KLASSIKER: BVerfG zu Fluglärm

21. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die B1 und B2 wohnen in der Nähe eines Flughafens. Sie meinen, die staatlichen Organe hätten ihre Grundrechte dadurch verletzt, dass sie es unterlassen haben, wirksame Maßnahmen zum Schutz gegen den Fluglärm zu treffen.

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Einordnung des Falls

KLASSIKER: BVerfG zu Fluglärm

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Beschwerdeführer meinen, die zuständigen Behörden hätten wirksame Lärmschutzmaßnahmen unterlassen und erheben unmittelbar Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG. Ist diese zulässig?

Ja, in der Tat!

Wer behauptet, durch die Auswirkungen des Fluglärms in seinen Grundrechten verletzt zu sein, muss grundsätzlich vor einer Inanspruchnahme des BVerfG den Rechtsweg beschreiten (RdNr. 63). Die Beschwerdeführer haben unmittelbar das BVerfG angerufen. Ihre Verfassungsbeschwerde ist, soweit ein Unterlassen der Exekutive gerügt wird, deswegen unzulässig (RdNr. 62ff.). Das Erfordernis der vorherigen Erschöpfung des Rechtswegs ist ein zentraler Prüfungspunkt der Zulässigkeit. Denn das BVerfG hat nicht die Aufgabe, die konkreten Umstände, wie hier das Ausmaß der Fluglärmbelastungen, aufzuklären und rechtlich zu bewerten. Das ist vielmehr die Aufgabe der Fachgerichte (RdNr. 64).
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2. Eine gegen ein gesetzgeberisches Unterlassen gerichtete Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass der Gesetzgeber trotz bestehender Handlungs- und Schutzpflichten gänzlich untätig geblieben ist.

Ja!

Um die Jahresfrist (§ 93 Abs. 3 BVerfGG) nicht zu unterlaufen, ist eine unbefristete, da auf die Verletzung von Freiheitsrechten durch gesetzgeberisches Unterlassen gestützte Verfassungsbeschwerde, nur unter engen Voraussetzungen zulässig. Sie setzt voraus, dass der Gesetzgeber trotz bestehender Handlungs- und Schutzpflichten, die auch in der Verpflichtung zur Nachbesserung bestehen können, gänzlich untätig geblieben ist. Ist der Gesetzgeber dagegen ablehnend tätig geworden, muss diese Regelung als solche bei gegenwärtiger und unmittelbarer Betroffenheit innerhalb der Jahresfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG oder ansonsten im Rahmen der Anfechtung eines Vollziehungsaktes angegriffen werden (RdNr. 67ff.). BVerfG: Die Verfassungsbeschwerden bezögen sich hier auf die Verletzung einer Pflicht zur Nachbesserung der Lärmschutzvorschriften. Die Zulässigkeit sei trotz Zulässigkeitsproblemen zu unterstellen, weil die Verfassungsbeschwerden jedenfalls nach § 24 BVerfGG zu verwerfen seien (RdNr. 69).

3. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) enthält die staatliche Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit zu stellen.

Genau, so ist das!

Das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) schützt die Bürger nicht nur als subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. Aus seinem objektiv-rechtlichen Gehalt folgt darüber hinaus die Pflicht der staatlichen Organe, sich schützend und fördernd vor die in Art. 2 Abs. 2 GG genannten Rechtsgüter zu stellen und sie insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen Seiten anderer zu schützen (RdNr. 72, st.Rspr.). Fraglich ist allerdings, ob sich die aus Art. 2 Abs. 2 GG folgende Schutzpflicht auf einen Schutz der körperlichen Unversehrtheit in biologisch-physiologischer Hinsicht beschränkt oder ob sie sich auch auf den geistig-seelischen Bereich, also das psychische und soziale Wohlbefinden, erstreckt (RdNr. 73).

4. Eine Auslegung von Art. 2 Abs. 2 GG im Lichte der Menschenwürde (Art. 1 GG) verbietet eine enge Auslegung dieses Grundrechts, die auf den Schutz vor körperlichen Verletzungen beschränkt ist.

Ja, in der Tat!

