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Eilantrag gegen Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens (OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 19.01.2022 - 5 MR 11/21)

Eilantrag gegen Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens (OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 19.01.2022 - 5 MR 11/21)

13. Februar 2025

16 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

W ist Windenergieunternehmerin und beantragt bei der zuständigen Behörde L die Baugenehmigung für eine Windkraftanlage in der A-Gemeinde. A verweigert ihr gemeindliches Einvernehmen. L ersetzt As Einvernehmen, ordnet die sofortige Vollziehung an und erteilt W die Genehmigung.

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Einordnung des Falls

Eilantrag gegen Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens (OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 19.01.2022 - 5 MR 11/21)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A legt Widerspruch (§§ 68ff VwGO) gegen die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens und Drittwiderspruch gegen Ws Baugenehmigung ein. Haben die Widersprüche hier aufschiebende Wirkung?

Nein!

Die Einlegung von Widerspruch (§§ 68ff VwGO) oder Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) hat gemäß § 80 Abs. 1 VwGO grundsätzlich aufschiebende Wirkung: Die Durchsetzung des Verwaltungsakts ist bis zur rechtskräftigen Entscheidung gehemmt (Vollzugshemmung). Ausnahmsweise haben Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 2 VwGO). (1) A widersprach Ls Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens. Die Ersetzung ist ein Verwaltungsakt (§ 35 S. 1 VwVfG), gegen den der Widerspruch statthaft ist. Dessen aufschiebende Wirkung entfällt, da L die sofortige Vollziehung angeordnet hat (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO). (2) A legte Widerspruch gegen Ws Baugenehmigung ein (vergleiche § 80a Abs. 1 VwGO). Dessen aufschiebende Wirkung entfällt gemäß §§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a BauGB, da Rechtsbehelfe von Dritten eine Bauzulassung nicht suspendieren sollen. As Widersprüche haben keine aufschiebende Wirkung.
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2. A beantragt beim VG einstweiligen Rechtsschutz gegen die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens und die Wiederherstellung aufschiebender Wirkung. Ist § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO die statthafte Antragsart?

Genau, so ist das!

Zu unterscheiden ist zwischen drei Arten einstweiligen Rechtsschutzes: § 80 Abs. 5 VwGO, § 80a VwGO und § 123 VwGO. §§ 80 Abs. 5, 80a VwGO sind gem. § 123 Abs. 5 VwGO vorrangig. § 80a VwGO ist anwendbar im Fall von Drittanfechtung oder Drittwiderspruch, also bei drittbelastenden Verwaltungsakten. § 80 Abs. 5 VwGO gewährt einstweiligen Rechtsschutz gegen adressatenbelastende Verwaltungsakte. Zu unterscheiden sind die Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1-3a VwGO) und die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO). Der nachrangige § 123 Abs. 1 VwGO erfasst Sicherungs- und Regelungsanordnungen für Fälle der Verpflichtungs-, Feststellungs- und Leistungsklagen. Das Ersetzen gemeindlichen Einvernehmens richtet sich an A als Adressat. Folglich ist § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO in Form der Wiederherstellung aufschiebender Wirkung (Alt. 2) statthaft.

3. A ist antragsbefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO analog), da sie geltend machen kann, durch die Ersetzung ihres Einvernehmens in ihrer Garantie kommunaler Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG) verletzt zu sein.

Ja, in der Tat!

A ist antragsbefugt, wenn sie geltend machen kann, dass sie durch den Verwaltungsakt möglicherweise in eigenen Rechten verletzt ist. Da der Eilrechtsschutz dieselben Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllen muss wie die Klage in der Hauptsache, ist § 42 Abs. 2 VwGO (eigentlich Zulässigkeitsvoraussetzung für die Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen) analog auf den einstweiligen Rechtsschutz anwendbar. OVG RdNr. 23: A kann geltend machen, in ihrem Recht aus § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB verletzt zu sein, über die baurechtliche Zulässigkeit von Vorhaben zu entscheiden. Im Fall dass die Gemeinde nicht gleichzeitig die Bauaufsichtsbehörde ist, sollen Vorhaben nur im gemeindlichen Einvernehmen genehmigt werden, da die Gemeinde für die kommunalen Verhältnisse sachnäher und fachkundiger entscheiden kann. Dies dient der Sicherung der Planungshoheit der Gemeinde als besondere Ausprägung der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG). A ist antragsbefugt.

4. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegen die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens ist ausnahmsweise unzulässig, da gegenüber W bereits eine Baugenehmigung ergangen ist.

Nein!

