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Staatsorganisationsrecht

BVerfG zur Wahlrechtsreform der Ampel-Regierung (BVerfG, Urt. v. 30.07.2024 – 2 BvF 1/23 (u.a.))

BVerfG zur Wahlrechtsreform der Ampel-Regierung (BVerfG, Urt. v. 30.07.2024 – 2 BvF 1/23 (u.a.))

22. Februar 2025

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Um der zunehmenden Vergrößerung des Bundestags entgegenzuwirken, beschließt dieser eine Änderung des Bundeswahlgesetzes (BWahlG): Ein Wahlkreissieger (Erststimme) erhält nur dann ein Mandat, wenn die Landesliste seiner Partei genug Zweitstimmen hat, um alle Wahlkreisbewerber mit gleichem oder besserem Erststimmenanteil zu berücksichtigen.

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Einordnung des Falls

BVerfG zur Wahlrechtsreform der Ampel-Regierung (BVerfG, Urt. v. 30.07.2024 – 2 BvF 1/23 (u.a.))

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 20 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. 195 Abgeordnete der CSU/CDU-Fraktion sowie eine bayerische Landesregierung halten die Gesetzesänderung für verfassungswidrig und ziehen vor das BVerfG. Ist die abstrakte Normenkontrolle statthaft?

Ja, in der Tat!

Die abstrakte Normenkontrolle (Art. 94 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG) ist statthaft, wenn der Antragsteller Zweifel an der Vereinbarkeit von Bundes- oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder von Landesrecht mit Bundesrecht hat.. Hier halten die Antragsteller - die Landesregierung des Freistaats Bayern und die 195 Abgeordneten - die Gesetzesänderung für verfassungswidrig, d.h. für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle ist somit statthaft. Zudem haben verschiedene Parteien und Fraktionen Organklage gegen den Bundestag erhoben und es wurden verschiedene Verfassungsbeschwerden eingelegt, die die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes rügen. Die Reform des Wahlrechts aus dem Jahr 2023 enthielt eine Vielzahl an Änderungen des BWahlG. Näheres dazu kannst Du Dir hier in unserem Kurs zum Staatsorganisationsrecht anschauen.
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2. Die Zulässigkeit der abstrakten Normenkontrolle scheitert an der fehlenden Antragsberechtigung der Landesregierung von Bayern (Art. 94 Abs. 1 Nr. 2 GG).

Nein!

Antragsberechtigt im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle sind die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages (Art. 94 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG). Die bayerische Landesregierung ist somit antragsberechtigt, ebenso wie die 195 Abgeordneten, die zusammen über ein Viertel der Mitglieder des Bundestags (184 von 736 Abgeordneten) ausmachen. Das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle ist ein objektives Beanstandungsverfahren, sodass es keinen Antragsgegner gibt, dessen Antragsberechtigung Du prüfen musst. Insgesamt gab es in der Zulässigkeit keine Probleme. Die abstrakte Normenkontrolle ist somit zulässig. Den Prüfungsaufbau der Zulässigkeit kannst Du hier wiederholen.

3. Die abstrakte Normenkontrolle ist begründet, wenn die angegriffenen Bestimmungen formell oder materiell mit dem Grundgesetz unvereinbar sind.

Genau, so ist das!

Das BVerfG prüft im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle die förmliche und sachliche Vereinbarkeit des angegriffenen Gesetzes mit dem Grundgesetz. Somit ist die abstrakte Normenkontrolle begründet, wenn das angegriffene Gesetz formell oder materiell verfassungswidrig ist. Im Gegensatz zum Organstreitverfahren, in dem das BVerfG nur die Verletzung von - aus der Verfassung ableitbaren - spezifischen Organrechten prüft, prüft es im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Bestimmung umfassend. Diese Unterscheidung hatte auch Einfluss auf den Erfolg der verschiedenen beim BVerfG eingelegten Anträge, über die das Gericht in dem vorliegenden Urteil zusammen entschieden hat. Ist ein Landesgesetz Angriffsgegenstand, dann prüft das BVerfG dessen Vereinbarkeit auch mit dem gesamten Bundesrecht. Prüfungsmaßstab im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle ist also immer höherrangiges Recht.

