. 65 S. 1 GG) grundsätzlich auch konkrete Weisungen erteilen, die D bei der Leitung seines Ressorts berücksichtigen muss.Die „Uneinigkeit“ zwischen K und D bezüglich der Zurückweisung an den Grenzen soll hier das Zusammenspiel zwischen der Richtlinienkompetenz und dem Ressortprinzip aufzeigen. In der aktuellen Regierung dürften sich die beteiligten Akteure in diesem politischen Vorhaben allerdings sehr einig sein. Dieses ist aus verfassungs- und europarechtlicher Sicht hoch problematisch. Am 02.06.2025 ergingen mehrere Beschlüsse des VG Berlin im Eilverfahren. Die Entscheidungsgründe legen nahe, dass die aktuellen Zurückweisungen von Asylsuchenden per se gegen Europarecht verstoßen. Die Entscheidung werden wir zeitnah für euch aufbereiten.
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