Da A sich gegen die Baugenehmigung im Ganzen und gegen einen Teilakt im Baugenehmigungsverfahren wendet, könnte für die Zulässigkeit auf § 44a VwGO abzustellen sein: reine Verfahrenshandlungen werden aus Gründen der Prozessökonomie nur innerhalb der eigentlichen Sachentscheidung überprüft. Entscheidend ist, ob es sich bei der Überprüfung der Einvernehmensersetzung um eine (verwaltungsinterne) Verfahrenshandlung oder um eine unabhängige Maßnahme handelt (RdNr. 25). Einerseits verfolgt A in erster Linie das Ziel, Ws Vorhaben durch die Anfechtung der Baugenehmigung zu verhindern, weshalb das Verfahren gegen die Einvernehmensersetzung nach § 44a VwGO unzulässig sein könnte (RdNr. 26). Andererseits muss A auch unabhängigen primären Rechtsschutz gegen die Ersetzung erlangen können (RdNr. 27): Gegenüber der Gemeinde hat die Ersetzung des Einvernehmens Verwaltungscharakter, da in ihre Planungshoheit eingegriffen wird (RdNr. 30). § 44a VwGO ist mangels reiner Verfahrenshandlung nicht anwendbar. Die Gemeinde hat die Wahl, ob sie gegen die Baugenehmigung, gegen die Ersetzung oder gegen beide vorgeht (RdNr. 29).

5. A fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, da W die Baugenehmigung bereits erhalten hat und A deshalb durch die gerichtliche Entscheidung keine günstigere Rechtsposition erlangen kann.

Nein, das ist nicht der Fall!

Das Rechtsschutzbedürfnis ist das berechtigte Interesse des Klägers, für die Erreichung des begehrten Rechtsschutzes ein Gericht in Anspruch zu nehmen, da der Kläger durch die gerichtliche Entscheidung eine Verbesserung seiner Rechtsposition erreichen kann. As Rechtsschutzbedürfnis könnte fehlen, da W bereits eine Baugenehmigung erhalten hat und die Windanlage ohnehin errichten wird. Die Aufhebung der Ersetzung gemeindlichen Einvernehmens würde As Rechtsposition nicht verbessern. Allerdings wurde die Baugenehmigung wegen As Drittwiderspruch nie bestandskräftig (RdNr. 32). Das Urteil kann As Position verbessern. Das OVG thematisierte auch, ob das gemeindliche Einvernehmen ohnehin nach § 36 Abs. 2 S. 2 HS 1 BauGB als erteilt gelte. Dann müsste A die zweimonatige Verweigerungsfrist überschritten haben. Das OVG berechnete die Frist, ging aber insgesamt von einer fristgemäßen Verweigerung aus. Folglich greift keine Fiktion, A ist rechtsschutzbedürftig.

6. Der Eilantrag ist also zulässig. Muss das Gericht für die Begründetheit nur eine summarische Prüfung vornehmen?

Ja, in der Tat!

Der Antrag ist begründet, soweit im Rahmen einer Interessenabwägung das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der sofortigen Vollziehung (Aussetzungsinteresse) gegenüber dem Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung (Vollzugsinteresse) überwiegt (RdNr. 35). Das ist der Fall, wenn (1) die Anordnung der sofortigen Vollziehung formell rechtswidrig war, oder (2) wenn der Rechtsbehelf in der Hauptsache Erfolg verspricht. Der Rechtsbehelf hat Aussicht auf Erfolg, soweit der zu prüfende Verwaltungsakt nach einer summarischen Prüfung offensichtlich rechtswidrig ist und den Antragsteller dadurch in seinen Rechten verletzt (RdNr. 35). Die Anordnung der sofortigen Vollziehung erging im Original formell rechtmäßig. Dies kann in Deiner Klausur aber natürlich Probleme, zum Beispiel in der Zuständigkeit oder der Begründung, aufwerfen.

7. Ls Verwaltungsakt war offensichtlich rechtswidrig, wenn L das gemeindliche Einvernehmen nicht nach § 36 Abs. 2 S. 3 BauGB ersetzen durfte, was sich nach § 35 BauGB richtet.

Ja!

Die zuständige Bauaufsichtsbehörde darf gemeindliches Einvernehmen nur dann ersetzen, wenn die Gemeinde es rechtswidrig versagt hatte. Das Einvernehmen darf gemäß § 36 Abs. 2 S. 1 BauGB nur aus Gründen der §§ 31, 33, 34, 35 BauGB versagt werden. L handelte offensichtlich rechtswidrig und As Eilantrag ist begründet, wenn As Versagung des Einvernehmens rechtmäßig war. Da es sich bei der von W geplanten Windkraftanlage um Vorhaben im Außenbereich handelt (außerhalb eines Bebauungsplans und einem im Zusammenhang bebauten Ortsteil), richtet sich die Rechtmäßigkeit der Versagung nach § 35< BauGB. Entscheidend ist, ob Ws Vorhaben nach den Vorschriften des § 35 BauGB zulässig ist.

8. Ws Vorhaben, die Errichtung einer Windenergieanlage, ist nach einer summarischen Prüfung des § 35 BauGB zulässig und As Versagung des Einvernehmens rechtswidrig, sodass Ls Ersetzung rechtmäßig war.

Genau, so ist das!