4. Die angegriffenen Bestimmungen sind bereits formell verfassungswidrig, weil dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für das BWahlG fehlt.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Länder haben das Recht der Gesetzgebung, soweit das Grundgesetz nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse verleiht (Art. 70 Abs. 1 GG). Art. 38 GG, der die Wahlrechtsgrundsätze festschreibt, legt fest, dass das Nähere ein Bundesgesetz bestimmt (Art. 38 Abs. 3 GG). Somit hat der Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für das Wahlverfahren für die Wahl zum Bundestag. Neben der Gesetzgebungskompetenz musst Du im Rahmen der Prüfung der formellen Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes auch das Gesetzgebungsverfahren ansprechen. An der formellen Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes bestanden im Ergebnis keine Zweifel, sodass der Schwerpunkt der Prüfung des BVerfG bei der materiellen Verfassungsmäßigkeit lag. Wie Du die Gesetzgebungskompetenzen und das Verfahren prüfst, kannst Du Dir hier und hier in unserem Kurs zum Staatsorganisationsrecht anschauen.

5. Ist die abstrakte Normenkontrolle schon deswegen unbegründet, weil das Grundgesetz keinerlei Regelungen zu Wahlen enthält?

Nein!

Im Rahmen der Begründetheit solltest Du Dir immer klar machen, gegen welche konkrete Norm des GG das angegriffene Gesetz verstoßen könnte. Dies solltest Du in einem Obersatz deutlich machen und nicht – wie das BVerfG es gerne tut (vgl. RdNr. 137 BVerfG) – mit allgemeinen Ausführungen in die Prüfung einsteigen. Die angegriffene Gesetzesänderung könnte mit Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG unvereinbar sein. Zwar gibt das Grundgesetz kein bestimmtes Wahlsystem vor, sondern überlässt die konkrete Ausgestaltung dem einfachen Gesetzgeber (Art. 38 Abs. 3 GG). Der Gesetzgeber hat damit grundsätzlich einen Gestaltungsspielraum. Dieser wird allerdings durch die Vorgaben der Verfassung, insbesondere den Wahlrechtsgrundsätzen aus Art. 38 Abs. 1 GG begrenzt. (RdNr. 138) Nur unter engen Voraussetzungen kann sich die von Art. 38 Abs. 3 GG gewollte Entwicklungsoffenheit des Wahlrechts zu einer bestimmten Handlungspflicht verdichten (RdNr. 141 ff.). Falls Du das erste Mal etwas von Art. 38 Abs. 1 GG hörst, empfehlen wir Dir unseren Kurs zum Staatsorganisationsrecht.

6. Das BWahlG muss den Anforderungen aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG genügen. Ist es mit Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG unvereinbar, wenn der Gesetzgeber ein einmal festgelegtes Wahlsystem später ändert?

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Gesetzgeber ist bei der Entscheidung für ein Wahlsystem und seiner Ausgestaltung grundsätzlich frei. Auch ist sein Entschluss, das Wahlrecht zu reformieren nicht an besondere Voraussetzungen geknüpft (RdNr. 138, 169). Dem Gesetzgeber ist es deswegen nicht verwehrt, bei der Erfüllung des Verfassungsauftrags des Art. 38 Abs. 3 GG Neuerungen einzuführen, die dem bisherigen Wahlrecht fremd sind und Wählern und Bewerberinnen ein Umdenken abverlangen (RdNr. 169 ff.). Unterschieden wird zwischen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht. Das vorherige Wahlrecht war ein sog. personalisiertes Verhältniswahlrecht, ein Mischsystem, das Komponenten beider Systeme verknüpfte. Auch das neue Wahlrecht kombiniert beide Komponenten, allerdings mit stärkerem Fokus auf der Verhältniswahl (§ 1 Abs. 2 BWahlG; RdNr. 210).Auch der geltend gemachten Kritik, dass die Neuregelung einen Systembruch darstelle, an Widersprüchlichkeit leide und an mangelnder Folgerichtigkeit, vermochte das BVerfG nicht zu folgen (RdNr. 170 ff.).

7. Das Gesetz könnte gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) verstoßen. Gebietet dieser, dass alle Wahlberechtigten das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können?

Ja, in der Tat!

Aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG)  folgt, dass die Stimme jedes Wahlberechtigten den gleichen Zählwert  und die gleiche Erfolgschance haben muss. Im Verhältniswahlsystem tritt zudem das Gebot der Erfolgschancengleichheit hinzu, das besagt, dass alle Parteien in einem möglichst der Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis im Bundestag vertreten sind (RdNr. 147 ff.). Zählwertgleichheit meint, dass jede Wahlstimme gleich viel zählt („one man, one vote“). Der Grundsatz derErfolgswertgleichheit besagt, dass jede Wählerin mit ihrer Stimme den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben muss. Damit sichert der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) die von dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) vorausgesetzte Gleichheit aller Bürgerinnen. Wegen seines Zusammenhangs mit dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) ist er im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen (RdNr. 146). Die Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG kannst Du Dir im Einzelnen in unserem Staatsorganisations-Kurs anschauen.

8. Die im Sachverhalt beschriebene „Zweitstimmendeckelung“ greift nicht bei parteilosen Wahlkreissiegern. Behandelt das neue Gesetz die Wahlstimmen für Wahlkreisbewerber einer Partei im Vergleich dazu anders?

Ja!

Aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG)  folgt, dass die Stimme jedes Wahlberechtigten den gleichen Zählwert  und die gleiche Erfolgschance haben muss. Gemäß § 6 Abs. 1 BWahlG erhalten die von einer Partei aufgestellten Wahlbewerber, die die meisten Erststimmen in ihrem Wahlkreis erhalten, nur dann ein Bundestagsmandat, wenn sie im Verfahren der Zweitstimmendeckelung einen Sitz erhalten. Allein die Mehrzahl der Erststimmen zu erhalten, reicht für sie also nicht (mehr). Parteilose Bewerber erhalten dagegen (schon) ein Sitz im Bundestag, wenn sie die meisten Erststimmen in ihrem Wahlkreis erhalten (§ 6 Abs. 2 BWahlG). Die Stimmen, die für diese beiden Gruppen abgegeben werden, werden also ungleich behandelt (RdNr. 199 ff.).

9. Das Gesetz beeinträchtigt den Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Gilt dieser Grundsatz absolut, sodass eine Rechtfertigung von Anfang an ausscheidet?

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit unterliegt keinem absoluten Differenzierungsverbot. Aus seinem formalen Charakter folgt jedoch, dass an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen ein strenger Maßstab anzulegen ist. Ungleichbehandlungen können nur durch einen besonderen, sachlich legitimierenden Grund gerechtfertigt werden, der der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann (RdNr. 159 ff.). Differenzierungsgründe sind insbesondere die mit der Wahl verfolgten Ziele wie die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und die Sicherung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments (RdNr. 161). Die Rechtfertigungsprüfung eines Eingriffs in die Wahlrechtsgleichheit ähnelt also der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei den Grundrechten. Die Ungleichbehandlung muss einem besonderen, sachlich legitimierenden Grund – Zweck – dienen und zu seiner Erreichung geeignet und erforderlich sein. Die Angemessenheit hat das BVerfG hier nicht geprüft.

10. Die Ungleichbehandlung von parteilosen und parteiangehörigen Wahlbewerbern durch § 6 BWahlG ist gerechtfertigt, wenn sie irgendeinem sachlichen Grund dient.

Nein, das trifft nicht zu!

Eingriffe in die Wahlrechtsgleichheit können gerechtfertigt sein, wenn sie einem besonderen, sachlich legitimen Grund dienen, der der Wahlrechtgleichheit die Waage halten kann (RdNr. 159 f.). Die für unabhängige Bewerber vorgesehene Ausnahme vom Erfordernis der Zweitstimmendeckelung dient der Verwirklichung des Wahlvorschlagsrecht aller Wahlberechtigten, unabhängig von politischen Parteien (= Kernstück des Bürgerrechts auf aktive Teilnahme an der Wahl). Dies ist ein sachlich legitimierter Grund für die „Besserstellung“ gegenüber parteigebundenen Bewerbern. Dieser Grund wiegt auch ähnlich schwer wie der Grundsatz der Wahlgleichheit. Unabhängige Bewerber gehören keiner Partei an, für die die Bürgerinnen Zweitstimmen abgegeben können. Wenn das Erfordernis der Zweitstimmendeckelung auch für sie gölte, könnten sie also in keinem Fall einen Bundestagssitz erhalten. Die für sie geltende Ausnahme vom Erfordernis der Zweitstimmendeckelung ist also konzeptionell notwendig, um eine Monopolisierung des Wahlvorschlagsrecht bei den politischen Parteien zu verhindern. Zudem ist die Ungleichbehandlung zur Zweckerreichung geeignet und erforderlich.

