Gewahrsam Überblick, formelle, materielle RMK

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Bürgermeisterin B erhält Mails mit Morddrohungen. Die Polizei schickt verstärkt Streifen zum Wohnhaus der B. Die Streifenpolizisten S und P entdecken auf ihrer nächtlichen Runde den Wutbürger W, der offen eine Waffe mit sich führt. S und P nehmen W mit zur nächsten Polizeidienststelle und sperren ihn in eine Zelle.

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Einordnung des Falls

Gewahrsam Überblick, formelle, materielle RMK

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Polizeigesetze der Länder enthalten Standardermächtigung zur Ingewahrsamnahme. Wurde W in Gewahrsam genommen?

Ja!

Der Gewahrsam (§ 14 Abs. 1 POG RP, § 13 Abs. 1 SPolG, § 22 Abs. 1 SächsPolG) ist ein mit hoheitlicher Gewalt hergestelltes Rechtsverhältnis, kraft dessen die Polizei eine Person derart verwahrt, dass die Person daran gehindert ist, sich von einem bestimmten Ort zu entfernen. Das Festhalten muss eine gewisse zeitliche Erheblichkeit haben und darf nicht nur kurzfristiger Natur sein. Der Akt der Festnahme nennt sich Ingewahrsamnahme, das Aufrechterhalten der Festnahme nennt sich Gewahrsam. W befindet sich kraft hoheitlicher Gewalt in dem eng umgrenzten Raum der Zelle, wodurch er am Verlassen des Ortes gehindert ist. Das Festhalten reicht bis zum nächsten Morgen und ist nicht bloß kurzfristig. W ist in Gewahrsam genommen.
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2. Der Gewahrsam stellt eine Freiheitsentziehung i.S.d. Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG dar.

Genau, so ist das!

Dauer und Intensität der Einschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit sind beim Gewahrsam derart hoch, dass es sich um eine Freiheitsentziehung und keine bloße Freiheitsbeschränkung handelt. Durch das längerfristige Festhalten in einem eng umgrenzten Raum ist die Bewegungsfreiheit praktisch aufgehoben. Als Konsequenz folgt aus Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG der Richtervorbehalt. Der Richtervorbehalt wird einfachgesetzlich in vielen Polizeigesetzen der Länder bestätigt (§ 38 SOG LSA, § 20 PAG TH, § 19 NPOG).

3. Die Polizei muss unverzüglich eine richterliche Entscheidung einholen. Die Entscheidung ist unverzüglich, wenn kein schuldhaftes Zögern der Polizei vorliegt.

Nein, das trifft nicht zu!

Der Richtervorbehalt ist eine spezielle formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung. Die Polizei hat unverzüglich eine richterliche Entscheidung einzuholen (§ 19 Abs. 1 S. 1 NPOG, § 13a Abs. 1 S. 1 SOG HH, § 33 Abs. 1 S. 1 HSOG). Die Entscheidung wurde "unverzüglich" eingeholt, solange eine Verzögerung auf einem sachlichen Grund beruht. Sachliche Gründe können "die Länge des Weges, Schwierigkeiten beim Transport [...], renitentes Verhalten des Festgenommenen" (BVerfGE 103, 142 (156); 105, 239 (249)) sein. Es kommt nicht auf das Verschulden des einzelnen Polizeibeamten an. Der Richtervorbehalt gilt nicht ausnahmslos. Die Polizeigesetze der Länder bestimmen, dass auf die richterliche Entscheidung verzichtet werden kann, wenn die Entscheidung voraussichtlich erst nach Wegfall des Gewahrsamsgrundes eingeholt werden könnte (§ 38 Abs. 1 S. 2 SOG LSA, § 22 Abs. 7 S. 2 SächsPolG, § 14 Abs. 1 S. 2 SPolG)

4. Der Gewahrsam nach den Polizeigesetzen der Länder verfolgt das Ziel der Strafverfolgung.

Nein!

Der Gewahrsam nach den Normen der Polizeigesetze der Länder (§ 30 ASOG, § 17 BbgPolG, § 13 BremPolG) verfolgt nicht das Ziel der Strafverfolgung. Vielmehr wird die betroffene Person zur Gefahrenabwehr in Gewahrsam genommen. Die Standardmaßnahme des Gewahrsams ist präventiver Natur, nicht repressiver. Die Polizei kann eine Person auch zum repressiven Zweck der Strafverfolgung festnehmen. Rechtsgrundlage sind dann die Normen der StPO wie § 127 Abs. 2 StPO. In der Klausur musst Du gegebenenfalls die Zielrichtung der Maßnahme schon auf Ebene der Zulässigkeit thematisieren. Verfolgt die Festnahme repressive Zwecke, ist der Rechtswegs zu den ordentlichen Gerichten durch die abdrängende Sonderzuweisung von Art. 23 Abs. 1 EGGVG eröffnet.

5. Der Gewahrsam kann zum Schutz der festgenommen Person selbst erfolgen. Liegt der Gewahrsamsgrund im Falle von W vor?

Nein, das ist nicht der Fall!

Der sog. Schutzgewahrsam dient dem Schutz der festgenommenen Person selbst. Es muss eine Gefahr für Leib und Leben für die festgenommene Person bestehen (§ 30 Abs. 1 Nr. 1 ASOG, § 17 Abs. 1 Nr. 1 BbgPolG, § 13 Abs. 1 Nr. 1 BremPolG), wobei kleinere Verletzungen für eine Leibesgefahr nicht ausreichen. Der Schutzgewahrsam kann auch angeordnet werden, wenn sich die Person in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage befindet (§19 Abs. 1 Nr. 1 PAG TH, § 204 Abs. 1 Nr. 1 LVwG,§ 22 Abs. 1 Nr. 2a SächsPolG). Dies betrifft vor allem Volltrunkene oder Kleinkinder. Teilweise wird in manchen Polizeigesetzen der Gewahrsam zur Verhinderung von Suiziden ausdrücklich bestimmt (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 BremPolG, § 13 Abs. 1 Nr. 1 SPolG, § 22 Abs. 1 Nr. 2b SächsPolG). Hier besteht keine Gefahr für W, sondern eine Gefahr für Dritte geht von W aus. Der Schutzgewahrsam ist nicht einschlägig. Trotz grundrechtlicher Bedenken kann die Polizei die gefährdete Person auch gegen ihren Willen in Gewahrsam nehmen. Es sind dann aber besonders hohe Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu stellen. Der Gewahrsam stellt die ultima ratio dar.

6. Eine Person kann zur Verhinderung einer Straftatbegehung festgenommen werden. Liegt der Gewahrsamsgrund im Falle von W vor?

Ja, in der Tat!

Die Polizei kann eine Person zur Verhinderung einer Straftat – und je nach Polizeigesetz auch Verhinderung einer Ordnungswidrigkeit – in Gewahrsam nehmen. Diesen Gewahrsam nennt man Vorbeuge- oder Sicherheitsgewahrsam. Die Polizei trifft W mit einer Waffe in der Hand auf dem Weg zu B an. Daraus lässt sich der Rückschluss ziehen, dass W die körperlichen Unversehrtheit der B beeinträchtigen oder sie gar töten will. Es liegt der Gewarsahmsgrund der Straftatverhinderung vor. Sieht das Landespolizeigesetz einen Gewahrsam auch zur Verhinderung einer Ordnungswidrigkeit vor, so muss die Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit sein. Ein Indiz für die erhebliche Bedeutung ist die Geldbußbewertheit der Ordnungswidrigkeit.
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