Bei der Prüfung des § 35 BauGB ist zu unterscheiden: Privilegierte Vorhaben (§ 35 Abs. 1 BauGB) werden wegen besonderer Umgebungsanforderungen bevorzugt dem Außenbereich zugewiesen und sind in der Regel zulässig. Sonstige Vorhaben (§ 35 Abs. 2 BauGB) sind im Außenbereich nur zulässig, wenn keine öffentlichen Belange beeinträchtigt werden. Teilprivilegierte Vorhaben (§ 35 Abs. 4 BauGB) sind sonstige Vorhaben im Sinne des Abs. 2, denen bestimmte Belange nicht entgegengehalten werden können. Ws Windkraftanlage ist nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB ein privilegiertes Vorhaben (RdNr. 39). Öffentliche entgegenstehende Belange (§ 35 Abs. 3 BauGB) drängen sich nicht auf (RdNr. 40). A durfte ihr Einvernehmen nicht verweigern. L hat ihr Ermessen aus § 36 Abs. 2 S. 3 BauGB erkannt und fehlerfrei ausgeübt. Die Maßnahme war nicht offensichtlich rechtswidrig. Es überwiegt das Vollzugsinteresse. As Eilantrag ist unbegründet. Ws Vorhabenstandort war sogar als Vorranggebiet für Windenergienutzung ausgewiesen, sodass auch die Ziele der Raumordnung (§ 35 Abs. 3 S. 2, 3 BauGB) dem Vorhaben nicht entgegenstanden.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

MAN

many

4.5.2024, 11:51:37

Für mich ergibt es sich nicht aus der Aufgabe, dass man sich im Außenbereich befindet. Vielleicht könnte man in der Hinsicht den Sachverhalt ergänzen. Es wird in einer der Fragen quasi angenommen, dass das Einvernehmen nur nach §§36 II iVm. 35 BauGB ersetzt werden kann. Möglich ist die Ersetzung doch aber theoretisch auch nach §§31ff BauGB. Den Außenbereich einfach anzunehmen, ohne weitere Angaben, finde ich etwas ungenau oder übersehe ich etwas?:)

GEM

GemäßigtSozialdemokratischerKoalabär

30.6.2024, 11:25:30

Ich vermute, dass sich der Außenbereich aus der Zeichnung ergeben soll - nur „grüne Wiese“ und ein B-Plan wird nicht erwähnt.

STE

Steven

2.9.2024, 10:16:12

Man könnte argumentieren, dass § 35 BauGB ohnehin immer dann Anwendung findet, wenn wir keinen Bebauungsplan (§ 30 Abs. 1 und 3 BauGB) oder Innenbereich (§ 34 BauGB -

im Zusammenhang bebauter Ortsteil

) haben. Da wir keine Angaben zu einem B-Plan oder einem im Zusammenhang bebauten Ortsteil haben, richtet sich die bauplanungsrechtliche

Zulässigkeit

demnach nach § 35 BauGB :)

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

11.6.2024, 18:13:54

In der Lösung steht "Dessen aufschiebende Wirkung entfällt gemäß §§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a BauGB, da Rechtsbehelfe von Dritten eine Bauzulassung nicht suspendieren sollen. As Widersprüche haben keine aufschiebende Wirkung." Das ist vorliegend aber gerade nicht aufgrund der gesetzlichen Regelung der Fall (dann wäre § 80 V 1 Alt. 1 VwGO - Anordnung - die richtige

Antragsart

): Auch wenn die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens keine Entscheidung darstellt, die unmittelbar unter den Anwendungsbereich der Vorschrift des § 212 a BauGB fällt (Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 7. Mai 2024 – 2 B 11/24 –, Rn. 6, juris) Vielmehr - und deshalb steht es auch im Sachverhalt, andernfalls wäre das ja unnötig, ergibt sich hier der Wegfall einer aufschiebenden Wirkung aus der Anordnung des

Sofortvollzug

es seitens der L.

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

11.6.2024, 18:20:03

Ich habe gerade bei einem erneuten Lesen meinen Fehler gefunden. Es wird richtigerweise differenziert hinsichtlich des Widerspruchs gegen die Baugenehmigung und dem gegen die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens. Meinen Post also bitte ignorieren :)

YODA

Yoda

24.11.2024, 23:18:31

Warum wurde die Baugenehmigung wegen A‘s

Drittwiderspruch

bzw.

Anfechtungsklage

nie bestandskräftig? Ich dachte § 212a BauGB verhindert die aufschiebende Wirkung?

Ius Nix Verstaeum

Ius Nix Verstaeum

16.12.2024, 19:54:57

Bestandskraft und Vollziehbarkeit eines VA sind zwei unterschiedliche, parallel laufende Dinge. Bestandskraft tritt mit Un

anfechtbarkeit

, also Ablauf der Widerspruchs- bzw.

Klagefrist

, ein. Vollziehbarkeit bestimmt sich danach, ob gesetzlich oder behördlich die sofortige Vollziehbarkeit angeordnet ist.


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