11. Durch das Verfahren der Zweitstimmendeckelung kann es dazu kommen, dass Wahlkreissieger (Erststimme) keinen Bundestagssitz erhalten. Beeinträchtigt dies die Zählwertgleichheit (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) der Stimmen, die für solche Bewerber abgegeben werden?

Nein!

Oft enthält ein Gesetz unterschiedliche Aspekte, die Du jeweils einzeln auf ihre Vereinbarkeit mit dem GG prüfen musst. Mache in Deinem Obersatz deutlich, welche konkrete Wirkung des Gesetzes Du prüfst. Aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG)  folgt, dass die Stimme jedes Wahlberechtigten den gleichen Zählwert  und die gleiche Erfolgschance haben muss. Jede abgegebene Erststimme wird bei der Auszählung gleichermaßen berücksichtigt (= Zählwertgleichheit). Zudem sind die Bedingungen der Zweitstimmendeckelung lediglich an das Wahlergebnis geknüpft. Die Erfolgschance ist für jede Wahlstimme zunächst gleich (ex ante Betrachtung). (RdNr. 207f.) Weiter führt das BVerfG aus: Das Gebot der Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) gibt nicht vor, dass alle Wahlkreisbewerber mit den meisten Stimmen in ihrem Wahlkreis ein Mandat erhalten müssen oder die Mandatszuteilung nicht an weitere Bedingungen geknüpft werden darf. Die Bedingungen der Zweitstimmendeckelung seien auch nicht willkürlich.

12. Sind die Regelungen des Verfahrens zur Zweitstimmendeckelung (§ 1 Abs. 3, § 6 Abs. 1 und Abs. 4 S. 1 und 2 BWahlG) verfassungsgemäß?

Genau, so ist das!

Die Bestimmungen zum Verfahren der Zweitstimmendeckelung sind sowohl formell als auch materiell verfassungsgemäß. Insbesondere verstoßen sie nicht gegen die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG). Sie sind somit insgesamt mit dem Grundgesetz vereinbar (RdNr. 124). Damit hat die abstrakte Normenkontrolle in dieser Hinsicht keinen Erfolg.

13. Das BVerfG hat das Verfahren der Zweitstimmendeckelung als verfassungsgemäß beurteilt. Könnte es verfassungswidrig sein, dass (weiterhin) Parteien bei der Sitzverteilung unberücksichtigt bleiben, die die „5%-Hürde“ (§ 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BWahlG) nicht erreichen?

Ja, in der Tat!

Nachdem Du festgestellt hast, dass die Regelung zur Zweitstimmendeckelung verfassungsgemäß sind, musst Du Dich im zweiten Schritt dem eigentlichen Knackpunkt des Urteils widmen: Der Verfassungsmäßigkeit der Sperrklausel. Nach § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BWahlG werden bei der Verteilung der Zweitstimmen diejenigen Stimmen nicht berücksichtigt, die für eine Partei abgegeben wurden, welche weniger als 5 % der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten hat. In einer früheren Entscheidung hat das BVerfG festgestellt, dass die 5 %-Hürde grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar ist (BVerfG, v. 19.09.2017 - 2 BvC 46/14). Für diese Beurteilung kommt es aber auf die Ausgestaltung des Wahlrechts insgesamt an. Der Wegfall der Grundmandatsklausel und die Einführung der Zweitstimmendeckelung könnten also dazu führen, dass die Sperrklausel nunmehr anders bewertet werden muss. Die wichtigsten Punkte der Entscheidung vom 19.09.2017 findest Du hier im Kurs zum Staatsorganisationsrecht.

14. Beeinträchtigt die Sperrklausel des § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BWahlG die Erfolgswertgleichheit der Stimmen?

Ja!