BVerfG: Eine enge Auslegung würde der Funktion des Grundrechts als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe etwa durch psychische Folterungen, seelische Quälereien und entsprechende Verhörmethoden nicht entsprechen. Da die Einfügung gerade dieses Grundrechts auf Erfahrungen im Dritten Reich beruhte, dürfe dieser Gesichtspunkt jedenfalls nicht gänzlich vernachlässigt werden. Damit erfasst Art. 2 Abs. 2 GG zumindest solche nicht körperlichen Einwirkungen, die ihrer Wirkung nach körperlichen Eingriffen gleichzusetzen sind (RdNr. 75). Die historische Auslegung spricht für ein enges Verständnis des Art. 2 Abs. 2 GG. Denn die WHO folgt einem weiten Gesundheitsbegriff, der auch das geistige und soziale Wohlbefinden erfasst. Obwohl dieser Begriff dem Parlamentarischen Rat bekannt war, hat er ihn nicht in die Verfassung übernommen, sondern stattdessen nur die "körperlich Unversehrtheit" grundrechtlich geschützt (RdNr. 75).

5. Folgt man einer Auslegung, die den Begriff der „körperlichen Unversehrtheit“ mit dem der Gesundheit gleichsetzt, wäre Fluglärm bereits wegen seiner psychischen und sozialen Auswirkungen zu bekämpfen.

Ja!

Fluglärm stört die Kommunikation im weitesten Sinne stört, setzt den Erholungswert des Zuhauses herab, mindert Konzentration und Aufmerksamkeit, verursacht Nervosität und löst Erschrecken, Verärgerung und Furchtassoziationen aus. Demnach beeinträchtigt Fluglärm das psychische und soziale Wohlbefinden und wäre demnach vom Begriff der Gesundheit nach der WHO erfasst (RdNr. 74). Nach dem BVerfG kann es letztlich dahinstehen, ob der Begriff der „körperlichen Unversehrtheit“ eng oder weit auszulegen ist, da Fluglärm jedenfalls in Gestalt von Schlafstörungen Auswirkungen auf die körperliche Unversehrtheit hat (RdNr. 76).

6. Die aus Art. 2 Abs. 2 GG folgende staatliche Schutzpflicht umfasst auch eine auf Gesundheitsgefährdungen bezogene Risikovorsorge.

Genau, so ist das!

Die verfassungsrechtliche Schutzpflicht kann gebieten, dass der Gesetzgeber rechtliche Regelungen ausgestaltet, die die Gefahr von Grundrechtsverletzungen eindämmen. Ob, wann und mit welchem Inhalt eine solche Ausgestaltung von Verfassungs wegen geboten ist, hängt dabei von der Art, der Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren, der Art und dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts sowie von den schon vorhandenen Regelungen ab (RdNr. 80). Demnach kann Fluglärm, auch wenn er noch nicht zu einer Verletzung der körperlichen Unversehrtheit im engeren Sinne führt, diese aber nicht unerheblich gefährdet, bereits gesetzgeberisches Tätigwerden gebieten (RdNr. 79). Alt: Die aus Art. 2 Abs. 2 GG herleitbare Schutzpflicht umfasst demnach auch die Pflicht zur Bekämpfung von gesundheitsgefährdenden Auswirkungen des Fluglärms. (RdNr. 81)

7. Der Gesetzgeber kann verfassungsrechtlich verpflichtet sein, eine ursprünglich als verfassungsmäßig angesehene Regelung im Wege der Nachbesserung neu zu gestalten.

Ja, in der Tat!

BVerfG: Wenn der Gesetzgeber eine Entscheidung getroffen hat, deren Grundlage durch neue, im Zeitpunkt des Gesetzeserlasses noch nicht abzusehende Entwicklungen entscheidend infrage gestellt wird, kann er von Verfassungs wegen gehalten sein zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung auch unter den veränderten Umständen aufrechtzuerhalten ist. Eine solche Nachbesserungspflicht kommt in grundrechtsrelevanten Bereichen vor allem dann in Betracht, wenn der Staat durch die Erteilung von Genehmigungen oder die Schaffung von Genehmigungsvoraussetzungen eine eigene Mitverantwortung für etwaige Grundrechtsbeeinträchtigungen übernommen hat (RdNr. 82). Im Bereich der Fluglärmbekämpfung spricht für eine solche Pflicht der Nachbesserung der ursprünglichen Lärmvorschriften, dass die Zahl der Flugbewegungen stark angestiegen ist und der Übergang auf lautstarke Düsenmaschinen die Lärmsituation erheblich verschärft hat. (RdNr. 83)

8. Das BVerfG darf bei einer Verfassungsbeschwerde, die sich auf die Verletzung einer aus Art. 2 Abs. 2 GG folgenden Schutzpflicht stützt, nur eingreifen, wenn der Gesetzgeber diese evident verletzt hat.