Der Grundsatz der Erfolgswertgleichheit besagt, dass jede Wählerin mit ihrer Stimme den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben muss. Nach der st.Rspr. des BVerfG (vgl. BVerfGE 1, 208, 247ff.; 5, 77, 83; 120, 82, 105 f.) führt eine Sperrklausel zu einer Ungleichbehandlung der Wahlstimmen. Zwar bleibt der Zählwert der Stimmen derselbe, jedoch gibt es verschiedene Erfolgswerte: Obwohl nach den Berechnungsregeln des Sitzzuteilungsverfahrens Parteien Mandate erhalten könnten, werden solche mit weniger als 5 Prozent der gültigen Wahlstimmen bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt. Wahlstimmen für diese Parteien haben keinen Erfolgswert (RdNr. 221). Es liegt aber keine Beeinträchtigung der Wahlgleichheit darin, dass der von § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BWahlG vorgesehene Ausschluss vom Sitzverteilungsverfahren vom (Erststimmen-)Erfolg der Wahlkreisbewerber der betroffenen Partei unabhängig stattfindet (RdNr.222 f.).

15. Könnte die Sicherung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments die durch die Sperrklausel bewirkte Ungleichheit grundsätzlich rechtfertigen?

Genau, so ist das!

Eingriffe in die Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG) bedürfen zu ihrer Rechtfertigung eines besonderen, legitimen Grundes. Erforderlich ist ein Gut von Verfassungsrang, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann. Die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments ist ein verfassungsrechtlicher Belang von höchstem Rang, der der Wahlgleichheit die Waage halten kann. Sie stellt somit einen legitimen Rechtfertigungsgrund dar (RdNr. 225). Die Zulässigkeit einer Sperrklausel bestimmt sich maßgeblich nach den zentralen Funktionen, die die Verfassungsordnung dem Bundestag zugewiesen hat. Hierzu gehören insbesondere: die Wahl und fortlaufende Unterstützung einer handlungsfähigen Regierung, was die Bildung einer stabilen Mehrheit voraussetzt, die Kontrolle der Exekutive und die Gesetzgebung (RdNr. 226 f.).

16. Ist eine Sperrklausel zunächst geeignet, um die Funktions- und Arbeitsfähigkeit des Parlaments zu sichern?

Ja, in der Tat!

BVerfG: „Mit einer Sperrklausel verhindert das Wahlrecht eine Zersplitterung des Parlaments in kleine Gruppen und sichert damit die Arbeits- und Funktionsbedingungen des Bundestages“. Dies schafft sie z.B. dadurch, dass sie Zusammenschlüsse von Abgeordneten mit gleichgerichteten politischen Zielen im Bundestag grundsätzlich eine bestimmte Mindestgröße haben (RdNr. 233 ff.). Hierbei kommt es auch nicht darauf an, ob durch die Sperrklausel Parteien ausgegrenzt werden, die inhaltlich an Partikularinteressen ausgerichtet sind oder zur Kompromissfindung und Koalitionsbildung kaum bereit sind (RdNr. 228). Hierauf hatte das BVerfG noch in seiner Entscheidung zur Zulässigkeit der bundesweiten Sperrklauseln im WahlG 1993 abgestellt. Was das BVerfG hier letztlich macht, ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung wie bei den Grundrechten. Die Einschränkung eines Verfassungsguts kann nur durch ein anderes gerechtfertigt sein. Zudem muss die Einschränkung zur Förderung dieses gleichwertigen Verfassungsguts geeignet, erforderlich und angemessen sein.

17. Zunächst könnte die konkrete Höhe der Sperrklausel nicht erforderlich und damit verfassungswidrig sein. Hat der Gesetzgeber bei der Höhe der Sperrklausel grundsätzlich einen Einschätzungsspielraum?

Ja!

Die angemessene Höhe einer Sperrklausel lässt sich nicht eindeutig nach generalisierbaren sachlichen Kriterien bestimmen. Der deswegen für den Gesetzgeber grundsätzlich bestehende Einschätzungsspielraum ist aufgrund der Bedeutung des Wahlrechts aber eng bemessen (RdNr. 241). Das BVerfG erachtet eine Sperrklausel in Höhe von 5 Prozent der gültigen Zweitstimmen weiterhin – auch unter den geänderten tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse grds. für gerechtfertigt (RdNr. 241 ff.). Eine andere verfassungsrechtliche Beurteilung könne aber dann geboten sein, wenn der sperrklauselbedingte Ausfall an Stimmen einen Umfang erreichte, der die Integrationsfunktion der Wahl beeinträchtigen würde. Eine solche Entwicklung sei aber bisher nicht feststellbar (RdNr. 48).

18. Könnte es ein milderes Mittel sein, wenn von der Sperrklausel Parteien ausgenommen würden, die in einem Zusammenschluss mit einer anderen Partei 5 % der gültigen Stimmen erreichen?

Genau, so ist das!

Der Ausschluss von Parteien, die innerhalb eines Zusammenschlusses 5 % der bundesweiten gültigen Stimmen erhalten, ist nur gerechtfertigt, wenn dies erforderlich ist, um die Arbeits- und Funktionsweise des Bundestags zu sichern. Das Ziel der Sperrklausel wird in gleicher Weise erreicht, wenn bei dem Erfordernis des § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BWahlG die Zweitstimmenergebnisse von Parteien, die eng kooperieren, gemeinsam berücksichtigt werden (RdNr. 249). Eine enge Kooperation in diesem Sinne hat drei Voraussetzungen: (1) die Absicht  beider Parteien, aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele eine Fraktion zu bilden, (2) dass bisher bereits eine solche gemeinsame Fraktion im Bundestag bestand, und (3) der Verzicht auf Wettbewerb untereinander, indem Landeslisten nur in unterschiedlichen Ländern eingereicht werden (RdNr. 258). Grund dafür ist, dass eine solche Kooperation die Rahmenbedingungen der parlamentarischen Arbeit, auf deren Sicherung die Sperrklausel abzielt, nicht beeinträchtigt. Denn ihr Ziel ist eine Fraktionsgemeinschaft, die unmittelbar die Tätigkeit im Bundestag selbst und dabei sämtliche Parlamentsfunktionen erfasst (RdNr. 260). Die damit einhergehende Ungleichbehandlung gegenüber solcher Parteien, die nicht Teil eines Zusammenschlusses sind, wäre nach Ansicht des BVerfG gerechtfertigt (RdNr. 265 ff.).

19. Ist § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BWahlG verfassungsgemäß?

Nein, das trifft nicht zu!

Die in § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BWahlG vorgesehene Sperrklausel ist unter den geltenden rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen nicht in vollem Umfang erforderlich, um die Funktionsbedingungen des Bundestages zu sichern. Der Gesetzgeber muss daher ein milderes Mittel wählen. Dabei ist er innerhalb der Grenzen, die ihm mit dem 5%-Quorum gezogen sind, grundsätzlich frei. Er kann auch ganz auf eine Sperrklausel verzichten, ihre Höhe herabsetzen oder andere geeignete Möglichkeiten ergreifen (RdNr. 273 ff.). Er hat z.B. die Möglichkeit, eine Regelung einzuführen, nach der die Überwindung einer alternativen Hürde (zur 5%-Hürde) den Zugang zum Sitzverteilungsverfahren ermöglicht – ähnlich der vorher geltenden Grundmandatsklausel, die der Gesetzgeber mit der Reform gestrichen hat. Nach dieser darf eine Partei, die zwar nicht 5% der Zweitstimmen, aber 3 Direktmandate erhält, ebenfalls in den Bundestag einziehen. Eine Regelung ähnlicher Art wäre auch nach den gegenwärtigen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen gerechtfertigt (RdNr. 278 ff.).

20. Hat der Normenkontrollantrag Erfolg?

Ja!

Die Sperrklausel des § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BWahlG ist in ihrer Fassung vom 14.06.2023 nicht in vollem Umfang erforderlich und verstößt daher gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit. In dieser Hinsicht hat der Normenkontrollantrag somit Erfolg. Wenn eine Norm mit dem Grundgesetz unvereinbar  ist, kann das BVerfG diese entweder für nichtig erklären  (sog. Nichtigkeitserklärung, § 78 S. 1, § 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG) oder stellt die Unvereinbarkeit der Norm mit dem Grundgesetz fest (§ vgl. § 31 Abs. 2, § 79 Abs. 1 BVerfGG). Hier sprach das BVerfG die Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz aus, weil dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, den festgestellten Verstoß  gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 21 Abs. 1 GG zu beseitigen. Auch die Verfassungsbeschwerden sind insoweit zulässig und begründet. Der Verstoß gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit ist gleichzeitig eine Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts der Beschwerdeführenden aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Die wichtigsten Punkte dieser Entscheidung findest Du in unserem [q15847 ]Kurs zum Staatsorganisationsrecht[/q].
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