Ja!

Die Art und Weise, wie die aus Art. 2 Abs. 2 GG hergeleitete Schutzpflicht zu erfüllen ist, haben in erster Linie die staatlichen Organe in eigener Verantwortung zu entscheiden. Sie befinden darüber, welche Maßnahmen zweckdienlich und geboten sind, um einen wirksamen Schutz zu gewährleisten. Demnach ist die Begrenzung der verfassungsrechtlichen Nachprüfung auf Fälle evidenter Schutzpflichtverletzungen begrenzt. Die Begrenzung der verfassungsrechtlichen Nachprüfung beruht auf der Erwägung, dass es regelmäßig eine höchst komplexe Frage ist, wie eine positive staatliche Schutz- und Handlungspflicht durch aktive gesetzgeberische Maßnahmen zu verwirklichen ist. Diese Entscheidung gehört nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung und dem demokratischen Prinzip zuvörderst in die Verantwortung des vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgebers (RdNr. 86).

9. Im Falle einer gerügten Schutzpflichtverletzung durch unterlassene Nachbesserung gelten hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Nachprüfung besonders strenge Maßstäbe.

Genau, so ist das!

Einen Verfassungsverstoß durch unterlassene Nachbesserung kann das BVerfG erst feststellen, wenn evident ist, dass eine ursprünglich rechtmäßige Regelung wegen zwischenzeitlicher Änderung der Verhältnisse verfassungsrechtlich untragbar geworden ist, und wenn der Gesetzgeber gleichwohl weiterhin untätig geblieben ist oder offensichtlich fehlsame Nachbesserungsmaßnahmen getroffen hat (RdNr. 86). Nach dem BVerfG habe der Gesetzgeber Nachbesserungen getroffen und damit seine Pflicht, die Bürger vor gesundheitsgefährdendem Fluglärm zu schützen, nicht evident verletzt. Die Verfassungsbeschwerde sei offensichtlich unbegründet (RdNr.87ff.).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

CHU

chu

25.1.2024, 14:53:14

Liebes Jurafuchs-Team, in den Sachverhalt hat sich ein kleiner Fehler eingeschlichen. Es muss "in der Nähe" und nicht "in der Nahe" heißen :)

LELEE

Leo Lee

27.1.2024, 13:18:56

Hallo chu, vielen Dank für den Hinweis! In der Tat hatte sich hier der Fehlerteufel eingeschlichen. Wir haben den Fehler nun korrigiert und danken dir vielmals, dass du uns dabei hilfst, die App zu perfektionieren :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

Pilea

Pilea

3.4.2024, 10:22:54

Hier passt doch die erste Frage nicht mit der ersten Antwort zusammen, oder?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

3.4.2024, 16:36:44

Hallo Pilea, danke für deine Rückmeldung. Die Formulierung ist ein wenig ungewöhnlich, aber letztendlich wird nach der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gefragt. Diese scheitert an der Rechtswegerschöpfung. Handeln der Exekutive ist grundsätzlich erst im Wege fachgerichtlichen Rechtsschutzes zu rügen. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

Pilea

Pilea

3.4.2024, 16:41:07

Genau, ich muss allerdings die gestellte Frage "Ist diese (bzgl. BVerfG) zulässig?" nach dem System mit Ja beantworten. In der Subsumtion wird dann die Zulässigkeit aber verneint.

DerChristoph

DerChristoph

12.7.2024, 13:40:52

*Push* Die erste Antowrt ist immer noch falsch herum hinterlegt.

Mi. S.

Mi. S.

1.8.2024, 14:18:01

Immer noch falsch ;)

CO

Con

19.8.2024, 14:45:57

Immer noch falsch, oder?

Pilea

Pilea

5.9.2024, 11:35:18

@[Leo Lee](213375) @[Lukas_Mengestu](136780) @[Wendelin Neubert](409) @[

Nora Mommsen

](178057) hier ist eine Antwort nach dem System falsch herum gelegt, man muss auf die falsche Antwort klicken, um weiter zu kommen.


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